14 Das Nachspiel

»Ich gehe davon aus, daß Ihr mit diesem kleinen… Problem fertigwerdet, Stimme«, sagte Tyresian. Gelassen füllte er sich Wein nach und lächelte geistesabwesend. Er schwenkte die rubinrote, klare Flüssigkeit, so daß sie im Licht des Sonnenuntergangs, der durch die Glaswände des persönlichen Arbeitszimmers der Stimme fiel, wie ein dunkler Edelstein glänzte.

Die Stimme nickte müde. »Natürlich, Tyresian. Eigentlich gibt es überhaupt kein Problem.« Das Glas der Stimme stand unberührt auf dem Tisch. Obwohl Solostarans Gesicht abgespannt wirkte, waren seine grünen Augen so klar wie immer.

Tanis schaute sorgenvoll zu. Er stand so nah wie möglich an der Tür, ohne daß es so aussah, als ob er davonlaufen wollte. Nachdem sich der Aufruhr nach Lauranas Ausbruch gelegt hatte – hauptsächlich durch Xenoths guten Einfall, den aufgeregten Hofstaat aus dem Turm zu schicken –, hatte die Stimme ein privates Treffen im Palast einberaumt. Nur eine Handvoll Leute waren dazu gebeten worden: Tyresian natürlich, da ihn die Sache unmittelbar anging, Miral und Porthios, die jetzt neben der Stimme standen, und Tanis. Solostaran hatte einen Diener losgeschickt, um Laurana zu holen, doch die Tochter der Stimme war anscheinend nirgends zu finden.

Lauranas Handeln hatte Tanis ebenso verwirrt wie alle anderen – vielleicht sogar noch mehr. Er seufzte und versuchte, nicht mit dem Ring zu spielen, der in seiner Tasche steckte. Er fühlte sich glühend an, als wollte er gleich ein Loch in seine Hosentasche brennen und schimmernd auf den Boden fallen, um allen seine Existenz zu verraten.

Tanis wünschte sich verzweifelt, daß Flint hier wäre. Der würde ein paar grantige Worte finden, die alles klarstellen würden, aber der Zwerg war nicht eingeladen.

»Vergeßt nicht, sie ist kaum mehr als ein Kind, Tyresian«, fuhr die Stimme fort.

»Richtig. Aber manchmal sind es kindische Launen, die am stärksten nachwirken, besonders wenn sie versagt werden.« Tyresian warf einen Blick auf Tanis. Der Halbelf erwartete Bosheit in den Augen des Elfenlords, doch der Blick gab nur milde Neugier zum Ausdruck. Das war alles – als fände er es irgendwie erstaunlich und beinahe komisch, daß Tanis in dieser Sache sein Rivale sein sollte, ob freiwillig oder nicht.

»Tyresian«, sagte die Stimme und stand auf. »Vor langer Zeit wurde ein Abkommen zwischen unseren beiden Häusern geschlossen.« Er ging zu den Fenstern und blickte einen Augenblick in die vielfältigen Farben des Sonnenuntergangs, bevor er sich dem Elfenlord wieder zuwandte. Die Stimme schien sich jetzt trotz ihrer Müdigkeit bestens unter Kontrolle zu haben.

»Das Wort meines Hauses gilt mehr als alles andere, denn ohne Ehrlichkeit ist alles nichts. Und ebenso ehrlich muß ich Euch jetzt sagen, daß es mir lieber wäre, wenn meine Tochter nicht in so jungem Alter über ihre Zukunft nachdenken müßte. Es wäre mir lieber, wenn sie das Glück kennenlernen würde, jemanden zu heiraten, der ihr den Hof gemacht und ihr Herz gewonnen hat, als jemanden, der bereits vor ihrer Geburt von zwei alten Männern ausgewählt wurde, als ihr Verlobter selbst kaum mehr als ein Kind war. Nun, ich möchte nicht abwerten, was Euer Vater für mich getan hat – dazu war der Lord des Dritten Hauses ein zu guter Freund –, aber dennoch wünsche ich, daß eines klar ist: Es gibt wenig auf der Welt, was mir mehr bedeutet als meine Tochter. Und wenn ihre Hand auch Euch gehört, ihr Blut wird immer meines bleiben. Vergeßt das nicht. Und behandelt sie dementsprechend.«

Tyresian starrte die Stimme lange an. Etwas von dem übermäßigen Stolz schien von ihm abgefallen zu sein. »Natürlich, Stimme«, sagte er schließlich mit unterwürfiger Stimme. »Ich hätte nicht an Euch zweifeln sollen, aber ich danke Euch dennoch für Eure Versicherungen.« Mit einer knappen, steifen Verbeugung zog sich der Elfenlord zurück, fegte dann an Tanis vorbei und verließ den Raum.

»War das jetzt richtig?« fragte die Stimme, nachdem Tyresian gegangen war. Er schien niemanden Bestimmten anzusprechen, doch Porthios stellte sich neben ihn.

»Natürlich war es das, Vater«, sagte er ernst. »Du hast dein Wort gehalten. Was könnte wichtiger sein als das?«

»Ja«, sagte Solostaran, obwohl offensichtlich war, daß er etwas anderes gemeint hatte.

»Ihr habt Tyresian zugesagt, daß er bekommt, was er will, wenn Ihr das meint«, sagte Miral. In seiner Stimme lag eine Härte, die Tanis noch nie zuvor darin gehört hatte. »Jetzt steht er näher an der Erbfolge.«

Die Stimme fegte diese Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Nur durch Heirat. Das zählt nicht viel. Es gibt andere vor ihm.« Er blickte Porthios an.

»Natürlich«, sagte Miral, doch die Worte der Stimme schienen seine Befürchtungen kaum beruhigt zu haben.

»Ich glaube, ich wäre gern eine Zeitlang allein«, meinte die Stimme dann, und Tanis atmete erleichtert auf. Miral nickte. Dann gingen er und Porthios zu Tanis an die Tür und ließen die Stimme aus dem Fenster in die Dämmerung blicken.

»Tanthalas«, sagte da die Stimme leise, woraufhin Tanis wie angewurzelt stehenblieb. »Vor der morgigen Jagd möchte ich noch mit dir reden.« Tanis wartete noch einen Moment lang, doch die Stimme sagte nichts mehr, so daß er Miral und Porthios folgte und die Tür hinter sich zumachte.

Miral verschwand bereits mit schnellen, festen Schritten am Ende des Korridors, aber Porthios wartete vor der Tür auf Tanis.

»Du weißt, daß das alles deine Schuld ist«, sagte Porthios. Seine tiefliegenden Augen waren von Schatten umrandet, und seine Kiefermuskeln waren verspannt.

»Ich habe nichts davon gewußt, Porthios«, brachte Tanis heraus, obwohl sich seine Zunge so steif wie trockenes Leder anfühlte. »Woher sollte ich wissen, was Laurana tun würde?«

Porthios schien ihn kaum gehört zu haben. »Du bist schuld, daß die Stimme leidet, Tanis. Vergiß das nicht. Ich vergesse das bestimmt nicht.« Die letzten Worte sagte er mit einer solchen Schärfe, daß sie Tanis’ Herz wie Messer durchbohrten. »Ich werde nicht zulassen, daß du ihn durch deine kindischen Spielchen mit Laurana verletzt.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt und eilte den Gang hinunter.

Tanis schüttelte den Kopf. Wieso gaben alle ihm die Schuld für etwas, was Laurana getan hatte? Er hatte das genausowenig gewollt wie jeder andere. Seufzend umfaßte er den zarten, glatten Ring in seiner Tasche. Ganz kurz wollte er ihn am liebsten so fest wie möglich auf den Marmorboden schmeißen, doch dann ging der Impuls vorbei, und er schob ihn tiefer in die Tasche, während er einsam den Gang entlanglief und sich fragte, wo Flint wohl war.

Die Arbeit in der Schmiede half an diesem Abend wenig gegen die Gedanken, die an Flint nagten.

Er ließ seine Hände arbeiten, als könnte er durch den Klang des Hammers die unheilvollen Ereignisse des Tages aus seinem Kopf verbannen. Doch das nützte nichts, denn dauernd fragte er sich, wo Tanis war und wie es dem Halbelfen wohl ging.

Ach, die Aufregung wird sich früh genug legen, du alter Angsthase, sagte sich Flint. Die werden Lauranas Ausbruch einfach vergessen, und dann lassen sie auch Tanis in Ruhe. Aber ganz tief unten spürte er, daß diese Worte nicht der Wahrheit entsprachen. In der friedlichen Elfenstadt, in der seit so vielen Jahren alles seinen gewohnten Gang gegangen war, lag eine Veränderung in der Luft. Einen Augenblick fragte er sich, ob die Stimme vielleicht doch einen Fehler gemacht hatte, als sie den Handel mit Ausländern – Flint schloß sich selbst mit ein – zugelassen hatte. Der Zwerg hatte bereits die Elfenschmiede beeinflußt, die einige Techniken übernommen hatten, die Flint noch von seinem Vater hatte. Vielleicht gab es noch andere, wichtigere Veränderungen, die auf seine Anwesenheit zurückzuführen waren.

Er hoffte, daß Tanis vorbeikommen würde.

Von den drei Flügeln des Palasts war der mittlere der größte. Die Flügel umschlossen den hinteren Hof, hinter dem wiederum die Gärten lagen. In der Mitte des Hauptflügels öffnete sich der Korridor zum Audienzsaal des Palasts, und hier wurde die Decke von zahlreichen Bögen getragen. Am Rand des Saals standen glatte Steinsäulen, die kunstvoll behauen waren, so daß sie Baumstämmen ähnelten, und am Ende ihrer Marmorzweige schimmerten silberne und goldene Blätter im Zwielicht. Die Baumsäulen stützten eine Balustrade, die um den ganzen Saal herum führte, wo der Hofadel stand, wenn unten besondere Zeremonien stattfanden: eine Trauerfeier, eine Krönung oder eine Hochzeit.

In der Mitte der Decke befand sich ein großes, farbiges Glasfenster. Solinari mußte gerade aufgehen, erkannte Tanis, als er stehenblieb, um das Fenster eine Weile zu betrachten. Tanis fragte sich, wo Laurana wohl steckte. Das Bild der blonden Elfin trat ihm vor Augen. Tanis schüttelte den Kopf. Er würde lange brauchen, bis er diese ganze Sache begriffen hatte – wenn ihm das überhaupt je gelang. Vielleicht konnte die frische Gartenluft seinen Kopf klären.

Trotz des Frühlings war die Luft so kalt, daß sie Tanis eher an die dunklen Monate des tiefsten Winters erinnerte. Er hüllte sich fest in seinen grauen Mantel ein, als er in den Garten ging.

Der Abendhimmel war klar, doch im Westen glaubte er zu sehen, wie sich eisengraue Wolkenfinger sammelten. Aber wenn sich so weit im Westen, über den zerklüfteten Gipfeln der Kharolisberge, ein Sturm zusammenbraute, dann würde es noch lange dauern, bis er Qualinost erreichte.

Tanis wanderte über die Kieswege durch den weitläufigen Hof, der zwischen den Flügeln des Palasts lag. Krokusse und Narzissen waren bereits verblüht; jetzt kamen die Lilien, deren blasse, zarte Blüten im Wind schwankten und ihm wie Gesichter zuzunicken schienen.

Er ging an dem Tor vorbei, das den Eingang zu einem Irrgarten aus Ziersträuchern bildete, bog um eine Ecke und gelangte in eine kleine Grotte. Plötzlich blieb er stehen.

Er hörte, wie jemand erschreckt Luft holte, und ein blonder Kopf fuhr herum, als seine Mokassins im Kies knirschten. Es war Laurana. Mit einer Lilie in der einen Hand stand sie da. Als er näher kam, konnte er in Solinaris Schein an ihren geschwollenen Wangen sehen, daß sie geweint hatte.

Doch jetzt hatte sie ihre Gefühle unter Kontrolle, und an ihrer Selbstbeherrschung konnte Tanis erkennen, daß Laurana eine wahre Tochter der Stimme der Sonne war. Selbst in Leid und Wut war sie noch anmutig.

»Hallo«, sagte sie mit leiser, belegter Stimme.

Er betrachtete sie schweigend. In der Ferne hörte er das Wasser in den Abgründen tosen, die Qualinost beschützten. Um sie herum raschelte das Laub im Abendwind.

Ihr schönes Elfengesicht war im Zwielicht womöglich noch anziehender als sonst. »Entschuldige wegen vorhin«, sagte Laurana. »Ich habe gesprochen, ohne nachzudenken, und jetzt steckst du in Schwierigkeiten. Aber ich kann Lord Tyresian nicht heiraten. Er ist…« Sie brach ab. »Ich werde das einfach meinem Vater erklären müssen.«

»Schon gut«, sagte Tanis, nur um irgend etwas zu sagen, was sie beruhigen würde. Doch es schien auszureichen, denn jetzt lächelte sie ihn an und nahm seine Hand.

»Laurana, ich…«, setzte Tanis an, wußte dann aber nicht weiter. Er wollte ihr sagen, daß sie unrecht hatte, daß die Stimme ihr Wort nie zurücknehmen würde, daß es am besten wäre, wenn sie diese dummen Spielchen mit ihm lassen würde. Ihre Heiratsschwüre waren Versprechen von Kindern gewesen, doch sie waren keine Kinder mehr. Und wenn die Stimme der Sonne ihr befahl, Tyresian zu heiraten, um die Ehre ihres Hauses zu wahren, dann mußte sie den Elfenlord nehmen, wenn sie ihren Vater nicht politisch vernichten wollte.

Laurana fuhr unbekümmert fort: »Mein Vater muß mir zuhören.« Tanis wurde klar, daß sie im Augenblick trotz ihrer äußerlichen Gelassenheit der Panik nahe war.

Ich sollte ihr den Ring zurückgeben, dachte er. Doch er wußte irgendwie, daß ihr das jetzt das Herz brechen würde, darum sagte er bloß: »Bestimmt hast du recht. Die Stimme muß zuhören.«

Die Lüge quälte ihn, aber er konnte nichts anderes sagen. Auf jeden Fall schienen die Worte Lauranas Qualen zu lindern, denn sie begann, von anderen Dingen zu reden, während sie durch den Garten spazierten. Man konnte zwar wenig von den Gärten sehen, doch die beiden atmeten den schweren Duft der Rosen ein.

Als sie am Ende des Weges waren, der am nächsten am Palast lag, zögerte Laurana. »Vielleicht sollten wir getrennt hineingehen«, sagte sie.

Tanis war einverstanden. Es war nicht die rechte Zeit, um dabei erwischt zu werden, wie sie gemeinsam in den Palast schlichen.

»Bis bald, Liebster«, flüsterte sie ihm zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange. Dann huschte sie davon und ließ Tanis benommen allein zurück.

»Lange hast du nicht gebraucht, was?« sagte eine scharfe Stimme, und Tanis fuhr herum. Erschrocken holte er Luft. Neben einem Birnbaum stand Porthios, so aufrecht, daß er selbst wie ein Baum aussah. »Sie ist erst ein paar Stunden verlobt, und schon triffst du dich heimlich im Dunkeln mit ihr.«

Der junge Elfenlord sah ihn mißtrauisch an, als Tanis entsetzt die Augen aufriß. Was hatte Porthios gesehen?

»Es ist nicht so, wie du denkst«, fing Tanis hastig an, doch Porthios bedachte ihn nur mit einem finsteren Blick.

»Ist es nie, oder, Tanis?« sagte er. Er setzte sich in Bewegung, als wolle er gehen, blieb dann aber stehen und fixierte den Halbelfen. »Warum machst du das, Tanis? Kannst du nicht wenigstens einmal versuchen, dich wie ein richtiger Elf zu benehmen? Mußt du immer anders sein?«

Als Tanis die Antwort schuldig blieb, schritt Porthios durch die Dämmerung davon.

Miral wußte, daß er von der Aufregung des Tages Alpträume bekommen würde. Er kämpfte gegen die Dämonen seiner Träume. Als er in seinem dämmrigen Zimmer zwischen seinen Zauberutensilien am Tisch saß, zwang er seine schwachen Augen, in eine Kerzenflamme zu starren, bis ihm die Tränen kamen.

Doch am Ende erwiesen sich seine Anstrengungen als nutzlos. Irgendwann mußte er seinen schmerzenden Blick von dem Kerzenlicht abwenden und die Augen zumachen, und in dem Moment, wo er die Lider schloß, übermannte ihn der Schlaf. Sein Kopf fiel nach vorn auf die gekreuzten Arme.

Er war wieder in der Höhle. Wie immer in seinen Träumen war er wieder ein Kind. Licht wie von zehntausend Fackeln drang in seine jungen Augen, und er schrie, bis er heiser war. Das Licht pulsierte, drang in ihn ein, bis er zu zittern begann. Er fürchtete das Licht.

Doch er fürchtete auch die Finsternis. Denn am Rande des Lichts warteten die bösen Wesen aller Kinderträume – Drachen und Oger und Trolle; und alle warteten hungrig und gemein und geduldig darauf, ihn zu kriegen. Das Kind Miral starrte zwischen Licht und Dunkelheit hin und her und versuchte zu wählen, doch es war klein und verängstigt.

Dann umgab ihn Wärme. Er hörte ein einfaches Kinderlied, das auf einer Laute erklang. Das Parfüm seiner Mama – zerdrückte Rosenknospen – stieg ihm in die Nase, und er wußte, daß sie bald da sein würde, um ihm Abendbrot zu geben und ihn mit einer Gute-Nacht-Geschichte ins Bett zu stecken. Dazu waren Mamas schließlich da. Er wartete gespannt.

Doch sie kam nicht, und er wurde ungeduldig. Dann erfüllte ihn die Angst, daß sie womöglich niemals kommen würde.

Er hörte Schritte. Instinktiv wußte er, daß das nicht nur nicht die Schritte seiner Mama waren, sondern die von jemandem, von dem ihn seine Mama fernhalten würde.

Er fing an zu weinen und ballte die winzigen Hände zu Fäustchen.

Auch die Hände des schlafenden Zauberers ballten sich immer wieder zu Fäusten, während seine Angst zunahm.

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