5 Wettkampf mit Pfeilen

Am nächsten Morgen wartete Laurana im Hof, als Tanis mit Pfeil und Bogen ankam. Miral hatte ihm heute morgen frei gegeben, und deshalb wollte er schießen üben, bis Tyresian nichts mehr zu kritisieren hatte.

Aber nun stand da die Tochter der Stimme in einem jägergrünen Umhang und goldbestickten Schuhen. Ihre langen Haare waren offen, bis auf einen dicken Zopf an jeder Seite ihres Gesichts. Sie saß mit baumelnden Beinen auf einer Steinmauer, wodurch es ihr gelang, auf beides zu verweisen: die verführerische Frau, die sie werden würde, und das verwöhnte Kind, das sie derzeit war. Tanis stöhnte innerlich.

»Tanis!« rief sie und sprang von der Mauer. »Ich habe eine großartige Idee.«

Der Halbelf seufzte. Was sollte er mit ihr machen? Sie war erst zehn, und er war dreißig. Damit war sie praktisch noch ein Baby. Der Altersunterschied entsprach dem zwischen einem fünfjährigen und einem fünfzehnjährigen Menschen.

Er mochte das kleine Elfenmädchen, auch wenn sie etwas zu genau wußte, wie niedlich sie auf andere wirkte. »Was willst du, Laurana?«

Sie stand mit den Händen an den Hüften vor dem Halbelfen. Das Kinn hatte sie hoch erhoben, und die grünen Augen funkelten aufgeregt. »Ich finde, wir sollten heiraten.«

»Was?« Tanis ließ den Bogen fallen. Als er sich bückte, um ihn wieder aufzuheben, kitzelte ihn die Kleine und zog ihn ins Moos. Er kniete sich voller Ernst hin, stellte sie wieder auf die Beine und stand auf. »Ich glaube nicht, daß das geht, Lauralanthalasa Kanan.«

»Ach, immer wenn es Ärger gibt, benutzen alle meinen ganzen Namen«, schmollte sie. »Ich finde trotzdem, daß du mich heiraten solltest.«

Tanis konzentrierte sich auf sein verstümmeltes Ziel, aber Laurana hüpfte vor ihm im Weg herum. »Willst du, daß ich dich treffe?« wollte er wissen. »Setz dich da hin.« Er zeigte auf eine abseits stehende Bank links von sich, dieselbe, auf der gestern Lady Selena und die anderen gesessen hatten. Laurana gehorchte erstaunlicherweise.

»Warum nicht, Tanis?« zirpte sie, als er einen Pfeil abschoß, der am Ziel vorbeiging, zwei Fuß über dem Heuhaufen an die Steine klirrte und harmlos zu Boden fiel.

»Weil du noch zu klein bist.« Er legte einen neuen Pfeil auf und zielte.

Sie seufzte. »Das sagen alle.« Dieser Pfeil traf wenigstens die Heuballen, auch wenn er drei Fuß rechts vom Drachenauge einschlug. »Und wenn ich älter bin?«

»Dann bin ich vielleicht schon zu alt.«

»Du wirst nicht zu alt sein.« Sie stampfte mit dem Fuß auf, schob die Unterlippe vor, und die Tränen saßen ihr so locker wie der Schauer in einer Gewitterwolke. »Ich habe Porthios gefragt, wie lange Halbelfen leben, und er hat es mir gesagt. Wir haben viel Zeit.«

Tanis drehte sich um. »Hast du Porthios gesagt, daß du mich heiraten willst?«

Ihr Gesicht strahlte. »Selbstverständlich.«

Kein Wunder, daß der Erbe der Stimme in letzter Zeit ausgesprochen frostig gewesen war. Er wollte nicht, daß die Tochter der Stimme allen Leuten erzählte, daß sie den Halbelfenbastard aus dem Palast heiraten würde, dachte Tanis bitter. Ohne nachzudenken, ließ er den Pfeil lossausen und traf in das Leinentuch über den Ballen, nur wenige Fingerbreit vom Drachenauge entfernt. Ein weiterer Pfeil traf das Tuch zwischen dem ersten Pfeil und dem Auge.

Laurana hatte genau zugeschaut. »Ganz gut, Tanis. Wirst du mich also heiraten? Eines Tages?«

Tanis ging vor, um seine Pfeile einzusammeln. Als er zurückkam, hatte er es sich überlegt. »Klar, Laurana«, sagte er. »Eines Tages heirate ich dich.«

Sie klatschte in die Hände. »Oh, hurra!« jubelte sie. »Ich will es gleich allen sagen.« Sie rannte aus dem Hof.

Der Halbelf sah ihr nach. So ist es recht, Lauralanthalasa, dachte er, sag es nur allen. Besonders Porthios.

Später am selben Morgen – es sah immer noch nach Regen aus – traf Tanis seine »Zukünftige« wieder, als er zum Himmelssaal ging, wo er nach vier Stunden Schießübungen einen klaren Kopf gewinnen wollte. »Da bist du ja!« rief ihre dünne, atemlose Stimme und riß ihn aus seiner Konzentration. Der Halbelf sah sich überrascht um. Laurana lief quer über den Platz auf ihn zu und hatte ihr grün-goldenes Kleid bis über die Knie hochgezogen, um besser rennen zu können. Der leuchtende Stoff hob sich bunt vom grauen Mittagslicht ab.

Laurana zog sich in letzter Zeit lieber wie eine Elfenfrau an als wie ein Kind. Die weichen, gerafften Spielanzüge der Elfenkinder hatte sie abgelegt. Vielleicht entsprach ihr neuer Kleidungsstil den Vorschriften des höfischen Protokolls, doch Laurana schien sich, ehrlich gesagt, weniger um die komplizierte Etikette und das Protokoll zu kümmern als Elfen von geringerem Rang. Wahrscheinlich verliert sie ihre Natürlichkeit, wenn sie älter wird, dachte er seufzend und fühlte sich plötzlich schrecklich alt.

»Wir müssen los«, flötete sie. »Gilthanas hat gesagt, daß er ihn auf dem Weg zum Platz gesehen hat!«

»Wen?« fragte Tanis.

»Meister Feuerschmied!« erklärte Laurana, als ob das nicht klar gewesen wäre.

Tanis wand sich innerlich. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, den Kindern und dem Spielzeugmacher wieder einmal zuzusehen, aber Laurana zog kräftig an seiner Hand, und er hatte kaum eine andere Wahl, als neben ihr herzustolpern.

Tatsächlich war der Zwergenschmied da, als sie den Platz erreichten. Er war von lachenden Kindern umgeben, und Laurana verschwand sofort zwischen ihnen. Tanis seufzte und zog sich wie üblich zu den Bäumen zurück. Bald liefen die Kinder auseinander und probierten ihre neuen Spielsachen aus. Laurana war mit einem kleinen Vogel mit Papierflügeln beschäftigt, der richtig durch die Luft segeln konnte. Tanis schob die Hände in die Taschen und wollte gehen.

»Halt, Junge, stehengeblieben!« sagte eine rauhe Stimme hinter Tanis, und er zuckte erschrocken zusammen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte. »Diesmal kommst du mir nicht so einfach davon.«

Tanis fuhr herum und sah sich dem Zwerg gegenüber. Meister Feuerschmieds Augen glänzten wie polierter Stahl. Tanis wußte nicht, was er sagen sollte, deshalb schwieg er, obwohl sein Herz heftig klopfte.

»Also«, begann der Zwerg vorsichtig, »ich weiß, daß – jedenfalls für manche Leute – ein einfaches Spielzeug nicht reicht, um die Sorgen zu vergessen.« Er schaute nachdenklich zu den fröhlichen Kindern hinüber. »Ich wünschte, es wäre bei allen so einfach.« Seine Augen begegneten wieder denen von Tanis. »Aber sei es, wie es ist, ich möchte dir trotzdem das hier schenken.« Er hielt ihm ein kleines Päckchen hin, das Tanis mit unsicheren Händen annahm.

Weil er nicht wußte, was er sonst tun sollte, fummelte er an der Schnur herum. Schließlich ging der Knoten auf, und das Papier löste sich und fiel herunter. Er starrte das Ding in seiner Hand an, und seine Kehle schnürte sich zusammen. Es waren zwei perfekt geschnitzte, detailgetreue Holzfische. Jeder hing an einen dünnen Goldfaden von einem kleinen Querbalken, der über einem hölzernen Ständer schwebte, welcher wie ein steiniges Bachbett geschnitzt war.

»Hier«, sagte der Zwerg, »ich zeig dir was.« Er berührte den Querbalken sanft mit der Fingerspitze, woraufhin der sich zu drehen begann. Die Fische drehten sich rund um den Mittelständer und tanzten dabei leicht an den Fäden auf und ab. Es sah aus, als würden sie da auf Tanis’ Hand ganz frei und anmutig umherschwimmen.

»Wenn es dir peinlich ist, ein Spielzeug anzunehmen, kannst du ja ›Holzskulptur‹ dazu sagen«, schlug der Zwerg augenzwinkernd vor.

»Das ist wunderschön«, flüsterte Tanis, und über sein Gesicht huschte ein Lächeln.

Während Tanis im Hof wartete, hatte er die Fischskulptur auf eine Steinmauer an der Seite gestellt. Schließlich kam Tyresian, wieder mit Selena, Ulthen und Litanas im Schlepptau. Porthios trat etwas später durch die Tür. Genau in diesem Moment fiel der erste Regentropfen auf einen der Wege, die den Hof durchzogen, und Tyresian, der eine knielange Tunika von sturmgrauer Farbe trug, blickte irritiert zum bleiernen Himmel.

»Ich finde, wir sollten die heutige Stunde lieber absagen«, sagte der Elfenlord, doch seine Gefährten – außer Porthios – stöhnten. Der Erbe der Stimme musterte die Gruppe nur ungerührt. Er hatte die hellen Augenbrauen zu seinem typischen Stirnrunzeln zusammengezogen.

»Und womit sollen wir uns dann unterhalten?« hörte Tanis Litanas murmeln, und Selena schlug trillernd eine Hand vor den Mund. Tanis krümmte sich innerlich.

Aber er hatte nicht fast den ganzen Vormittag damit verbracht, Pfeile in Heuballen zu schießen, um sich jetzt abschieben zu lassen. Er legte einen Pfeil auf und visierte sein Ziel an. Sein Tonfall war absichtlich sanft. »Ich halte ein bißchen Wasser schon aus, Lord Tyresian. Wenn es Euch allerdings stört, dürft Ihr Euch gern nach drinnen zurückziehen. Vielleicht zündet Euch ein Diener ein Feuer an. Was mich betrifft, ich bleibe.«

Der kurzhaarige Elf errötete vom eckigen Kinn bis zum Haaransatz. »Wir machen weiter«, erklärte er ohne Umschweife.

Der Regen hielt sich zurück, während Tanis Pfeil um Pfeil auf das Ziel abschoß, wobei erst blaue, dann rote Federn aufschimmerten, während sie über den Hof flogen. Ein paar Pfeile prallten gegen die Mauer, aber er traf den Heustapel immer zuverlässiger. Alle vier oder fünf Male traf er sogar die runde Zielscheibe – aber nie das Drachenauge in der Mitte. Tyresian leierte seine übliche Kritik herunter. »Halt die Schulter still. Nimm den Ellbogen zurück! Du schießt wie ein Gossenzwerg, Halbelf. Laß beide Augen offen. Du willst doch feststellen können, wie weit das Ziel entfernt ist, oder?«

Tanis lief in der drückenden Luft der Schweiß über das Gesicht, doch schließlich traf ein Pfeil nur zwei Fingerbreit neben dem Drachenauge. Triumphierend drehte er sich zu Tyresian und der plappernden Zuschauerschar um. Selena, die dunkle Ringe unter ihren Veilchenaugen hatte, schmiegte sich eng an Ulthen an. Sie kicherte nur noch haltlos. Ulthens halblanges, hellbraunes Haar streifte ihre Schulter, als er versuchte, ihr die Hand vor den Mund zu legen, um ihr Lachen zu ersticken. Litanas kniff die Augen zusammen, als er höhnisch lachte. Lord Xenoth hingegen, der Berater der Stimme, stand mit unbewegtem Gesicht in der Tür. Porthios stand an der Seite, schien aber wenig beeindruckt. Er nahm Flints Spielzeug in die Hand und spielte gedankenverloren mit dem Querbalken, wodurch die Fische herumwirbelten.

»Da!« schrie Tanis verzweifelt. »Und was ist das? Das ist fast das Drachenauge!« Zu seinem Entsetzen merkte er, daß er gegen Tränen ankämpfte. Wenn ich jetzt heule, sagte er sich, kann ich gleich nach Kargod ziehen.

Porthios stellte die Fische auf eine leere Bank und kam her, um Tanis’ glatten Eschenbogen zu nehmen. In seinem Gesicht kämpfte der Stolz gegen Verlegenheit, und einen Augenblick lang dachte Tanis, sein Vetter wäre durch die Wendung der Dinge beschämt.

»Da.« Die Stimme des Elfenlords klang etwas heiser.

Scheinbar anstrengungslos schwang Porthios den Langbogen hoch und traf mit seinem Pfeil das Ziel. Dabei spaltete er Tanis’ Pfeil mit der stählernen Pfeilspitze, die laut zwischen Holz und Leinen aufkam. Wortlos gab er dem Halbelfen den Bogen zurück und wollte zu der Flügeltür gehen. Wieder sah Tanis einen Moment lang das Unbehagen in Porthios’ tiefliegenden Augen.

»Aber du hast auch nicht besser getroffen als ich!« erhob Tanis Einspruch, woraufhin Porthios sich umdrehte. Die beiden wurden von mehreren Regentropfen getroffen. Tanis hörte, wie Selena Litanas hineinschickte, um ihr Ölzeug zu holen. Auf der anderen Seite nieste Tyresian.

Mit dem Rücken zu den Zuschauern griff Porthios Tanis an den Oberarm. »Ich habe auf deinen Pfeil gezielt, kleiner Vetter, nicht auf das Drachenauge«, sagte er leise. Aus seinen grünen Augen, die so sehr denen der Stimme ähnelten, blitzte eine Warnung.

»Das sagst du jetzt!« schimpfte Tanis laut und wütend. Er merkte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ein Regentropfen traf Porthios auf den Kopf und glättete eine Locke des dunkelblonden Haars. »Ich sage, du hast das Drachenauge verfehlt!«

Er spürte mehr, als daß er es sah, wie Tyresian neben ihm auftauchte, und hörte den Elfenlord mit glatter Stimme sagen: »Das klingt nach einer Herausforderung, Mylord. Wollen wir doch mal sehen, wie unser hitzköpfiger Freund Halbmensch sich gegen Euch hält, Porthios.«

Das Mitgefühl auf Porthios’ Gesicht verflog. »Du forderst mich heraus?« fragte er leise.

Alle Augen ruhten auf ihm. Tanis entschied sich schnell. »Das tue ich!«

»Das ist aber nicht fair, Lord Porthios!« rief Ulthen von der Bank herüber. »Der Halbelf hat gerade erst mit dem Unterricht angefangen. Ihr habt schon einen gewissen Vorteil.«

»Ich kann besser schießen als du, Porthios!« schrie Tanis leichtsinnig.

Porthios musterte Tanis genau. Dann kam er näher. »Mach das nicht, Tanis«, murmelte er. »Zwing mich nicht dazu.«

Aber der Halbelf kochte bereits vor Wut. »Ich kann dich unter allen Umständen schlagen, Porthios!« erklärte er. Ein stetiger Nieselregen machte jetzt das Pflaster des Hofs naß. »Sag du die Bedingungen.«

Porthios seufzte und betrachtete das Moos zu seinen Füßen.

»Vier Pfeile nacheinander«, sagte er schließlich. »Wir nehmen deinen Bogen, Tanis.«

Diener eilten herbei und brachten kleine Pavillons, deren gestreiftes Tuch die jungen Adligen in ihren Seidenkleidern vor der Nässe schützten. Lord Xenoth verschwand und kehrte mit einem Umhang mit Kapuze zurück.

Tyresian ernannte sich selbst zum Schiedsrichter, und da seine Haare inzwischen sowieso an seinem kantigen Schädel klebten und es ihm in dem stetigen Regen schon von den spitzen Ohren tropfte, stellte er sich zwischen Porthios und Tanis auf. »Porthios Kanan nennt folgende Bedingungen: Tanis, der Halbelf, schießt viermal zuerst.« Seine militärische Stimme hallte von den nassen Steinwänden zurück. »Ein Drachenauge bringt zehn Punkte. Jeder andere Treffer auf die runde Zielscheibe fünf Punkte. Ein Treffer auf die Heuballen außerhalb der Zielscheibe bringt zwei Punkte. Das Heu völlig zu verfehlen«, er grinste gemein, »kostet den Schützen zehn Punkte.« Er hustete. »Wenn sich einer der beiden Schützen in diesem verwünschten Wetter eine Lungenentzündung holt, kostet das fünfzig Punkte, aber wir hoffen alle, daß es nicht dazu kommt.« Litanas, der inzwischen mit zwei Mänteln zurück war, applaudierte dem Scherz. »Rote Pfeile für Porthios, blaue für Tanis. Laßt die Kämpfer beginnen.«

Der Regen wurde stärker. Hin und wieder fiel ein Büschel Lorbeerblätter auf den Boden und blieb dann liegen, als hätte ein wütender Himmelsgott mit einem Stück Wald um sich geworfen. Tanis stellte sich auf und zielte durch die Regenfäden. Die Zuschauer hinter ihm wurden still, auch wenn ihr Schweigen wohl mehr mit dem Wetter zu tun hatte als mit Höflichkeit. Ulthen und Litanas sahen aus wie Meerelfen. Ihre Hosen waren bis zu den Knien naß. Selena, die den besten Platz in dem gelb-weißen Zelt gewählt hatte, war es besser ergangen.

Fast ohne nachzudenken, ließ Tanis den Pfeil losschnellen. Er vibrierte etwas, traf eine Leinenfalte rechts vom Ziel und blieb dort stecken. Ein heller, blauer Fleck vor dem graubraunen Hintergrund.

»Zwei Punkte für den Halbelfen!« rief Tyresian. »Als nächster kommt Porthios.«

Der Erbe der Stimme nahm den Langbogen von Tanis mit resignierter Miene entgegen. »Denk dran, Tanis. Ich habe das nicht gewollt.« Tanis begegnete seinem Blick unbewegt, als hätten sie sich nie gekannt.

Porthios legte einen Pfeil auf, zog den Arm zurück – und Tanis gefror vor Demütigung.

Porthios war Rechtshänder. Aber in diesem Kampf hielt er den Bogen auf der anderen Seite und spannte ihn mit dem schwächeren Arm. Tanis merkte, wie sein Gesicht erst blaß, dann rot wurde. Mit dem schwächeren Arm zu schießen, das war, als würde Porthios sagen, er könnte den Halbelfen mühelos besiegen. Er schien kaum zu zielen, bevor der rot gefiederte Pfeil fest im Drachenauge steckte.

»Zehn Punkte für den reinblütigen Elfen!« verkündete Tyresian.

Die nächste Runde erbrachte das gleiche Ergebnis, so daß es für Porthios und Tanis zwanzig zu vier stand.

»Es ist noch nicht zu spät zum Aufgeben«, sagte Porthios leise, als er Tanis nach dem zweiten Drachenauge den Bogen zurückgab. Inzwischen waren Porthios’ Freunde still. »Wir könnten die ganze Farce wegen des Regens abbrechen.«

Seine Worte trafen ebenso wie der Regenguß, der auf das Moos um die beiden Gegner prasselte. Selbst Tyresian war zu einem Pavillon gegangen. Nur die beiden Widersacher waren in dem Unwetter geblieben. Der Halbelf trat wieder an die Linie.

In der dritten Runde zischte Tanis’ Pfeil durch den Regen auf die Zielscheibe zu – und daran vorbei, wobei er ein Stück Stein aus der Mauer dahinter schlug.

»Minus zehn!« verkündete Tyresian. »Der Punktestand lautet: Tanthalas Halbelf, minus sechs auf drei. Porthios, zwanzig auf zwei.«

Porthios seufzte, und seine Handbewegung signalisierte, daß er den Wettkampf viel lieber abbrechen würde. »Na los«, sagte Tanis. »Schieß.«

Porthios schoß immer noch mit der linken Hand und nahm sich diesmal noch weniger Zeit. Sein Pfeil beschrieb einen hohen Bogen und traf das Ziel eine Handbreit von der Mitte entfernt. Er schien Tyresians Ruf kaum zu hören: »Fünf Punkte. Jetzt steht es minus sechs für den Halbelfen zu fünfundzwanzig für Porthios.«

»Du kannst überhaupt nicht mehr gewinnen«, drängte Porthios. »Laß uns doch aufhören.«

Tanis merkte, wie sein Kiefer hart wurde, und Porthios sah beiseite, als der Halbelf noch exakter zielte als bisher, sich genau auf das konzentrierte, was er tat und sich einen erfolgreichen Treffer ins Drachenauge vorstellte. Tanis schloß die Augen und forderte die Götter auf, ihm diesmal beizustehen. Er dachte an die verächtlichen Blicke von Xenoth, Selena und dem Rest und fühlte den Ärger in sich aufbrodeln. Da kniff er die Augen gegen den Regen zusammen, zielte genau und ließ den Pfeil lossausen.

Das Geschoß mit den kobaltblauen Federn beschrieb einen leichten Bogen, und Tanis sank das Herz.

Dann senkte er sich wieder und traf sauber ins Drachenauge.

»Zehn Punkte! Damit steht es bei plus vier für Tanis gegen fünfundzwanzig für Porthios.«

Porthios lehnte ab, als Tanis ihm den Bogen hinhielt. »Laß es gut sein, Halbelf. Es ist ein neuer Sport für dich. Laß es gut sein.«

Einen Augenblick lang hatte Tanis fast dem Mitgefühl nachgegeben, das wieder in Porthios’ grünen Augen aufkeimte. Plötzlich war er sich schmerzhaft seiner Umgebung bewußt – der nasse Pflanzengeruch des feuchten Mooses, der Duft der Äpfel, die unter einem nahen Baum lagen, das leise Tschilpen eines Sperlings, der sich in einem Busch vor dem Sturm versteckt hatte.

Dann meldete sich Tyresian zu Wort. »Vielleicht hätten wir eine ›menschlichere‹ Sportart als den Bogen wählen sollen, Halbelf.« Tanis merkte, wie der Zorn wieder in ihm hochstieg.

»Schieß, Porthios«, fauchte er. »Oder gib dich geschlagen.«

Porthios war die Scharade offensichtlich leid. Er erhob die Arme und sah nur mit halbem Auge zum Ziel, als er tat, was Tanis verlangte. Der Pfeil ging mehr als zehn Schritte am Ziel vorbei.

»Endstand: Porthios ist Sieger mit fünfzehn Punkten. Vier Punkte insgesamt für den Halbmenschen, der sein Können in einem Elfensport beweisen wollte«, konstatierte Tyresian. Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging in Richtung Palast.

Selbst Selena und Litanas verschlug es bei dem Gift in Tyresians Worten die Sprache, aber sie folgten Tyresian zu den Stahltüren, die matt durch den grauen Regenguß schimmerten. Nur Ulthen erhob Einspruch. »Unfair, Lord Tyresian«, beschwerte er sich. »Er hat sein Bestes gegeben.«

Tyresians Antwort kam prompt. »Und das hat nicht gereicht, oder?«

Während der Hof sich leerte, stand Porthios unsicher vor Tanis, anscheinend ohne das Unwetter wahrzunehmen, das die Zweige der Bäume wie Schilfgras bog. So etwas wie Scham zeichnete sich auf dem Raubvogelgesicht des Elfenlords ab. »Tanis, ich…«, sagte er, ohne weiterzureden.

Tanis sagte kein Wort, sondern bückte sich bloß betont nach seinem weggeworfenen Bogen. Dann lief er zur Mauer, um die blauen und roten Pfeile wiederzuholen, deren Federn von dem Schlamm verschmutzt waren, der sich zwischen den Moospolstern bildete.

»Tanis«, wiederholte Porthios, und sein Gesicht verriet auf einmal die Charakterstärke, die er als Stimme besitzen würde, wenn er sie nur wachsen ließ.

»Ich fordere Revanche«, unterbrach ihn Tanis.

Porthios klappte der Unterkiefer herunter, und seine Oberlippe verzog sich, als würde er seinen Ohren nicht trauen. »Bist du verrückt, Tanthalas? Du bist erst dreißig, und ich achtzig. Diese Farce war mir jetzt schon peinlich genug. Um Himmels willen, würdest du dich denn mit Laurana messen wollen? Und dieser Witz hier ist für mich nichts anderes.«

Tanis verstand Porthios absichtlich falsch. »Für dich ist es vielleicht witzig, Porthios. Mir ist es todernst. Ich fordere Revanche.«

Porthios ließ resignierend die Schultern hängen. »Es regnet, Tanis. Ich will nicht noch einmal mit dir um die Wette schießen…«

»Keine Bogen«, beharrte der Halbelf. »Fäuste.«

»Wie?« fauchte der Elfenlord. Tanis konnte die Gedanken seines Vetters fast hören: Was für eine menschliche Methode, einen Streit zu entscheiden.

Alle Zuschauer bis auf Lord Xenoth waren reingelaufen, um sich trockene Kleider und Glühwein zu holen. Xenoth jedoch hing bei der Tür herum. Möglicherweise interessierte ihn der scharfe Tonfall ihrer Stimmen. Mit seinem widerspenstigen, weißen Haar, den geschürzten Lippen und der Silberrobe wirkte der alte Berater, wenn er so die Hände vor der Brust faltete, wie eine alte Angorakatze, der schon ein paar Zähne fehlen, die aber immer noch neugierig ist.

Schön, dachte Tanis. Du willst der Stimme etwas erzählen? Das sollte reichen.

Und er schlug Porthios ins Gesicht.

Eine Sekunde später lag der Erbe der Stimme lang auf dem Rücken im Matsch. Auf Porthios Gesicht erschien ein verblüffter und entsetzter Ausdruck, der unter anderen Umständen komisch gewesen wäre. Der Regen wusch die Farben seiner langen Seidentunika aus, so daß kleine gelbe, grüne und blaue Bäche über die Arme des Elfenlords rannen. Er sah aus, als wäre er wirklich gelb vor Überraschung, und Tanis fing schallend an zu lachen.

… und fand sich selbst an einem kleinen Pfirsichbaum wieder. Es war, als hätte man ihn kopfüber in ein gewaltiges Stachelschwein aus dem Düsterwald geworfen. Die Zweige zerkratzten ihm das Gesicht, er hörte kleine Äste brechen und fühlte, wie Früchte auf ihn plumpsten, weil er sie losschlug. Der Geruch zermanschter Pfirsiche stieg ihm in die Nase.

Der Kampf hatte begonnen. Porthios verteidigte sich nur, während Tanis die reine Wut vorantrieb. Der ältere, schnellere Porthios konnte Tanis austricksen. Aber das Menschenblut des Halbelfen verlieh Tanis eine Kraft, die dem schlanken Elfenlord fehlte. Obwohl Porthios den Halbelfen anfangs im Griff hatte, merkte Tanis daher bald, daß sich das Kampfglück ihm zuwandte.

»Kinder! Kinder!« Die neue Stimme durchdrang den Nebel der Wut, der Tanis’ Gehirn durchzog. Das kochende Blut in Tanis’ Ohren beruhigte sich einen Moment lang, und der Halbelf sah hinüber zu Lord Xenoth. Der alte Ratgeber hüpfte hysterisch zwischen Porthios und Tanis herum. Keiner der drei achtete mehr auf den Regen, der sie weiterhin durchnäßte. Porthios’ Tunika hatte eine häßliche, grünlichgelbe Farbe angenommen und war vorne vom Schlüsselbein bis zum Bauch aufgerissen. Aus dem Mund des Elfenlords lief etwas Blut, und ein Auge begann zu schwellen. Xenoths Mantel war mit Matsch bespritzt. Tanis sah an seinen eigenen Kleidern hinunter. Ein matschverklumpter Mokassin lag an der einen Bank, die helle Farbe seiner Hose war unter einem Mantel aus Schlamm verschwunden, und der Bogen – die Waffe, mit der das alles angefangen hatte – lag zerbrochen zu seinen Füßen. Trotz der Blutflecken auf seinem Hemd hatte er jedoch offenbar nur kleinere Beulen und Kratzer davongetragen.

Dann stockte Tanis der Atem. Auf dem Granitweg entdeckte er Flints Spielzeug. Es war zerbrochen.

Während der keuchende Ratgeber Porthios in den Palast half – wobei er kreischte: »Du wirst noch davon hören, Halbelf!« –, fiel Tanis auf die Knie und sammelte zärtlich die Einzelteile des Spielzeugs auf. Ein Fisch war heil geblieben, aber die dünne Kette, die ihn an dem Querbalken befestigt hatte, war gerissen. Der Querbalken selbst fehlte. Und der Ständer – die Nachbildung eines steinigen Flußbetts – war mitten entzweigebrochen. Er sammelte die Stücke zusammen, fand dann noch den Querbalken in einer Pfütze fünf Schritte weiter und wickelte alles in den Vorderzipfel seines Hemds.

Tanis sah auf. Die Tür war hinter Xenoth und Porthios zugefallen, und er stand allein in dem grauen Hof.

Es schüttete immer noch vom Himmel.

Die Stimme der Sonne marschierte eilig den Korridor entlang, wobei sich der waldgrüne Mantel wie eine bizarre Sturmwolke hinter Solostaran aufblähte und der goldene Saum wie ein Blitz zuckte. Doch es war das Funkeln seiner Augen, bei dem die erschrockenen Diener und Höflinge rasch auswichen, wenn er auf seinem Weg zu den Gemächern der Familie im Palast an ihnen vorbeikam. Alle wußten aus Erfahrung, daß einiges dazu gehörte, die Stimme wütend zu machen, aber Gnade den Unglückseligen, die ihm im Weg standen, wenn er wirklich einmal zornig war.

»Tanis!« rief er streng, als er die Tür zum Schlafzimmer des Halbelfen aufstieß. »Tanthalas!«

Das Zimmer wurde nicht von einer Lampe erleuchtet, doch im roten Licht von Lunitari, das durch ein Fenster hereinströmte, sah er, wie sich eine Gestalt auf dem Bett regte.

»Tanthalas«, wiederholte Solostaran.

Die Gestalt setzte sich auf. »Ja«, ertönte es bleiern – flach, schwer, unbewegt.

Die Stimme schlug Feuer und zündete eine kleine Lampe an. Er sah zu der zusammengesunkenen Gestalt auf dem Bett und hielt die Luft an.

Auf der blassen Haut von Tanis’ Gesicht und Armen zeichneten sich Blutergüsse und Schorfkrusten ab. Tanis verlagerte sein Gewicht, atmete rasch ein, hielt sich die Seite und richtete sich dann mit einem Ruck auf.

Mit den Jahren hatte Solostaran es gelernt, seine Gefühle hinter der kühlen Maske zu verbergen, die er bei Hof präsentierte. Dieses Training kam ihm jetzt zugute, als er sah, wie sein adoptierter Neffe, den er so liebte, um einen gleichgültigen Ausdruck kämpfte – als würden Beulen und Schrammen zum Alltag gehören.

Die Stimme blieb stehen und sagte kalt: »Um fair zu sein, teile ich dir mit, daß Porthios jede Erklärung zu dem Vorfall verweigert. Und anscheinend hat er alle anderen da draußen – erstaunlicherweise selbst Lord Xenoth – so eingeschüchtert oder beschwatzt, daß auch sie Stillschweigen bewahren. Kannst du mir vielleicht verraten, was sich heute im Hof abgespielt hat?«

Die Gestalt auf dem Bett blieb stumm. Dann blickte Tanis auf seinen Schoß und schüttelte den Kopf.

Die Stimme fuhr ungerührt fort. »Irgendwie überrascht mich dein Schweigen nicht, Tanthalas. Und ich werde dich nicht zum Reden zwingen – falls ich das überhaupt könnte. Das scheint etwas zu sein, was ihr zwei unter euch ausmachen müßt. Aber ich will dir eines sagen.« Er brach ab. »Hörst du mir zu?«

Die Gestalt nickte, sah aber nicht auf.

Die Stimme sprach weiter. »Gut. Dann laß mich dir eines sagen: So etwas kommt mir nicht noch einmal vor. Hast du verstanden? Ich werde es nicht dulden, daß mein Sohn und mein… Neffe sich im Dreck wälzen wie… wie…«

»Wie Menschen«, beendete Tanis leise den Satz. Die Worte hingen in der Nachtluft.

Solostaran seufzte und suchte nach einem anderen Weg, es auszudrücken. Dann beschloß er, daß Direktheit vielleicht das Beste war. »Ja, wenn du so willst. Wie Menschen.«

Die Gestalt auf dem Bett wartete noch ein paar Sekunden ab, und nickte dann wieder. Solostaran kam näher. Tanis hatte etwas in der Hand. Einen geschnitzten Holzfisch? Der Stimme kam ein schlimmer Verdacht.

»Jetzt sag bloß, ein kaputtes Spielzeug war an allem schuld«, meinte er.

Als Tanis nicht antwortete, seufzte Solostaran und wandte sich zum Gehen. »Ich werde Miral herschicken, damit er dich einsalbt. Schlaf ein bißchen.« Sein Ton wurde freundlicher. »Soll ich dir irgend etwas oder irgend jemand holen lassen, Tanthalas?«

Tanis flüsterte die Antwort kaum hörbar, und die Stimme konnte die Worte kaum verstehen.

»Flint Feuerschmied.«

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