Prolog

258 A. C. (nach der Umwälzung)

Es war nicht der Schrei eines Elfenkinds.

Eld Ailea, die selbst in den Augen des langlebigen Elfenvolks betagt war, betrachtete das Neugeborene voller Mitleid, als sie es in Windeln aus silbrigem Leinen wickelte. Die Rosenquarzwände des Hauses in Qualinost spiegelten den Feuerschein und tauchten das zornige, schreiende Baby in pfirsichfarbenes Licht. Die kleine Brust des Jungen zitterte jedes Mal, wenn er tief Luft holte. Durch das Fenster, das auf die Straße hinausging, wehte eine Brise herein und frischte die Luft auf, die nach Schweiß, Blut und Leid roch.

»Soviel Leidenschaft«, flüsterte die Hebamme. »Schon mit den ersten Atemzügen beweist du, wessen Kind du bist.« Das Baby drückte die Arme an die Brust, als wolle es sie Lügen strafen, hörte auf zu schreien, gähnte und schlief ein. Sein gerötetes Gesicht entspannte sich.

Die Hebamme nahm das winzige Bündel auf den Arm und ging zu einem Schaukelstuhl am Feuer. Der Stuhl, der fast so alt war wie Eld Ailea selbst, hob sich von den Natursteinwänden so ab wie ein ausgetretenes Paar Schuhe von einem neuen Kleid.

»Nicht so spitz wie bei reinen Elfen, aber auch eindeutig kein rundes Menschenohr«, erklärte Eld Ailea dem Kind, das ein Auge aufschlug, ins Feuer blinzelte, und das Auge wieder schloß. Ihre Worte klangen wie Musik, wie das Lied einer hölzernen Flöte, die abertausendmal poliert worden ist. Sie beugte sich über das Kind und atmete den Geruch des frisch gebadeten Babys ein. Diesen Augenblick wurde sie nie leid.

Das Menschenblut in seinen Adern wärmt das träge Elfenherz mit seinem Feuer, dachte sie. »Oh, ja, Kleiner«, flüsterte sie eindringlich, und ihre Augen glänzten dabei wie brauner Achat, »du wirst diese Leidenschaft brauchen. Für einen Halb-Elfen ist das Leben in Qualinost heutzutage nicht einfach.«

Abgesehen davon, daß der Junge gesund und kräftig war, hatte die alte Hebamme im Augenblick wenig Grund zur Freude. Während sie langsam schaukelte, warf sie einen Blick auf die Bettstatt, die sie außer Reichweite des Feuerscheins im Alkoven hergerichtet hatte. Sie hatte die Lampe gelöscht, die während der endlos erscheinenden Stunden am Fuße des Lagers gebrannt hatte; auf dem Bett lag eine Gestalt im Dämmerlicht. Nach stundenlangem, erschöpfendem Kampf war ihr Gesicht jetzt friedlich.

Für eine Elfin war Eld Ailea winzig. Sie hatte runde, haselnußbraune Augen, die in Qualinesti selten waren, Augen, die verrieten, daß unter ihren Vorfahren Menschen gewesen waren. Dennoch besaß sie ebenfalls die spitzen Ohren, die schlanke Gestalt und die langen Finger ihrer Mutter, einer Elfin.

Sie hatte so lange unter den Elfen von Qualinesti gelebt, daß diese sich nicht mehr an die Zeit erinnern konnten, als Eld Ailea noch nicht dagewesen war und ihren wenigen, kostbaren Kindern auf die Welt geholfen hatte. Sie war ein vertrauter Anblick, wenn sie mit ihrem Hebammenbeutel an der Seite durch die baumartigen, rosenfarbenen Häuser der Stadt Qualinost lief. Die meisten Bewohner der Stadt – ganz gewiß jede Elfenfrau, die eine schwierige Schwangerschaft hinter sich hatte – übersahen das elfisch-menschliche Mischblut der alten Hebamme. Ihr Wissen über Kräuter hatte vielen Müttern in den Wehen geholfen, und obwohl sie keine Magierin war, wußte sie genug über Magie, um fast jeden Schmerz zu lindern.

Dennoch hatte sie Elansa nicht retten können.

Unbewußt zog Eld Ailea das Waisenkind fester an sich, so fest, daß es aufwachte und quäkte. Da setzte sie rasch den Schaukelstuhl wieder in Bewegung und streichelte die kleine Stirn, die Wangen und den Nasenrücken, bis seine Augenlider zufielen und es wieder einschlief.

Plötzlich nahm sie ein leises Geklingel wahr – die Glöckchen an einem oder vielleicht auch mehreren Pferdegeschirren. Bald hörte sie die Stimme ihrer Dienerin unten im Eingangsraum, kurz darauf Schritte auf der steinernen Wendeltreppe zum ersten Stock ihres turmartigen Hauses. Sie legte sich das Neugeborene an die Schulter, dann öffnete sie die Holztür, die mit Schnitzereien von Espenblättern verziert war.

Auf der Schwelle stand die Stimme der Sonne, der Herrscher von Qualinesti. Sein Gesicht war voller Sorge. Die eine Seite seiner golddurchwirkten Robe glitzerte vom Feuerschein, die andere Seite war in das Licht des silbernen Mondes, Solinari, getaucht, das durch ein Fenster neben der Tür hereinfiel. Wo die Strahlen den Boden berührten, mischte sich Rot hinein wie Blutstropfen. Auch Lunitari, der rote Mond von Krynn, ging gerade auf.

Eld Aileas Blick wanderte zu der Gestalt auf dem Bett. Die Augen der Stimme folgten ihm. »Schläft sie?« fragte er leise. Wieder wehte ein Lufthauch durch das offene Fenster herein, und von der Straße unten drang Lachen herauf. Eld Ailea schüttelte den Kopf und wandte ihr runzliges Gesicht dann dem schlafenden Baby zu, wobei sie aus dem Augenwinkel beobachtete, wie die Stimme langsam zu dem Frauenkörper ging. Seine Hand zitterte, als er sie nach Elansa ausstreckte, der Witwe seines toten Bruders, doch dann hielt sein Arm inne, und die Hand fiel schlaff an der Seite herunter.

Er schluckte. »Du, Ailea, mit all deiner Kunst… Wenn du sie nicht retten konntest, konnte es niemand.«

Die Hebamme schüttelte mitleidig den Kopf. »Sie war zu schwach, Solostaran. Sie blieb, bis das Kind geboren war, und sie hat es noch einmal gestillt, aber dann gab sie auf.«

Die Stimme der Sonne starrte sie an. Er schien nicht bemerkt zu haben, daß sie seinen richtigen Namen benutzt hatte und nicht den Titel, den er übernommen hatte, als er vor über hundert Jahren das Podium im Sonnenturm bestiegen und die Herrschaft über die Elfen von Qualinesti übernommen hatte. Ein Hauch von Schmerz zuckte über sein Raubvogelgesicht. »Sie hat aufgegeben…«, wiederholte er leise. Für Elfen war das Leben heilig, und wenn man es freiwillig beendete, war das Blasphemie.

»Das Kind…?« fragte er.

Die Lippen der Hebamme verzogen sich zu einem seltsamen Lächeln, das weder freudig noch traurig war. Die Erinnerung an jene Nacht vor so langer Zeit, in der Solostaran selbst zur Welt gekommen war, schoß ihr durch den Kopf. Wie anders war damals die Umgebung gewesen, wie reich ausgestattet die Gemächer, blendend hell vom Fackellicht erleuchtet. Wie ehrfürchtig das Gefolge, das in den Schatten vor den Gemächern gekauert hatte. Was waren die Zimmer einer mischblütigen Hebamme im Vergleich dazu, auch wenn sie die beste Hebamme von Qualinesti war. Elansa hätte ihr Kind am Hof gebären können, aber sie war lieber zu Eld Ailea nach Hause gekommen.

Eld Ailea hielt das Baby hoch, damit die Stimme es sehen konnte. Solostaran kniete sich hin, warf einen kurzen Blick auf den Jungen und ließ den Kopf hängen. »Aha«, sagte er kalt. »Es ist also, wie wir es befürchtet haben.«

Nein, hätte Eld Ailea fast gesagt. Es ist, was du befürchtet hast. Aber sie hielt ihre Zunge im Zaum. Kethrenan, der jüngere Bruder der Stimme, war auf dem Weg zur Festung Pax Tarkas, im Süden von Qualinesti, bei einem Überfall von menschlichen Banditen getötet worden. Obwohl die Rassen der Elfen und der Menschen sich einst – vor Tausenden von Jahren – nahegestanden hatten, waren solche Räuberbanden von Menschen seit den Zerstörungen der Umwälzung nur allzu üblich geworden. Die Bande hatte Kethrenans Frau, Elansa, vergewaltigt und sie dann im Straßenschlamm liegenlassen, wohl, weil man sie für tot hielt. In den letzten Monaten war sie praktisch eine lebende Tote gewesen. Ihre Augen waren leer gewesen, und sie hatte gerade eben genug gegessen, um das Leben zu nähren, das in ihr heranwuchs, hatte hauptsächlich Quith-Pa, das nahrhafte Elfenbrot, und unverdünnten Wein zu sich genommen. Das Kind hätte von Kethrenan oder von dem menschlichen Vergewaltiger sein können, und Elansa hatte abgewartet, ob die Antwort auf diese Frage wirklich so ausfiel, wie sie es befürchtet hatte.

»Das Kind ist ein Halbmensch«, sagte Solostaran, der immer noch kniete. Seine Hand lag auf der Armlehne des Schaukelstuhls.

»Es ist auch ein Halbelf.«

Solostaran schwieg eine Weile, doch dann sah Eld Ailea die stolze Maske bröckeln, und die Stimme schüttelte den Kopf. Das Baby schlief noch. Vorsichtig berührte die Stimme eine der beiden, winzigen Hände. Reflexhaft öffnete sich die Hand und klammerte sich dann am Finger der Stimme fest. Eld Ailea hörte, wie Solostaran tief Luft holte, und sah Milde in seinen Augen aufkeimen. »Was für ein Leben mag einen erwarten, der von zwei Dingen die Hälfte ist und nichts Ganzes?« fragte die Stimme. Aber Eld Ailea hatte keine Antwort für ihn, und lange sagte keiner von beiden ein weiteres Wort. Der Blick der Hebamme blieb ungerührt.

Für einen Augenblick zeigte sich ein gepeinigter Ausdruck in den Augen der Stimme. Dann kehrte der Stolz in sein Gesicht zurück. »Er ist der Sohn der Frau meines Bruders, und er wird bei mir leben. Er soll wie ein echter Elf von Qualinesti aufwachsen.« Eld Ailea seufzte, berührte die Wangen des Neugeborenen und küßte seine Stirn, bevor sie das Bündel wortlos der Stimme überreichte. »Hat der Kleine schon einen Namen?« fragte Solostaran, der anscheinend jeden Blick auf die starre Gestalt im Bett mied. »Hat Elansa ihm einen gegeben?«

»Ja«, flüsterte die Hebamme nach einer Pause. Sie zögerte bei der Lüge. »Sie nannte ihn ›Tanthalas‹.« Eld Ailea strich ihren wollenen Rock glatt, weil sie es nicht wagte, der Stimme in die Augen zu sehen, damit er nicht die Wahrheit erriet. Doch ihr Geschenk an das Kind würde etwas Dauerhaftes sein – ein Name. »Immer stark«, bedeutete der Name in dem Menschendialekt, den Eld Ailea als Kind gelernt hatte.

Solostaran nickte nur. Als er zur Tür ging, trug er das Baby so geschickt wie ein erfahrener Vater. Porthios, sein Erstgeborener, war erst fünfzig Jahre alt, immer noch ein Jugendlicher. Eld Ailea hievte ihren plötzlich erschöpften Körper aus dem Stuhl und folgte ihm. Sie blieben in der Nachtluft am Fenster stehen; die Frische des Frühlings drang herein, erfaßte sein goldenes Haar und wehte es aus der Stirn. Dort ruhte ein goldener Reif, der im Licht der Monde silbern und karmesinrot glänzte.

»Ich fürchte, ich tue ihm keinen Gefallen, wenn ich ihn an den Hof bringe«, sagte die Stimme. »Ich bezweifle, daß er dort Frieden finden kann. Aber wir sind verwandt, darum muß ich es tun.«

Solostaran zog das Leintuch um das Gesicht des Kindes, damit es vor der Feuchtigkeit geschützt war, und die Hebamme und die Stimme blieben noch vor dem Fenster stehen. In diesem Moment blitzte ein silberner Streifen am Himmel auf. Eine Sternschnuppe, Himmelslicht, das auf Krynn fiel, zog ihren feurigen Schweif nordwärts hinter sich her. Die Stimme schien das Omen nicht zu bemerken, doch Eld Ailea schloß hoffnungsvoll ihre Finger um das Amulett, das die sterbende Elansa ihr aufgenötigt hatte. Für das Volk der Hebamme verhieß eine Sternschnuppe gute Kameraden. Und ein Halb-Elf würde gute Freunde brauchen.

»Ich werde andere schicken, die sich um Elansa kümmern sollen«, sagte Solostaran, wobei seine Stimme etwas bebte. Dann ging er und nahm das Baby mit. Eld Ailea blieb am Fenster stehen, bis das Klingeln der Glöckchen und der dumpfe Hufschlag auf den gepflasterten Straßen verklungen waren.

Weit im Norden schlief ein kleiner Ort in der Dunkelheit. Es war eine Stadt aus Holzhäusern, von denen die meisten oben in die sicheren Zweige uralter, turmhoher Bäume gebaut waren. Luftige Hängebrücken verbanden die Häuser miteinander. In einem der wenigen Häuser auf dem Boden – dem einzigen, wo noch ein schwaches Licht durch die offenen Fensterläden hinausschien – saß eine einzelne Gestalt. Sie war klein, von der Größe eines Menschenkindes, hatte aber kräftige Glieder und breite Schultern, und vom Kinn kräuselte sich ein dichter Bart auf die Brust. Der Zwerg saß am Tisch und hielt ein Stück Holz in der Hand, das er immer wieder drehte. Mit einem kleinen Messer schnitzte er hier und da daran herum. Trotz seiner gedrungenen Finger arbeitete er dabei sehr präzise. Schon bald entstand ein glattes, zartes Gebilde aus dem weichen Holz: das Abbild eines Espenblatts. Er hatte erst einmal eine Espe gesehen, weit im Süden in der Nähe seiner Heimat, die er vor gar nicht so langer Zeit verlassen hatte, um in der weiten Welt sein Glück zu machen. Blaß und schmal hatte der Baum am höchsten Punkt eines hohen Passes gestanden, welcher zum Land der Elfen führte – das jedenfalls hatte sein Vater ihm erzählt. Vielleicht hatten die Qualinesti-Elfen ihn dort in Erinnerung an ihre Waldheimat gepflanzt, falls sie einmal zufällig diesen Weg nehmen sollten. Der Baum mit seinen Blättern, die auf der einen Seite grün und glänzend wie Smaragde waren und auf der anderen wie silberner Reif, gehörte für ihn zum Schönsten, was er je gesehen hatte. Vielleicht würde er eines Tages noch einmal das Glück haben, eine Espe zu sehen. Vorerst aber würde das Holzblatt reichen müssen.

Schließlich wurde der Zwerg müde. Er stand auf und blies die Kerze auf dem Tisch aus. Als er auf dem Weg zum Bett am Fenster vorbeikam, bemerkte er ein Aufblitzen im Süden. Einen langen Moment sah man das Licht über den dunklen Himmel sausen. Dann war es fort.

»Reorx! Noch nie hab ich so eine Sternschnuppe gesehen!« murmelte er und erschauerte, obwohl die Frühlingsnacht ganz und gar nicht kalt war. Doch dann fragte er sich, warum er dort aus dem Fenster starrte wie ein Welpe, der so etwas zum ersten Mal sieht, schüttelte den Kopf, schloß die Läden und legte sich hin, um von Espen zu träumen.

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