19 Die Medaille

A.C. 308, Frühsommer

Die Wochen vergingen, ohne daß weitere Worte über den Streit bezüglich Lord Xenoths Tod verloren wurden. Zwei Tage nach seinem Tod wurde der verdiente Berater in aller Stille beerdigt. Um die Wahrheit zu sagen, vermißte kaum jemand am Hof den reizbaren Lord, und mehr als ein Elf atmete heimlich erleichtert auf, weil er sich keinen verbalen Schlagabtausch mehr mit ihm liefern mußte.

Xenoths Beerdigung hielt das Volk nicht davon ab, spontan die Erlegung des Tylors zu feiern. Das Tier hatte viel dazu beigetragen, den Handel lahmzulegen, der für die Elfen immer wichtiger geworden war. Eine Zeitlang wurde der gehörnte Kopf des Tiers auf dem südwestlichen Wachturm ausgestellt, und lange Reihen von Elfen, viele mit aufgeregten Kindern im Schlepptau, schoben sich an der Trophäe vorbei.

Tanis merkte, wie ihm auf dem Großen Markt von den einfachen Elfen bewundernde Blicke zugeworfen wurden, während ihn die Höflinge in Turm und Palast mißtrauisch beäugten. Beides verursachte ihm Unbehagen. Außerdem ging ihm Laurana aus dem Weg und behandelte ihn bei den Gelegenheiten, wo sie einander nicht ausweichen konnten, betont kühl. Infolgedessen verbrachte er mehr Zeit denn je in Flints Laden und sah zu, wie der Zwerg Skizzen für die Medaille zu Porthios’ Kentommen zeichnete.

»Gestern hat die Stimme Lord Xenoths Posten besetzt«, berichtete Tanis eines Morgens, während er Flints Hände beobachtete, die mit einem Stück Holzkohle über das Pergament flitzten.

»Mit…?« fragte der Zwerg.

»Litanas natürlich.«

»Ich kann mir vorstellen, daß sich Lady Selena jetzt endgültig für Litanas entscheidet«, stellte Flint fest.

Tanis nickte. »Ulthen schleicht ganz verloren herum, seufzt und schmachtet Selena an wie…« Er suchte nach einem passenden Wort. Plötzlich riß ihn das Hufgeklapper eines Maultiers aus seinen Gedanken, und Windsbraut tauchte im offenen Eingang zum Laden auf. Ihre feuchten, braunen Augen strahlten vor Zuneigung.

»… wie ein liebestolles Maultier.«

Flint warf leise fluchend die Holzkohle hin und schnitt dem Tier den Weg ab, das gerade einen Huf in den Laden setzte. Schimpfend führte er es zu seinem Unterstand zurück.

Nachdem Flint nicht mehr mit dem Maultier schalt, stand Tanis auf und ging zum Tisch. Mehr als ein Dutzend Skizzen von verschiedenen Versionen der Medaille lagen auf der Holzplatte. Flint arbeitete mit unterschiedlich kombinierten Elfensymbolen – Espenblätter natürlich und andere Dinge des Waldes. Er hatte sogar eine grobe Karikatur von Porthios gezeichnet, die sowohl seine Sturheit als auch seine Stärke darstellte, aber den permanent finsteren Ausdruck auf dem Gesicht des Elfenlords zu sehr betonte. Diese Skizze hatte Flint dick durchgestrichen. Tanis gefiel der Entwurf mit den verschlungenen Espen-, Eichen- und Efeublättern am besten.

Flint stapfte in sein Geschäft zurück und schlug die Tür zu, wodurch er natürlich auch den willkommenen Windhauch ausschloß, der die Mittsommerhitze gelindert hatte. Wegen der Hitze hatte er seine normale Tunika abgelegt und trug nur ein leichtes Paar pergamentfarbener Hosen und ein weites lilafarbenes Hemd, das vorne und hinten zusammengerafft war, aber nicht im Gürtel steckte.

»Dieses verflixte Maultier«, zürnte der Zwerg. »Ich habe vier verschiedene Riegel für ihren Stall gemacht, und jeden einzelnen hat sie durchschaut.«

»Sie liebt dich, Flint. Die Liebe besiegt alles, weißt du«, bemerkte Tanis und unterdrückte ein Lächeln.

»Meine Mutter hat immer gesagt: ›Mit Liebe und einem Pfennig bekommst du auf dem Markt ein leckeres Käsebrötchen‹«, bemerkte Flint, der sich wieder auf seine Zeichnung konzentrierte.

Tanis hatte gerade den Mund aufgemacht, um etwas zu Flints Skizzen zu sagen, machte ihn aber wieder zu. Verwirrt blickte er den Zwerg an. »Und?« fragte er schließlich.

»Und?« wiederholte der Zwerg und zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch.

»Und was heißt das?« wollte der Halbelf wissen.

»Das weiß Reorx allein«, sagte Flint, setzte sich an den Tisch und nahm die Holzkohle wieder zur Hand. »Ist nur so etwas, was meine Mutter immer sagte.«

»Aha.«

Flint drehte die Zeichnungen so hin, daß Tanis sie sehen konnte. »Welche gefällt dir am besten?«

Tanis zeigte auf die verschlungenen Blätter. »Diese, aber das ist zu einfach.«

Der Zwerg betrachtete die Skizze. »Hab ich auch gedacht. Das Problem ist, daß ich mich nicht entscheiden kann, ob ich die Medaille aus Metall oder aus Holz machen soll.«

Tanis schaute den Zwerg fragend an.

»Eigentlich«, erklärte Flint, »wäre Holz ein gutes Material – weil es die Verbundenheit der Elfen mit der Natur zeigt. Aber eine geschnitzte Holzmedaille würde aussehen wie eine dieser Birkenscheiben, die Kinder als Spielgeld nehmen.« Flint drehte die Zeichnungen wieder zu sich. »Nicht gerade wie ein Symbol, das das Erwachsenwerden des Erben der Stimme preist.«

»Was ist mit Stahl?« fragte Tanis.

Flints nachdenkliche Stimme schien von weither zu kommen. »Es ist ein wertvolles Metall, aber Stahl wirkt kalt und herzlos. Zum Beispiel der Anhänger deiner Mutter.« Tanis berührte den Griff seines Schwerts, das er immer noch überallhin mitnahm. »Er ist sehr schön und voller Bedeutung für dich, ihren Sohn –, aber nicht warm.«

Unter den Augen des Halbelfen legte der Zwerg den Kopf in die Hände. »Ich habe nicht mehr so viel Zeit«, klagte er. »Das Kentommen findet in zwei Wochen statt, und ich muß meine Skizzen noch von der Stimme absegnen lassen.«

Als Tanis nichts entgegnete, rieb sich der Zwerg ein letztes Mal die Augen, stand auf und ging zu einer Eichenanrichte, auf der eine riesige Schüssel Himbeeren stand. Mit einem Holzlöffel füllte er zwei Tonschalen mit Beeren.

»Wieder ein Geschenk von Eld Ailea?« fragte Tanis. »Wie das Hemd, das du heute anhast?«

Flint sah Tanis mißtrauisch an. »Was willst du damit sagen?«

»Oh, nichts.« Tanis hielt scherzhaft die Hände hoch, als würde er sich ergeben.

Der Zwerg zeigte mit dem Löffel auf den Halbelfen. »Ailea ist eine gute Freundin geworden. Und ich darf doch daran erinnern, daß du in den letzten paar Wochen selbst geraume Zeit mit ihr verbracht hast, Bursche.«

Tanis nahm sich eine Beere aus einer Schale und aß. »Soll ich noch Sahne holen?« Flint kühlte seine Vorräte, einschließlich Milch und Sahne, indem er sie in versiegelten Keramikkrüge in seinem Hinterhof in einer Quelle lagerte.

Der Zwerg schob sich eine großzügige Portion Himbeeren in den Mund, schloß die Augen und murmelte, während er langsam kaute: »Einfach lecker, so wie sie sind.« Dann gingen seine graublauen Augen auf, und er funkelte den Halbelfen an. »Und überhaupt bezahle ich Eld Ailea mit Spielzeug. Das sind keine Geschenke.« Er nahm die Schale hoch und trug sie zum Tisch, um seine Zeichnungen zu begutachten.

Tanis beschloß, daß es Zeit war, das Thema zu wechseln. »Wenn du dich nicht zwischen Holz und Stahl entscheiden kannst, warum kombinierst du sie dann nicht?« Seine Stimme war durch die Beeren im Mund gedämpft.

Flint nickte, ohne richtig hinzuhören. Dann drehte er sich zu Tanis um. »Was hast du gerade gesagt?« wollte er wissen. »Warum kombinierst du…«

Aber Flint hatte bereits ein neues Stück Pergament herausgezogen und zeichnete wild drauflos. Er redete leise mit sich selbst, doch Tanis konnte die Worte nicht verstehen. Der Halbelf seufzte. Auch gut. Bei der betäubenden Hitze des Tages hatte Tanis sowieso Lust zu einem Schläfchen. Fünf Minuten später lag der Halbelf zusammengerollt auf Flints Feldbett und schlief tief und fest. Der Zwerg arbeitete weiter.


Am frühen Nachmittag erhob Flint schließlich den Kopf von der Seite. »Schau dir das an, Junge. Du mußt mir sagen, was du dazu meinst.« Er blickte zu Tanis hinüber, doch der Halbelf regte sich kaum. »Na gut!« Flint betrachtete seinen Entwurf noch einmal und rollte dann das Blatt zusammen. Die anderen ließ er auf dem Tisch liegen, als er ging und leise die Tür hinter sich zumachte.

Eine halbe Stunde später hatte Flint den Bogen auf dem Marmortisch der Stimme im Turm ausgerollt. Solostaran beugte sich darüber, um den Vorschlag des Zwergs zu begutachten.

»Ich habe beschlossen, Gold, Silber, Stahl, Horn, rote Koralle und Malachit zu kombinieren«, erklärte der Zwerg aufgeregt. »Und Espenholz.«

Die Zeichnung zeigte eine Medaille von der Größe einer Kinderfaust. Dargestellt war eine Waldszene mit einer Espe im Vordergrund und einem Pfad, der hinten durch Fichten zu einem Hügel führte. Über dem Hügel standen zwei Monde. »Ich mache die Medaille, indem ich eine stählerne Rückseite mit einer goldenen Vorderseite verbinde. Aus der goldenen Vorderseite werden die Figuren ausgeschnitten – die Bäume, die Monde, der Weg.«

Solostaran nickte. Das war eine kluge Idee. »Was ist mit Koralle und Malachit?« fragte er. »Wie passen die hinein?«

»Wird alles eingelassen«, erläuterte Flint. »Wenn ich die beiden Seiten verbunden habe, setze ich den Umriß der Bäume ein – grünen Malachit für die Blätter und Zweige und braunes Horn für den Stamm. Der Weg wird aus Horn und Stahl. Ein Mond, Lunitari, ist aus roter Koralle. Der andere, Solinari, soll aus Silber sein.«

Aber die Stimme zweifelte noch. »Das ist schön, doch sehr kompliziert. Bist du sicher, daß du das in zwei Wochen fertig hast?«

Flint nahm sich augenzwinkernd eine Handvoll getrockneter Feigen und kandierter Mandeln aus der Silberschale auf dem Tisch. Irgendwie war die Schale immer voll, wenn der Zwerg kam, doch Flint hatte sich darüber noch nie Gedanken gemacht. Er gratulierte sich nur für sein Glück, einen Freund zu haben, der die gleichen Süßigkeiten liebte wie er. »Das Schwierigste ist die Idee«, sagte der Zwerg. »Der Rest kommt dann leicht. Ist der Entwurf so gut?«

Flint wartete zuversichtlich, denn er wußte, daß die Stimme zufrieden sein würde, doch er wollte es einmal hören. »Er ist perfekt«, sagte Solostaran.

Ein Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Zwergs breit. »Gut. Dann gehe ich gleich an die Arbeit.« Er griff nach seiner Skizze.

Solostarans Stimme hielt ihn zurück. »Meister Feuerschmied. Flint.«

Der Zwerg sah seinen Freund an.

»Was reden die Leute noch so über Lord Xenoths Tod?« fragte die Stimme ruhig.

Flints Hand schwebte über dem Pergament. Dann rollte er es langsam zusammen. »Nun, du weißt, daß ich mit vielen Höflingen jetzt kaum etwas zu tun habe.« Besonders seit er nach der Tylorjagd für Tanis Partei ergriffen hatte, hätte er hinzufügen können.

»Was sagen denn die einfachen Leute?« Flint band eine Schnur um die Pergamentrolle und seufzte. »Lord Xenoth war bei vielen unbeliebt, besonders bei denen, die er als… Unterklasse ansah«, sagte er vorsichtig. »Aber vielen Elfen gefiel seine Meinung darüber, daß Qualinesti vom Rest von Krynn getrennt bleiben sollte.« Er entschied sich, direkter zu werden. »Dieselben Elfen halten nichts davon, daß ich hier bin, und sie sind auch nicht besonders begeistert davon, daß Halbelfen in der Stadt leben dürfen.«

»Fanatiker gibt es in jedem Bereich«, murmelte die Stimme. »Die Frage ist nur, wie zahlreich sie sind.«

»Das weiß ich nicht, Sir.« Solostaran lächelte schwach. »Sag ›Stimme‹ zu mir«, mahnte er. »Weißt du noch, wie ich das am Tag deiner Ankunft in Qualinost zu dir sagte?«

»Ob ich das noch weiß?« grinste der Zwerg. »Wie könnte ich das vergessen? Wem erteilt schon die Stimme der Sonne persönlich Lektionen in Hofetikette?«

Solostaran schwieg. Irgendwann ließen sein Lächeln und Flints Grinsen nach. »Viele Höflinge sind nicht glücklich, Flint. Sie sagen… sie sagen, ich würde Tanthalas schützen, weil er mein Mündel ist. Sie sagen, ich sollte ihn verbannen.«

Tanis verbannen? »Das ist absurd«, sagte Flint. »Er hat Xenoth nicht getötet. Hat Miral nicht erklärt, daß der magische Knall den zweiten Pfeil eventuell abgelenkt hat?«

»Flint«, sagte Solostaran, »ich habe in den letzten Wochen mit einer ganzen Reihe Zauberkundiger gesprochen, und alle sind der gleichen Meinung. Die Umstände, die Miral beschreibt, sind extrem unwahrscheinlich. Seine Erklärung würde heißen, daß die mächtige Magie von einem schwachen Zauberer wie Miral ›abgeprallt‹ ist und irgendwie einen kleinen Pfeil von der Bahn abgelenkt hat, der dann in der Brust eines Elfen landete. Sie sagen, daß es nicht unmöglich, aber auch nicht wahrscheinlich ist. Vor allem hätte so einen Vorfall wahrscheinlich nur ein mächtiger Zauberer überlebt. In den letzten paar Wochen bin ich von einem Kundigen zum anderen gelaufen, in der Hoffnung, ich würde einen finden, der mir bestätigt: ›Ja, so war es wahrscheinlich.‹«

Solostaran schob seinen Lederstuhl von dem massiven Tisch zurück und drehte sich zu den großen Fenstern um. »Es geht nicht, Flint. Keiner, der etwas von Zauberei versteht, würde das behaupten.« Trotz der drückenden Hitze da draußen blieb das Gebäude aus Marmor und Quarz innen kühl. Flint fröstelte.

»Was willst du tun, Stimme?«

»Was kann ich tun?« fragte Solostaran zurück. Seine verärgerte Bewegung ließ seine Staatsrobe rascheln. »Ich stecke in einer Situation, in der der beste Augenzeuge – und zwar jemand, dem ich absolut vertraue – sagt, Tanis habe nicht schlecht gezielt. Obwohl das die einfachste Erklärung wäre. Die anderen Erklärungen, die mein Mündel entlasten könnten, werden von Elfen, die es wissen sollten, für schlechthin unmöglich gehalten. Damit bleibt mir nur eine Schlußfolgerung: Was Xenoth passiert ist, konnte nicht passieren. Aber offensichtlich ist es trotzdem geschehen.«

Die Stimme lief vor der Fensterwand auf und ab. »Mein Hofstaat meint, ich müßte ›etwas tun‹, aber das, was sie wollen, ist für mich moralisch unvertretbar. Ich kann Tanthalas nicht einfach verbannen, weil ein paar bornierten Mitgliedern des Hofes seine Anwesenheit nicht paßt und sie einen Weg gefunden haben, ihn loszuwerden. Aber dennoch…« Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und ließ sich darauf fallen. »Irgendwie komme ich immer auf dieses ›Aber dennoch‹ zurück…«

Flint wollte etwas erwidern, wußte aber nicht, was. Er konnte nur versprechen, daß er darüber nachdenken und die Ohren offenhalten würde, wie die Elfen über diese Sache dachten.

Als Flint kurz darauf aus dem Sonnenturm kam, um dann langsam über die blau und weiß gepflasterten Straßen zu seinem Laden zu spazieren, wartete auf den Stufen des Turms eine vertraute Gestalt. Ein Grüppchen Kinder hatte sich bewundernd um Windsbraut versammelt, die ihre graue Schnauze hob und begeistert wieherte, als Flint näher kam. Ein zerfasertes Stück Seil hing von ihrem Geschirr herunter – sein jüngster Versuch, ihr die Flügel zu stutzen.

»Du Türknopf von einem Maultier!« meuterte der Zwerg. »Nur ein Kender könnte noch lästiger sein.« Er schnappte sich das Ende des durchgekauten Stricks und zerrte das verliebte Tier durch die Straßen.

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