9 Abenteuer

Der nächste Tag ließ sich mit einer klaren, schönen Dämmerung gut an. Im ersten Morgenlicht glitzerte zwar noch Frost auf den grünen Blättern, doch der war innerhalb einer Stunde verschwunden, und der Tag sollte warm und schön werden.

Tanis hatte vorgeschlagen, nach dem Sla-Mori zu suchen, denn der Halbelf sehnte sich nach einem Abenteuer. Nachdem Flint seine Schmiede angesehen und überlegt hatte, welche Arbeiten er aufschieben konnte, willigte er schließlich ein. Weitere Gruppen bewaffneter Elfen waren unterwegs, und suchten nach dem Tylor, besonders seit die Stimme der Sonne eine ansehnliche Belohnung für den Jäger ausgesetzt hatte, der das seltene Tier erlegte.

Tanis plünderte die Vorratskammer der Palastküche und tauchte kurz nach Tagesanbruch mit einem Laib braunem Brot, einem gelben Käse, einer Flasche Wein für sich und einem Tonkrug mit Bier für den Zwerg – das alles in einem kleinen Sack verstaut – bei Flint auf.

Ausgerüstet mit Streitaxt und Kurzschwert führte Flint Tanis, der seinen Langbogen trug, über die fünfhundert Fuß hohe Brücke über den Abgrund, der die Stadt im Westen schützte. Der Zwerg hatte gehört, daß eine alte Rasse von Luftelementaren, Wesen, die ganz aus Luft bestanden, die Regionen über den Flüssen hütete und nicht zuließ, daß irgend etwas auf anderem Wege als über die Brücke nach Qualinost gelangte. Das Wissen, daß ein reizbarer Elementar darauf wartete, daß der Zwerg einen Arm oder ein Bein über den Rand der Brücke streckte, und Flint dann fünfhundert Fuß tief in die Schlucht reißen könnte, erhöhte sein Wohlbefinden nicht im geringsten.

Tanis zeigte nach Norden. »Ich war noch nie am Kentommenai-Kath«, sagte Tanis. »Gehen wir.«

»Ich dachte, wir jagen den Tylor«, sagte Flint.

»Wir finden die Echse genauso wahrscheinlich am Kentommenai-Kath wie anderswo. Nach dem, was ich gehört habe, ist es wahrscheinlicher, daß die Echse uns findet, als andersrum.«

»Wie beruhigend«, knirschte Flint, der hinter Tanis langtrottete und sich sorgsam vom Rand der Schlucht fernhielt. »Und was ist ein Kentommenai-Kath?«

»Wenn ein Elf sein Kentommen hat, geht ein naher Verwandter, einer, der die Zeremonie noch nicht selbst erlebt hat, zu einem offenen Platz, von wo aus er über den Fluß der Hoffnung blicken kann, und hält dort die ganze Nacht Wache.«

»Mach’s mir nicht so schwer, Junge«, fuhr Flint ihn an. »Was ist ein Kentommen?«

»Das ist die Zeremonie der Elfen, wenn sie ihren neunundneunzigsten Geburtstag feiern – wenn sie erwachsen werden. Porthios hat in ein paar Monaten sein Kentommen. Ich nehme an, daß Gilthanas den Kentommenai-Kath übernimmt.«

Der Pfad schlängelte sich durch den dichten Espen- und Pinienwald, wobei er gelegentlich so nah am Abgrund verlief, daß Flints Handflächen zu schwitzen begannen, dann jedoch zu seiner Erleichterung wieder in den Wald zurückführte. Nach über einer Stunde erreichten sie schließlich den Kentommenai-Kath. Der Pfad führte auf einen sonnenbeschienenen Felsvorsprung aus tiefrotem Granit, der mit weißen, grünen und schwarzen Flechten bewachsen war und nach Osten zur Schlucht zeigte. Flint konnte in der Ferne den Sonnenturm leuchten sehen; die Elfenhäuser sahen aus wie rosafarbene Stämme von astlosen Bäumen. Der Hain in der Mitte von Qualinost war genau im Norden des offenen Bereichs zu sehen, das der Himmelssaal gewesen sein mußte.

Vogelschreie wurden schwach durch die Luft herangetragen. In der Mitte des Kentommenai-Kath war eine dicke, flache Felsplatte, die mit handgroßen Vertiefungen übersät war, in denen klares Wasser stand. Zum Rand der Schlucht hin neigte sich die Felsplatte leicht.

»Hier kniet der Verwandte des Kentommen-Elfen und bittet Habbakuk, den jungen Mann oder die Frau zu segnen, damit sie durch die Jahrhunderte im Einklang mit der Natur leben können«, erläuterte Tanis ehrfürchtig.

Flint wanderte um den Kentommenai-Kath, trat mit seinen Wanderstiefeln fest gegen den Fels und bewunderte die roten, grünen und weißen Schattierungen des Platzes, der von Espen, Eichen und Fichten umstanden war. Friedlich lag die Landschaft da. Er sah zu Tanis hinüber und spazierte weiter. »Flint, nicht!« brüllte Tanis mit entsetztem Gesicht. Flint schaute nach vorne… nach draußen… und nach unten. Der Felsen, der nach drei Seiten sanft abfiel, endete an dieser Seite mit einer scharfen Kante. Der Zwerg stand einen knappen Fuß vor einem mindestens sechshundert Fuß tiefen Abgrund.

Er merkte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Da packte ihn eine starke Hand am Kragen und riß ihn zurück. Tanis und der Zwerg verloren auf dem unebenen Stein das Gleichgewicht und landeten mit einem »Uff!« auf dem festen Granit. Der Halbelf war blaß, und Flint tätschelte den Felsen mit klammer Hand, während sich sein Kopf noch drehte.

»Ich…« Flint sprach nicht weiter.

»Du…« Tanis sprach nicht weiter.

Sie starrten einander lange an, bis Flint schaudernd Luft holte. »Der Rand kommt da drüben etwas plötzlich«, sagte er.

Der Halbelf lächelte schief. »Etwas«, stimmte er zu.

Flint setzte sich auf und holte seinen Geldbeutel zurück, der ihm bei dem Sturz aus der Tunika gerutscht war. »Aber nicht, daß ich wirklich in Gefahr gewesen wäre zu fallen«, versicherte er sich selbst.

»Aber nein«, sagte Tanis etwas zu prompt. »Bestimmt nicht.«

»Vielleicht wäre es jetzt ganz gut, eine Erho… äh, eine Essenspause einzulegen«, fügte der Zwerg hinzu.

Tanis nickte und holte den Sack mit dem Essen. Ohne sich darüber zu verständigen, zogen sich beide gleichzeitig noch mindestens zehn Fuß weiter vom Rand zurück.

»Ich habe keine Angst um mich selbst, denk dran«, meinte Flint. »Ich weiß bloß nicht, wie ich es der Stimme erklären sollte, wenn du dich über eine Klippe gestürzt hast.« Tanis sagte nichts.

In der hellen Vormittagssonne teilten sie das Brot, wobei Flint Tanis die größten Scheiben Käse, die leckersten Brotstücke und die besten Früchte zuschob. Dann saßen sie kurze Zeit da und genossen in angemessener Entfernung von der Klippe die Aussicht, bis sie beschlossen, nach Qualinost zurückzukehren. Flint hatte in der Schmiede zu tun.

Die Probleme gingen los, als sich die Abenteurer auf den Rückweg machten. Der Pfad mußte sich gegabelt haben, als sie zum Kentommenai-Kath kamen, ohne daß einer von ihnen es bemerkt hatte. Auf dem Rückweg nahmen sie den falschen Weg. Dann schlug das Wetter um. Zuerst schob sich eine einzelne, dunkle Wolke vor die Sonne.

»Wie meine Mutter immer sagte: ›Eine Wolke fühlt sich einsam‹«, erklärte Flint dem Halbelfen. Schon nach kurzer Zeit zog eine graue Wolkenphalanx über ihnen dahin. Der dunkle Himmel schien sich beängstigend schnell zu senken, so daß Tanis schon fast glaubte, er würde ihnen direkt auf den Kopf fallen. Aber das einzige, was fiel, war der Regen – in großen, kalten Tropfen. Schon bald waren Halbelf und Zwerg tropfnaß und kalt, und Flint war dazu übergegangen, unablässig vor sich hin zu murmeln: »Keine Abenteuer mehr… keine Abenteuer mehr…«

Das alles wäre nicht so schlimm gewesen ohne die Abkürzung. Tanis war skeptisch, aber Flint funkelte ihn nur herausfordernd an, als der Zwerg einen kaum sichtbaren Fußweg hinunter zeigte, der vom Hauptweg abzweigte.

»Ich dachte, ich wäre derjenige, der durch Krynn gewandert ist«, schimpfte Flint. »Oder irre ich mich da etwa?«

Tanis verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, dem Zwerg zu versichern, daß Flint wirklich derjenige war, der Erfahrung mit Wegen hatte, daß Flint derjenige war, der den Wald wie seine Westentasche kannte, und, doch, daß er derjenige war, der beim Aufstieg genug auf praktische Dinge geachtet hatte, um die Abkürzung zu sehen. Außerdem hatte er gestern praktisch unbewaffnet einen wütenden Tylor abgewehrt. Und so brachen sie auf dem schmalen Fußweg durchs Unterholz, der sie in den regennassen Wald führte.

Sie drangen immer tiefer in den Wald ein, hielten ängstlich Ausschau nach dem Tylor und wurden jeden Moment nasser.

Zwei Stunden später, als der Regen noch immer vom Himmel strömte, trafen sie auf eine Gruppe Tylorjäger und begleiteten die erfolglose Jagdpartie nach Hause. Aber als sie die ersten Häuser von Qualinost erreichten, hustete Flint, und als Tanis seinen Freund aus der triefenden Tunika, den Hosen und den Stiefeln pellte, fieberte er bereits. Tanis wickelte ihn in eine Decke, drückte ihn auf einen Stuhl und schürte die Esse, damit es wärmer wurde.

Jetzt, am späten Nachmittag, als Tanis einen Topf Fleischbrühe über dem Feuer umrührte, ließ der Rückstoß von Flints Niesen den Stuhl so gefährlich nach hinten kippen, daß Tanis hinsprang, um ihn festzuhalten, bevor er umfiel.

»Uff!« grunzte Tanis mit wackligen Knien, als er gegen den großen Holzstuhl drückte. »Ich weiß ja, daß du nicht allzugroß bist, Flint, aber beim Gewicht macht sich das nicht bemerkbar.« Mit einiger Anstrengung richtete er den Stuhl auf, doch der Zwerg zeigte keine Dankbarkeit.

»Ach, was soll’s, wenn ich umfalle, wo ich doch sowieso sterbe«, maulte Flint trübsinnig. Er putzte sich mit seinem Leinentaschentuch – Geschenk der Stimme der Sonne – die Nase, was sich wie der Klang einer verbogenen Trompete anhörte. »Dann liege ich wenigstens flach da und bin fertig für meinen Sarg.« Flint kuschelte sich fester in seine Wolldecke und steckte seine dicken Zehen wieder in einen dampfenden Wasserzuber. Obwohl er so nah an den glühenden Kohlen der Esse saß, konnte ihm die Glut nicht die Kälte aus seinen Zwergenknochen vertreiben, und seine Zähne klapperten, weil er so fror.

»So wie’s aussieht, bin ich doch sowieso schon steif vor Kälte. Könnte genausogut gleich richtig tot sein«, nörgelte Flint.

»Ich könnte dir etwas Elfenblütenwein heiß machen.«

Flint sah ihn wütend an. »Wieso nimmst du nicht dein Schwert und beendest mein Leiden einfach kurz und schmerzlos? Ich trete doch nicht in Elfenparfüm einbalsamiert vor Reorx!«

»Flint«, erklärte Tanis ernst, »ich weiß, daß es dich furchtbar enttäuschen wird, aber du hast nur eine Erkältung. Du wirst nicht sterben.«

»So, und wie kannst du das wissen?« knurrte Flint. »Bist du denn schon mal gestorben?« Flint ließ einen weiteren gigantischen Nieser los, bei dem seine Knubbelnase so rot leuchtete, daß sie der untergehenden Sonne Konkurrenz machte. Tanis schüttelte nur den Kopf. Immerhin lag eine gewisse Logik in der Aussage des Zwergs.

»Keine Abenteuer mehr!« brüllte Flint. »Keine Tyloren mehr. Von mir aus jeden Tag einen Oger. Keine Sla-Mori mehr. Und keine Spaziergänge im Regen am Rand der elfischen Version des Abgrunds.« Er machte eine Pause, um für die nächste Schimpfkanonade Atem zu holen. »Das kommt alles nur von diesem Bad. Zwerge sind nicht dazu geschaffen, zwei Tage nacheinander in Wasser eingeweicht zu werden!« Dieser letzte Satz klang für Tanis mehr wie: »Fwerge find nich dafu geschaffen, fwei Dage nacheinander in Waffer eingeweicht fu werden.«

Kaum zu glauben, daß sie beide erst gestern gemütlich hier in der Schmiede zusammengesessen hatten, dachte der Halbelf.

Flint schniefte und putzte sich erneut die Nase. Er legte sich einen warmen Waschlappen auf den Kopf, und sah in seiner dunklen Decke aus wie ein billiger Mystiker auf einem Dorfjahrmarkt. »Das ist das letzte Mal, daß ich den Fehler mache, auf dich zu hören«, grummelte er zum x-ten Mal.

Tanis bemühte sich nach Kräften, sein Lächeln zu verbergen, während er dem Zwerg heißen Tee eingoß und ihm die Tasse in die Hände drückte. »Der Regen hat aufgehört. Ich müßte jetzt eigentlich los und mit Tyresian trainieren.«

»So spät? Gut, also laß mich doch hier allein sterben«, sagte Flint. »Aber komm bloß nicht wieder und erwarte, daß ich sage: ›Hallo, Tanis, wie geht’s? Komm doch rein und verdirb einem alten Zwerg den Tag.‹ Schließlich werde ich dann tot sein. Es ist noch eine oder zwei Stunden hell. Bis später«, sagte er und winkte Tanis mit einer Hand. »Das heißt, wahrscheinlich nicht«, fügte er verdrießlich hinzu.

Tanis schüttelte den Kopf. Wenn Flint so war, war es wirklich das Beste, ihn seinem Elend zu überlassen. Tanis überzeugte sich davon, daß der Kessel in Reichweite des Zwergs stand und daß das Wasser im Eimer heiß genug war. Er tat Flint eine ordentliche Portion Brühe in eine Holzschale, nahm Pfeile und Langbogen und wollte den Zwerg verlassen.

Doch als der Halbelf die Tür des Ladens erreicht hatte, ging sie plötzlich auf und er stand zwei Besuchern gegenüber – der Stimme der Sonne und Lord Tyresian.

Tyresian ignorierte den Zwerg völlig, schimpfte den Halbelfen an: »Kommst du immer zu spät zum Unterricht?«, und nahm dann seine hitzige Diskussion mit der Stimme wieder auf. Es schien eine einseitige Diskussion zu sein; Solostaran wirkte heute unerschütterlich. Er nickte ernst zu den leidenschaftlichen Ansichten des Elfenlords, machte aber keine Aussagen, die als Zustimmung gewertet werden könnten.

Falls möglich, war Tyresian in den zwanzig Jahren, die Flint ihn nun kannte, noch selbstsicherer geworden. Trotz seiner kurzen Haare, die unter Elfen so ungewöhnlich waren, sah der Elfenlord gut aus, denn er hatte markante, gleichmäßige Gesichtszüge und aufmerksame Augen von der Farbe des Herbsthimmels. Als er mit der Stimme redete, waren seine Bewegungen anmutig, und selbst hier, in der Tür der schlichten Unterkunft des Zwergs und nur in einer einfachen, taubengrauen Tunika, blendete einen seine Ausstrahlung.

»Die Leute meinen, das Auftauchen eines so seltenen und so gefährlichen Wesens wie des Tylors beweise, daß Eure Politik, was Außenseiter angeht«, hierbei richtete der Lord seinen Blick auf Flint und dann lächerlicherweise auf den Halbelfen, »verfehlt ist.«

Solostaran blieb stehen und sah den Elfenlord an. Endlich war auf dem Gesicht der Stimme eine Gefühlsregung zu erkennen – und zwar Belustigung. »Das ist ein interessanter Gedankengang, Lord Tyresian«, sagte er. »Erklärt mir, wie Ihr daraufkommt.«

»Bitte versteht, Stimme, daß ich nicht meine eigene Meinung vertrete, sondern die Meinung, die ich von anderen gehört habe«, sagte der blauäugige Elfenlord prompt.

»So, so«, meinte Solostaran trocken.

»Ich weiß eben, daß Ihr, als Stimme der Sonne, an den Ansichten Eurer Untertanen interessiert seid«, fügte Tyresian hinzu.

»Bitte kommt zur Sache.« Solostarans Stimme verriet erstmals, seitdem das Paar auf Flints Schwelle erschienen war, Verärgerung. Bis jetzt hatte jedoch keiner der beiden Neuankömmlinge den Zwerg begrüßt. Flint sah Tanis an. Das Gesicht seines Freundes hatte den störrischen Ausdruck angenommen, den der Halbelf immer aufsetzte, wenn jemand anderes als Flint, Miral oder Laurana in der Nähe war. Tanis’ Miene hätte Windsbraut gut zu Gesicht gestanden, dachte der Zwerg.

Flint machte den Mund auf, um auch etwas zu sagen, aber Tyresian nahm den Faden wieder auf, wobei er sich mit der Hand durch die kurzen, blonden Haare fuhr.

Flint fiel auf, daß die Arme des Elfen, die durch das kurzärmelige Frühlingshemd zu sehen waren, das er unter seiner Tunika trug, voller Narben waren – zweifellos das Ergebnis jahrelanger Übungskämpfe mit seinem Freund Ulthen.

»Es heißt, daß Tyloren sich am liebsten an viel begangenen Wegen ansiedeln, damit sie Reisenden auflauern können. Es heißt, daß Ihr zwar weiterhin die meisten Reisenden von Qualinost fernhaltet«, und der Elfenlord durchbohrte Flint mit seinem Blick, »daß aber der Handel die Anzahl der Elfen erhöht hat, die unsere Stadt und das Königreich mit Waren verlassen.«

»Lord Tyresian…« Solostarans Geduld war bereits strapaziert, aber der Elfenlord war zu aufgebracht und achtete nicht mehr auf die Etikette.

»Es heißt, Stimme, daß es falsch war, ›unelfisch‹, diese… diese Gnomenbadewannen im Palast einzubauen.«

Flint schniefte – was mit einer Erkältung ziemlich einfach war. Tanis lachte. Tyresian wurde rot und sah die beiden wütend an.

Solostaran war offensichtlich zwischen Lachen und einem Wutausbruch hin und her gerissen. Sein Blick begegnete dem von Flint, dessen stahlgraue Augen blinzelten. »Wie wär’s mit einer Tasse heißem Elfenblütenwein, Stimme, Tyresian?« bot der Zwerg an und schniefte. »Mein Freund hier hatte angeboten, einem kranken Zwerg welchen zu machen.«

Solostaran hatte Lord Tyresian den Rücken zugekehrt und zwinkerte dem Zwerg und Tanis beruhigend zu. »Ich komme später mal auf Euer freundliches Angebot zurück, Meister Feuerschmied, habt vielen Dank. Und ich glaube, Lord Tyresian war auf der Suche nach Tanthalas.«

Tyresian konnte seinen Ärger kaum noch im Zaum halten. »Stimme, ich muß darauf bestehen, daß diese andere Sache festgeschrieben wird.«

Solostaran fuhr herum. »Ihr ›müßt bestehen‹?« fragte er nach.

»Eure heutigen Entscheidungen bestimmen später das Leben Eurer Kinder, Stimme«, sagte Tyresian kalt.

Solostaran richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Aus seinen Augen blitzte grünes Feuer. Plötzlich wirkte er eine halbe Handbreit größer als der junge Elf – und eine viel zu eindrucksvolle Gegenwart für Flints Häuschen. »Ihr wagt es, in einer solchen Angelegenheit öffentlich auf etwas zu bestehen?«

Tyresian wurde blaß. Eiligst entschuldigte sich der Elfenlord und zog sich hastig mit dem Halbelfen im Gefolge zurück. Noch während die beiden verschwanden, hörte Flint, wie Tyresian seinen Zorn bereits an Tanis ausließ. »Ich kann nur hoffen, daß du die Technik geübt hast, die ich dir gestern gezeigt habe, Halbelf.« Die Drohung hing noch in der Luft, während die Schritte der beiden verklangen.

Die Stimme machte zunächst Anstalten, ihnen zu folgen, doch dann drehte er sich wieder zu Flint um.

»Ich beneide Tanis nicht um seine heutige Schießstunde«, sagte der Zwerg milde, während er sich mit dem Taschentuch die Nase abwischte. Dann wies er zur Feuerstelle. »Es ist nicht gerade vom Feinsten – Tanis ist nur ein durchschnittlicher Koch –, aber es ist gesund. Allerdings nur, wenn du Lust hast, einem sterbenden Zwerg Gesellschaft zu leisten.« Er hustete schwach.

Flint, der in seiner Decke dasaß und seine fast leere Tasse umklammerte, bot einen so mitleiderregenden Anblick, daß Solostaran in Gelächter ausbrach.

»Sterben, Flint? Das glaube ich nicht. Du bist der Gesündeste von uns allen – körperlich und auch sonst.«

Nachdem er mit Flint allein war, legte die Stimme einen Teil ihrer Förmlichkeit ab. Solostaran goß Flint neuen Tee ein, ignorierte die unter Niesen vorgebrachte Bitte des Zwergs um »einen letzten Krug Bier, bevor ich sterbe«, und beschloß, sich doch einen Becher Elfenblütenglühwein zu gönnen. Mit einer Handbewegung tat er Flints Anstalten ab, ihm den Wein zuzubereiten, erhitzte das Getränk und versetzte es mit einer Prise Gewürze, die er in einem kleinen Tonkrug in Flints Schrank fand. Zum Trinken machte es sich die Stimme auf der hölzernen Truhe bequem, die Flints wenige Kleidung enthielt. Das ist jetzt der Anführer aller Qualinesti-Elfen, der mir gerade Tee serviert hat, dachte Flint und staunte über sein Glück. »Ich habe einen Schmiedeauftrag für dich, Meister Feuerschmied, wenn du gesund genug und dazu bereit bist.«

»Ich bin gesund genug. Und wann war ich jemals nicht bereit?« gab Flint zurück, weil er recht gut wußte, daß er mit weniger Etikette auskommen konnte, wenn er mit seinem Freund allein war. Allerdings mahnte ihn Solostarans kürzliche Demonstration seiner Autorität, die Freundschaft nicht zu sehr zu beanspruchen. »Sir.«

Solostaran warf Flint einen kurzen Blick zu und betrachtete dann eingehend die ordentliche Hütte des Zwergs, die gepflegte Esse und die feuchten Kleider, die – einschließlich der smaragdgrünen Tunika, die die Stimme dem Zwerg vor zwanzig Jahren hatte machen lassen – über zwei Stühlen ausgebreitet waren. Die Stiefel, deren Leder beim Trocknen bereits spröde wurde, waren mehrere Fuß vor der Esse unter Flints Tisch abgestellt. Der Raum roch nach nasser Wolle.

Als Solostaran endlich sprach, klang seine Stimme müde. Er nahm einen Schluck Wein. »Du fragst dich vielleicht, warum ich solche Unverschämtheit von einem Mitglied meines Hofes dulde«, sagte er.

»Eigentlich fand ich, es ginge mich nichts…«

»Wie du weißt, stammt Tyresian aus einer der höchsten Familien in Qualinost – der Dritten Familie. Tyresians Vater hat mir vor Jahren einen großen Dienst erwiesen, und zwar so groß, daß ich ohne seinen damaligen Beistand heute vielleicht nicht die Stimme wäre.«

Flint fragte sich, was für eine gute Tat das gewesen sein mochte, aber er dachte, daß Solostaran es ihm schon sagen würde, wenn er es ihm mitteilen wollte. So schlürfte der Zwerg lieber seinen Tee, schob seine Füße näher ans Feuer und wartete.

»Tyresian ist einer der besten Bogenschützen am Hof«, meinte Solostaran nachdenklich und gleichermaßen abwesend. Draußen neigte sich die Sonne allmählich dem Horizont entgegen und legte Qualinost in ein buttergelbes Licht. Es sieht mehr nach Herbst aus als nach Frühling, dachte der Zwerg, richtete dann aber seine Aufmerksamkeit mit Mühe wieder auf die Stimme, als der Elfenherrscher fortfuhr. »Er ist hart mit Tanis umgesprungen, dessen bin ich mir bewußt – ja, mein Freund, ich weiß mehr von dem, was bei Hof vor sich geht, als ich preisgebe –, aber ich kann nicht übersehen, daß Tanis mit dem Langbogen dank Tyresians Unterricht fast so gut umgeht wie Tyresian selbst. Ich wünschte nur, Tyresian wäre nicht so… so…« Solostaran suchte nach dem Wort.

»… so konservativ elfisch?« half Flint aus.

»…so starrsinnig.«

Flint kippte den Rest seines Tees herunter. Er wagte nicht, der Stimme einen Blick zuzuwerfen, bevor er den letzten Tropfen geleert hatte. Dennoch sah Solostaran ihn durchdringend an, als Flint aufsah. Das Gesicht des Elfen war leicht gesenkt, so daß man durch die goldenen Haare seine spitzen Ohren sehen konnte.

»Wenn wir Elfen dir starrsinnig erscheinen, Meister Feuerschmied«, sagte Solostaran freundlich, aber bestimmt, »dann versuch, daran zu denken, daß unsere ›starrsinnige‹ elfische Hingabe an Tradition und Beständigkeit uns geschützt hat, während andere, veränderlichere Rassen im Chaos gescheitert sind. Darum gehe ich so behutsam vor, wenn ich mehr Handel mit fremden Nationen zulasse – obwohl manchen Höflingen jedwede Änderung der Tradition widerstrebt –, und darum nehme ich Vorbehalte wie von Tyresian und Xenoth sehr ernst.«

Der Zwerg nickte, und die Stimme fügte rasch hinzu: »Aber ich bin aus einem bestimmten Grund hier – außer dem Wunsch, jenen Gerüchten nachzugehen, die behaupten, daß mein lieber Freund in den letzten Zügen liegt. Glücklicherweise entsprechen diese Gerüchte nicht der Wahrheit.«

Das ist noch gar nicht so sicher, wollte der Zwerg sagen, hielt aber den Mund. Er sah die Stimme nur an, die fragte: »Hast du von dem Fest gehört, das wir das Kentommen nennen?«

Flint nickte, worauf der goldgekleidete Lord fortfuhr: »Wir haben im vergangenen Winter viel Zeit mit der Planung von Porthios’ Kentommen verbracht, das in knapp zwei Monaten im Sonnenturm gefeiert wird.«

Die beiden sahen einander über den einfachen Steinboden des Häuschens an. Dann warf Solostaran einen Blick auf die Schmiede.

»Ich möchte, daß du einen speziellen Orden für diese Gelegenheit entwirfst. Ich würde Porthios diese wertvolle Medaille dann während des Kentommen überreichen.«

Die Stimme der Sonne holte tief Luft. »Ich möchte den Elfenadel mit dieser Zeremonie wieder zusammenschweißen, Meister Feuerschmied. Ich fürchte, daß die… Veränderungen… der letzten Jahre eine gewisse Spaltung mit sich gebracht haben, und ich möchte, daß diese Zeremonie sie erkennen läßt, daß ich mich gewissen«, er lächelte, »unveränderlichen Elfentraditionen verpflichtet fühle.

Ich brauche wohl nicht zu sagen, mein Freund, daß der Erfolg dieser Zeremonie viel dazu beitragen kann, Porthios’ Anspruch auf das Amt der Stimme zu festigen. Und deine Medaille, die ich ihm überreiche, wäre ein Teil davon.«

»Hast du dir schon etwas ausgedacht?« fragte Flint.

Solostaran stand auf und stellte seinen leeren Becher auf den Tisch. »Ich habe natürlich Vorstellungen, aber ich würde lieber sehen, was du dir ausdenkst. Von allen Leuten aus meiner Umgebung kennst du mich vielleicht am besten, Meister Feuerschmied. Und dieses Wissen könnte dir jetzt gut zustatten kommen.«

Er schwieg, als würde er an etwas denken, das gar nichts mit dem Thema zu tun hatte, so daß Flint nur ruhig sagte: »Ich würde mich geehrt fühlen, einen solchen Orden für das Fest anzufertigen.«

Solostaran sah auf und lächelte. Seine Augen schimmerten warm, was selten vorkam. »Danke, Flint.« Auf einmal sah der Zwerg, wie müde die Stimme wirkte, als hätte sie nächtelang unruhig – oder gar nicht – geschlafen. Die Stimme schien das Mitgefühl in Flints Blick zu entdecken. »Der Weg zu meinem Amt ist voller Hürden, Flint. Schau nur meine eigene Familie an.«

Flint, der beschlossen hatte, daß er wohl doch nicht sterben würde, schob die Decke zurück, griff zu seiner Holztruhe und zog ein frisches Hemd heraus: Weißes Leinen, das am Kragen mit Espenblättern bestickt war, ein Geschenk des Schneiders der Stimme. Er zog sich das Hemd über den Kopf. »Du spielst auf den Tod von Tanis’ Vat… deinem Bruder an?«

»Den Tod von Kethrenan und Elansa, sicher«, stimmte Solostaran zu, »aber auch den Tod von Arelas, meinem jüngsten Bruder. Meine Eltern hatten drei Kinder, aber nur eins überlebte. Qualinost kann durchaus erleben, daß das Amt der Stimme nicht an Porthios fällt, sondern an Gilthanas oder sogar an Laurana, wenn das Schicksal es will.«

»Arelas?« hakte Flint nach.

»Arelas kam nur wenige Jahre nach Kethrenan zur Welt, und er starb kurz nach dem Tod meines mittleren Bruders.«

»Was für eine schlimme Zeit für dich«, sagte der Zwerg leise.

Solostaran blickte auf. »Für uns alle, ja. Kethrenan starb, und Elansa war wie ein lebender Geist, während sie auf die Geburt ihres Kindes wartete. Der ganze Hof war wie gelähmt.« Er sah zu, wie sich der Zwerg in grüne Hosen und dunkelbraune Wollsocken zwängte. »Dann berichtete jemand, der nach Kargod gereist war, daß Arelas die Stadt verlassen hätte und zurückkäme.«

Er lächelte. »Du hättest erleben sollen, was auf einmal am Hof los war, mein Freund. Mein jüngster Bruder hatte Qualinost Jahrzehnte vorher als kleines Kind verlassen und war nie zurückgekehrt. Dann sollte er mitten in diesem ganzen… diesem Schmerz zurückkehren.

Mir kam es vor, als hätte ich den einen Bruder verloren, aber einen anderen geschenkt bekommen, und obwohl die Trauer um Kethrenan immer noch groß war, lag ein gewisser Trost in der Gewißheit, daß ich endlich diesen kleinen Bruder kennenlernen würde. Ich hatte Arelas kaum gekannt, weißt du. Er hatte den Hof schon sehr früh verlassen.«

Flint grübelte. Warum sollte eine Adelsfamilie von Qualinost ihr jüngstes Kind wegschicken? Obwohl er nichts sagte, war die Frage wohl in seien Augen zu lesen.

»Arelas war als Kind sehr krank. Er war mehrfach dem Tode nahe, und die Elfenheiler schienen ihm nicht helfen zu können. Schließlich ordnete mein Vater, die Stimme, an, daß man ihn zu ein paar Klerikern bei Kargod, jenseits der Straße von Schallmeer, schicken sollte. Dort war ein Elfenkleriker, den mein Vater kannte, und der sehr erfolgreich bei scheinbar hoffnungslosen Krankheitsfällen war.

Dort entwickelte sich Arelas so gut, daß der Kleriker ihn nach einem Jahr wieder zurückschickte. Hier aber wurde er bald erneut krank. Es sah fast so aus, als würde etwas in Qualinost an ihm zehren, an seiner Kraft nagen. Weil mein Vater Angst hatte, seinen jüngsten Sohn zu verlieren, schickte er ihn zu seinem eigenen Besten erneut nach Kargod. Es gab keine Besuche. Du weißt ja, die höchsten Familien verlassen Qualinost nur selten, mitunter niemals. Aber wir erhielten regelmäßig Berichte, daß es Arelas gutging.«

Flint rückte näher an die Stimme heran. Das einzige Licht in Flints Laden, das Schmiedefeuer, beleuchtete Solostarans Gesicht flackernd. »Als Arelas zurückkam, passierte etwas?«

Solostaran runzelte die Stirn. »Er ist nie angekommen. Die Wochen vergingen, bis ich dachte, meine Mutter würde vor Ungewißheit dahinsiechen und sterben.« Er zuckte mit den Schultern. »Dann erhielten wir Nachricht durch Miral, der einen Brief meines Bruders bei sich hatte und die traurige Geschichte erzählte, wie Räuber ihn getötet hatten. Der Brief sagte uns, wie Arelas uns liebte, wie er Miral verpflichtet war, und bat darum, daß ich Miral eine Stellung bei Hof verschaffen sollte.«

Er lächelte traurig. »Es war klar, daß Miral ein Zauberer von sehr begrenzter Macht war. Er konnte ein bißchen zaubern, Magenschmerzen und Kopfschmerzen lindern und kleinere Illusionen erschaffen. Aber nicht viel mehr.«

Flint erinnerte sich daran, wie der Magier ihm bei seinem Erstickungsanfall nach seiner ersten Begegnung mit Elfenblütenwein geholfen hatte. »Solche Fähigkeiten sind nicht zu unterschätzen«, sagte er.

Solostaran ging zur Tür und berührte sanft die Kletterrose, die um den Eingang herum blühte. »Miral ist ein kluger, freundlicher Elf, und obwohl er als Zauberer wenig taugt, war er ein guter Lehrer für Tanis, Gilthanas und Laurana. Ich habe meine Entscheidung, ihn hier leben zu lassen, nie bereut.«

Die Stimme warf einen Blick auf das spätnachmittägliche Treiben der Elfen, die die Geschäfte des Tages zu Ende brachten. »Ich bin spät dran«, sagte er schlicht und brach das Gespräch ab.

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