7 Auberdine

Broll landete gerade außerhalb der Sichtweite von Auberdine. Er war bereits ungeduldig und wollte sich auf den Weiterweg machen. Obwohl sie offiziell zum Reich der Nachtelfen gehörte, mied sein Volk die Region, die nach dem merkwürdigen Nebel, der oft alles bedeckte, Dunkelküste genannt wurde. Es hatte Versuche gegeben, das Land zu besiedeln – einige davon nicht von seinem Volk -, doch alle waren fehlgeschlagen. Ruinen waren über die Wildnis verteilt, viele von ihnen beherbergten nun Gefahren für Reisende, die das Gebiet freiwillig oder gezwungenermaßen durchquerten.

Auberdine war die einzige Festung weit und breit, wenn man sie denn so nennen konnte. Es war ein düsterer Ort, und das meinten nicht nur die Nachtelfen. Selbst Menschen und Zwerge fanden ihn finster. Er schien immer von Sturmwolken gekrönt zu sein, und es wehte ein kühler Wind, der jedem durch die Seele schnitt. Auberdine war der Notwendigkeit geschuldet, dass Darnassus einen Ort auf dem benachbarten Festland brauchte, an dem es mit der Außenwelt Handel treiben konnte.

Die Bewohner der Hauptstadt schauten für gewöhnlich auf die Einwohner dieser Stadt herab. Ein Fehler, den Broll gelegentlich auch selbst beging. Auberdine wurde von Ausgestoßenen und Außenseitern bewohnt. Es gab zwar auch eine Wachgarnison und sogar einige Druiden. Doch sie hielten sich, soweit es möglich war, von den Einheimischen fern.

Broll fluchte, als er den Fuß schüttelte. In seiner Gestalt als Sturmkrähe wurden seine Arme zu Flügeln und seine Füße zu Krallen. Unglücklicherweise hatten einige der Knospen auf den Krallen gesessen, weshalb das Götzenbild jetzt an seinem Fuß klebte.

Broll holte verschiedene Kräuter aus einem Beutel an der Hüfte und verteilte sie über den Saft. Wie Schnee in der Sonne wurde der getrocknete Saft schließlich weich, dann schmolz er weg. Das Götzenbild von Remulos fiel unrühmlich zu Boden.

Broll hob es auf und blickte nach vorn. Der Pfad war dunkel, und obwohl das den Nachtelfen nicht sonderlich störte, fragte er sich, warum es, trotz des Nebels, keine Lichter am Horizont gab. Er konnte sich nicht erinnern, irgendein Leuchten während seiner Landung bemerkt zu haben. Auberdine hätte hell genug leuchten müssen, um von seinem Standort aus gesehen werden zu können. Und wenn das Licht auch nur von den anderen Völkern stammte, die die Siedlung regelmäßig besuchten.

Grunzend stapfte er weiter. Er hätte näher bei der Stadt landen können. Doch er wollte nicht mehr Aufmerksamkeit erregen als nötig war.

Broll versteckte das Götzenbild in seinem Umhang und bewegte sich schneller. Er hoffte, dass Fandral den Diebstahl noch eine Zeit lang nicht bemerken würde. Der Erzdruide hatte keinen Grund, nach der Figur zu schauen... doch Broll traute seinem Glück nicht.

Als er den Gipfel des Hügels erreichte, wurde der Druide vorsichtiger. Er konnte immer noch keine Beleuchtung in Auberdine erkennen, und aus dieser Nähe hätte der Nebel die Sicht nicht dermaßen stark einschränken dürfen.

Eine Vorahnung auf Schreckliches stieg in ihm auf. Broll überdachte seine frühere Entscheidung, nicht direkt zur Stadt zu fliegen. Er holte das Götzenbild wieder heraus und stellte es neben seinen Fuß.

Doch als er die Arme hob, erkannte er, dass er nicht allein war. Das Flattern von Flügeln ließ ihn augenblicklich an Fandral denken, der vielleicht schon Jagd auf den fehlgeleiteten Druiden machte. Aber was Broll am Himmel entdeckte, war keine Sturmkrähe, sondern die verschwommene Gestalt eines Hippogryphs.

Auf dem Tier saß ein Reiter. Obwohl er ihn nicht erkennen konnte, musste das Shandris Mondfeder sein.

Die Priesterin flog sehr niedrig, gerade über den Baumspitzen. Dann verschwand sie aus seiner Sicht, bevor er ihr ein Zeichen geben konnte. Broll bezweifelte, dass Shandris direkt in Auberdine landen würde. Wie er selbst würde sie einen Platz kurz hinter der Stadt wählen. Sie waren beide übervorsichtig, doch es war ein Wesenszug, der Broll bislang stets zum Vorteil gereicht hatte, und zweifelsfrei dachte die Generalin genauso... Vor allem, wenn man das merkwürdige Fehlen allen Lichtes bedachte.

Broll beendete schnell seine Verwandlung, dann griff er sich die Figur und stieg in die Lüfte auf. Wie der Reiter des Hippogryphen blieb er dicht über den Baumspitzen. Der Druide verfolgte den Weg des anderen, so gut er konnte. Doch er vermochte Shandris nirgendwo zu entdecken. Das bedeutete wahrscheinlich, dass sie bereits gelandet war.

Auberdine war nicht mehr weit entfernt. Die tief liegenden, hölzernen Gebäude erhoben sich wie nebelverhangene Grüfte vor ihm. Zumindest die Brücken und Pfade hätten beleuchtet sein müssen. Doch alles, was Broll sehen konnte, waren die bogenförmigen Umrisse von ein paar Gebäuden.

Was ist in Auberdine geschehen? Keiner der Druiden auf der Versammlung hatte irgendetwas Böses erwähnt. Und sicherlich waren doch ein paar von ihnen durch oder zumindest über diese Region gereist. Wenn hier etwas geschehen war, dann also während der letzten zwei Tage.

Der Druide landete. Er nahm wieder seine normale Gestalt an, versteckte aber das Götzenbild. Dann näherte er sich den Randbereichen der Stadt. Eine tödliche Stille war alles, was Broll empfing. In den Wäldern fehlten die Schreie der nächtlichen Kreaturen, nicht einmal Insekten waren zu hören.

Broll berührte eine Eiche, hoffte, dadurch etwas zu erfahren. Dabei entdeckte er etwas Beunruhigendes. Der Baum schlief, und nicht einmal das Anstoßen des Druiden konnte ihn aufwecken. Er ging zu einem zweiten Baum, dieses Mal eine Esche, und stellte fest, dass es hier dasselbe war.

Beunruhigt entschied sich Broll schließlich, die nebelverhangene Stadt selbst zu betreten. Kurioserweise verdichtete sich der Nebel, als er eintrat. Selbst der scharfe Blick des Druiden konnte den Schleier nur ein paar Zentimeter weit durchdringen.

Der Druide schnüffelte in der Luft. Zu seiner Erleichterung roch er kein verwesendes Fleisch. Er hatte befürchtet, dass irgendeine Katastrophe – Seuche oder Angriff- die Bevölkerung dahingerafft haben könnte. Doch schien das nicht der Fall zu sein. Die Feuchtigkeit von Auberdines Luft, die zum großen Teil von der nahe gelegenen See stammte, hätte tote Körper schnell verwesen lassen. Mehrere hundert Leichen hätten einigen Gestank verursacht.

Die Bauweise der Häuser in Auberdine zeigte die typischen geschwungenen Bögen der Nachtelfen und hätte Broll eigentlich Trost spenden sollen. Doch in dem Nebel wirkten die Gebäude, als wären sie aus Knochen gefertigt. Broll berührte sie sogar, um sicherzugehen, dass nicht eine schreckliche Metamorphose stattgefunden hatte. Doch das Holz war nur Holz...

Etwas näherte sich. Das Geräusch war nur kurz aufgeklungen und wiederholte sich nicht. Doch Broll hatte es gehört. Mit blitzschnellen Reflexen, die er als Druide beherrschte und die er durch lange Jahre des Kampfes noch verfeinert hatte, tauchte er augenblicklich in die Deckung eines der Gebäude ein. Er glaubte nicht, dass der andere ihn gehört hatte, was dem Druiden einen Vorteil verschaffte.

Ein kurzes Grunzen entschlüpfte dem Nebel. Es war kein Geräusch, das von einem Nachtelfen ausgestoßen worden war oder jemandem aus einem ähnlichen Volk. Das Geräusch stammte von einem Tier. Etwas sehr Großes strich durch Auberdines Straßen.

Broll griff in seinen Beutel und holte ein Pulver hervor, das seine Finger reizte. Er ignorierte die Schmerzen und schaute um die Ecke.

Eine große Gestalt näherte sich seiner Position. Was auch immer das für eine Bestie war, sie hatte ihn schließlich gewittert.

Broll warf das Pulver auf das Tier.

Die Bestie stieß ein wütendes Krächzen aus und sprang hoch. Broll duckte sich und hoffte, dass die Kreatur nicht auf ihn springen würde. Doch sie landete nicht einmal auf dem Weg hinter ihm. Stattdessen schoss das Tier himmelwärts und sprang auf eines der nahe gelegenen Gebäude. Dort hockte es sich hin und begann zu niesen und zu fauchen.

Zur gleichen Zeit fraß ein silbernes Licht den Nebel auf, der Broll umgab. Der Nachtelf wirbelte nach rechts herum.

Das Licht kam von oben. Im Glänze stand eine Priesterin der Elune. Broll wollte sie gerade auffordern, das grelle Licht einzudämmen, als er erkannte, wer da näher kam.

„Mylady... Hohepriesterin! Was macht Ihr denn hier?“

„Euch treffen, auch wenn ich das eigentlich so nicht geplant hatte.“ Ihre Augen wanderten von einer schattigen Ecke zur nächsten, als erwartete sie, unerwünschte Besucher zu entdecken.

Der Druide starrte sie mit offenem Mund an. „Ihr selbst habt mir gesagt, dass ich mich hier mit Shandris treffen würde. Ich hatte sie erwartet...“

„Das gilt auch für sie. Doch es ist einfach meine Mission... und je länger ich an diesem Ort bin, desto mehr weiß ich, dass meine Entscheidung richtig war. Wenn ich Euch verraten hätte, dass ich selber komme, hättet Ihr vielleicht abgelehnt. Und das durfte ich nicht zulassen.“

„Hohepriesterin, Ihr solltet nicht hier sein! Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht in Auberdine...“

Sie nickte ernst. „Kommt mit mir, und Ihr werdet sehen, was das genau ist.“

Über ihnen krächzte das Reittier wütend – ihr Hippogryph, wie Broll vermutete. Tyrande flüsterte ihm etwas zu. Der Hippogryph sank widerstrebend tiefer und landete nah seiner Reiterin. Eines seiner unheilvollen Augen war auf den Druiden gerichtet.

„Was habt Ihr mit Jai gemacht?“, fragte sie ruhig. Dabei strich sie mit der Hand über seinen Schnabel.

„Es war ein beißendes Kraut...“

Die Hohepriesterin lächelte. „Ihr hattet Glück, wage ich mal zu behaupten. Wenn Ihr etwas anderes versucht hättet, wäre Jai nicht vor Euch weggeflogen, sondern durch Euch hindurch. Er wusste natürlich, dass ich, wenn möglich, einen Gefangenen machen wollte. Einen lebendigen.“

Als Tyrande weiterhin mit der Hand über das Gesicht des Tieres strich, sagte Broll: „Die Wirkung der Kräuter wird in ein paar Augenblicken verfliegen.“

„Wir haben nicht mal Zeit dafür.“ Ein schwaches Leuchten strömte aus ihrer Hand zu den Augen des Hippogryphs. Jai schüttelte den Kopf, dann wirkte er schon glücklicher. Zufrieden nickend blickte die Hohepriesterin wieder zu dem Druiden. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt ernster denn je. „Kommt mit mir. Ich muss Euch etwas zeigen.“

Mit dem Hippogryphen im Schlepp führte Tyrande Broll zu den nächstgelegenen Häusern. Sie schockierte den Druiden, als sie ohne zu zögern ein Gebäude betrat. Es war ein Zeichen, dass die Dinge bereits schlimmer standen, als er gedacht hatte. Er hatte eine böse Vorahnung, was sie drinnen Schreckliches vorfinden würden.

Das Haus wirkte wie ein typisches Heim von Nachtelfen. Der Nebel, der Auberdine bedeckte, durchdrang auch dieses Gebäude und verstärkte das Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe.

Jai, der zu groß war, um durch den Eingang zu passen, lugte unruhig hinein. Broll sah, wie Tyrande in die Schlafquartiere blickte. Sie trat zurück und forderte Broll mit einer Geste auf, selbst hineinzuschauen.

Vorsichtig folgte der Druide ihrem Wunsch. Seine Augen weiteten sich angesichts des Anblicks drinnen.

Zwei Nachtelfen – ein Mann und eine Frau – lagen auf gewebten Matten. Der Arm der Frau lag über der Brust des Mannes. Beide waren völlig reglos, was Broll das Schlimmste befürchten ließ.

„Es ist genauso wie überall, wo ich nachgesehen habe“, bemerkte seine Begleiterin ernst.

Der Druide wollte zu dem Paar eilen, doch aus Respekt hielt er Abstand. „Wisst Ihr, wie sie gestorben sind?“

„Sie sind nicht tot.“

Er blickte zu ihr und kniete neben den beiden nieder.

Beide atmeten ruhig und gleichmäßig.

„Sie... schlafen?“

„Ja – und ich konnte die anderen nicht aufwecken, die ich vorher fand.“

Trotzdem konnte Broll nicht widerstehen, den Mann an der Schulter anzutippen. Als er ihn so nicht wach bekam, wiederholte er es bei der Frau. Als letzten Versuch nahm Broll einen Arm von jedem und schüttelte daran. Der Druide knurrte: „Wir müssen die Quelle dieses Zaubers finden! Hier muss ein wahnsinniger Magier am Werk gewesen sein!“

„Man muss schon sehr mächtig sein, um so etwas anzurichten“, sagte die Hohepriesterin. Sie wies zur Tür. „Kommt mit mir. Ich will Euch noch etwas zeigen.“

Sie verließen das Heim mit Jai im Gefolge. Tyrande führte Broll über eine Brücke, die zum Händlerviertel von Auberdine führte. Der Nebel verbarg viele Details des Dorfes, doch Broll erspähte ein Schild, das sowohl auf darnassisch als auch in der Gemeinsprache beschriftet war, und auf dem schlicht HAFENSCHENKE zu lesen stand.

Broll wusste, dass die Schenke auf jeden Fall beleuchtet und mit Leben hätte erfüllt sein müssen. Neben dem örtlichen Gasthaus war die Schenke einer der wenigen öffentlichen Versammlungsorte hier.

Jai blieb am Eingang stehen. Der Hippogryph blickte in den Nebel und suchte nach potenziellen Feinden. Die Hohepriesterin ging wortlos hinein, ihr Schweigen bereitete Broll auf das vor, was kommen würde.

Die Schenke wirkte nicht wie das andere Gebäude, welches trotz der bizarren Szenerie ordentlich und aufgeräumt gewesen war. Hier lagen Stühle über den Holzboden verstreut, und einige der Tische waren umgeworfen. Die Theke am Ende war fleckig, und das nicht allein durch die jahrelange Benutzung betrunkener Gäste. Es lagen auch mehrere zerschmetterte Flaschen und Fässer darauf.

Und überall im Gasthaus ruhten ausgestreckt die Körper von Nachtelfen, einer Handvoll Gnome und Menschen und eines einzelnen Zwergs.

„Ich bin nicht fern von diesem Bereich gelandet und wurde unruhig, als ich keine Lichter und Leben fand“, erklärte die Hohepriesterin. „Das hier war der nächstgelegene öffentliche Ort, und so trat ich ein.“

„Schlafen... auch sie?“

Tyrande beugte sich über einen Menschen. Er war über den Tisch gesunken und wirkte, als wäre er dort vor schierer Erschöpfung hingefallen. Sein Haar und der Bart waren unordentlich. Doch seine Kleidung stammte, obwohl etwas Staub darauf lag, eindeutig von einer hochrangigen Person. Neben ihr lag ein Nachtelf, der offensichtlich aus dem Ort stammte. Obwohl er auf der Seite lag, waren seine Hände noch zu dem Menschen hin ausgestreckt. Wie der Mensch wirkte auch der Nachtelf merkwürdig ungepflegt. Sie waren diejenigen, die am schlimmsten aussahen, obwohl alle Schläfer in der Schenke aussahen, als hätten sie sich sehr angestrengt.

„Hier hat ein Kampf stattgefunden“, stellte Broll fest.

Tyrande erwiderte: „Das muss dann aber ein sehr freundschaftlicher Kampf gewesen sein, wenn es denn tatsächlich stimmen sollte. Die einzigen Prellungen, die ich gefunden habe, wurden durch die Stürze verursacht. Ich glaube, die beiden sind einfach zusammengebrochen.“ Sie wies auf den Zwerg und ein paar der anderen Gäste. „Seht Ihr, wie sie angeordnet sind?“

Nach einem Moment des Beobachtens blickte Broll finster. „Sie wirken, als würden sie sich ausruhen. Alle!“

„Sie alle schlafen jetzt, selbst dieses erste verzweifelt wirkende Paar. Seht Euch um. Die Schenke erweckt den Anschein, als hätte man sich auf eine Verteidigung vorbereitet.“

„Das hätte mir auch selbst auffallen müssen.“ Erst jetzt bemerkte der Druide, dass die Tische und Stühle eine Art von Wall gegen den Eingang und die Fenster bildeten. „Aber gegen was haben sie sich verteidigt?“

Darauf wusste Tyrande keine Antwort.

Broll blinzelte. In den letzten Minuten hatte er des Öfteren blinzeln müssen, obwohl seine Sicht mit der untergehenden Sonne eigentlich schärfer werden sollte. „Der Nebel wird dichter... und dunkler.“

Draußen krächzte Jai eine leise Warnung.

Tyrande und Broll eilten zum Eingang. Der Hippogryph scharrte unruhig mit den Krallen. Doch es gab kein Anzeichen dafür, dass sich etwas in der Nähe befand, und der sich verdunkelnde Nebel verringerte ihre Sichtweite immer mehr.

Ein Stöhnen kam von drinnen. Broll eilte an der Hohepriesterin vorbei. Er wollte den Verursacher aufspüren, er musste sich unter den herumliegenden Gestalten im hinteren Bereich der Schenke befinden. Dann erklang ein weiteres Stöhnen aus einer anderen Richtung. Broll glaubte, dass es von dem Nachtelfen in der Nähe des Menschen kam. Er beugte sich zur nächsten Gestalt hinab.

Tyrande kam zu ihm. „Was ist los? Ist er wach?“

„Nein...“ Broll drehte den Kopf des Schläfers leicht. „Ich glaube, dass er träumt...“

Ein drittes Stöhnen gesellte sich zum vorhergehenden. Plötzlich jammerten alle herumliegenden Gestalten. Brolls Nackenhaare richteten sich auf, als er entdeckte, was ihren Stimmen gemein war: Angst.

„Das sind keine simplen Träume“, korrigierte er sich selbst, stand auf und blickte zurück zum Eingang. „Sie haben Albträume. Alle.“

Jai gab erneut eine Warnung von sich. Sie kehrten zu dem Hippogryphen zurück und sahen nichts... dafür hörten sie so einiges.

Das Stöhnen erklang nun überall in Auberdine.

„Das hat alles mit Malfurion zu tun“, stellte Tyrande überzeugt fest.

„Aber wie?“

Jai trat vor. Das Tier neigte den Kopf zur Seite und lauschte.

Eine düstere Gestalt kam kurz in Sicht und verschwand dann wieder. Sie war kleiner als ein Nachtelf, eher von der Größe eines Menschen. Der Hippogryph wollte hinterherlaufen, doch Tyrande rief ihn leise beim Namen. Das Tier blieb stehen.

Die Hohepriesterin übernahm wieder die Führung. Broll trat schnell an ihre Seite, bereit, seine Künste zu nutzen, um ihr zu helfen. Jai blieb ihnen auf den Fersen.

„Da!“, zischte sie und wies nach links.

Broll hatte kaum Zeit, die Gestalt zu sehen, bevor sie wieder im Nebel verschwand. „Sieht aus, als würde sie taumeln. Vielleicht ein Überlebender.“

„Der Nebel scheint sich um unseren Flüchtigen herum zu verdichten.“ Tyrande legte die Hände zusammen. „Vielleicht kann Mutter Mond das ändern.“

Vom bedeckten Himmel direkt über der Hohepriesterin senkte sich ein silbriges Leuchten in die Richtung der mysteriösen Gestalt herab. Es brannte sich durch den Nebel und enthüllte dabei alles auf seinem Weg Liegende. Broll hob die Augenbrauen, als er sah, dass das Licht die Richtung wie ein lebendiges Wesen wechselte und sich immer weiter ausbreitete, um den Fremden zu finden.

Und dann stand er plötzlich da: ein männlicher Mensch. Seine Kleidung verriet, dass er schon bessere Zeiten gesehen hatte. Seitdem hatte er ganz offensichtlich einen Abstieg erlebt. Er starrte sie aus leeren Augen an, was wohl auf Schlafmangel zurückzuführen war. Der Mensch wirkte ausgemergelter als die Gruppe, die sie in der Schenke gefunden hatten. Irgendwie blieb er in Bewegung.

„Bei Nordrassil!“, stieß Broll hervor.

Der Mensch war nicht nur in Bewegung geblieben, sondern vor den Augen der beiden Nachtelfen einfach verschwunden.

„Ein Magier“, knurrte Tyrande. „Er ist der Täter, nicht das Opfer...“

„Ich weiß nicht, Mylady.“ Broll konnte es nicht genau erklären, doch da war etwas an der Art des Verschwindens des Mannes, das sich... vertraut anfühlte.

Der Druide konzentrierte sich darauf, was er gesehen hatte. Der Mensch hatte zu ihnen geschaut, dann einen Schritt gemacht...

„Er ist durch etwas hindurchgegangen... in irgendetwas hinein“, murmelte Broll zu sich selbst. Er überlegte, was genau er dann gespürt hatte.

„Es ist doch egal, ob er einfach verschwunden oder durch ein Portal gegangen ist“, zischte Tyrande grimmig. Sie ging schnell zu dem Hippogryphen zurück und zog ihre Gleve aus einer Satteltasche. „Er könnte der Schlüssel zu Malfurion sein...“

Bevor Broll sie aufhalten konnte, schoss die Hohepriesterin auf den Punkt zu, wo der Mensch eben noch gestanden hatte. Vielleicht hatte der Fremde ja tatsächlich Schuld, wie Tyrande vermutete. Doch gerade dann mussten sie vorsichtiger sein, vor allem, wenn ihr Gegner wirklich ein Zauberer war.

Tyrande erreichte den letzten Standort des Menschen und hielt die Gleve bereit, während sie ein Gebet murmelte. Das Licht von Elune umgab sie, dann breitete es sich mehrere Meter in jede Richtung aus.

Doch es gab keine Spur auf den Verbleib des Menschen.

Broll trat zu ihr. „Herrin, ich...“

Sie verzog das Gesicht. „Ich bin nicht Königin Azshara. Bitte verwendet nicht solch eine Anrede...“

Neues Stöhnen durchdrang den dichten Nebel – ebenso scharf, wie es das Licht von Elune getan hatte. Die Angst darin war mehr als deutlich zu erkennen.

„Wir müssen sie irgendwie aufwecken!“, knurrte Broll. „Es muss doch einen Weg geben...“

Jai stieß einen Warnschrei aus. Broll und Tyrande vermuteten, dass der Mensch wieder aufgetaucht war. Beide Nachtelfen wandten sich dem Geräusch zu...

Verhüllt von dem mysteriösen Nebel, taumelten mehrere Gestalten auf sie zu, während der Dunst das gespenstische Stöhnen weitertrug.

Broll spürte, wie seine Furcht wuchs. Plötzlich wollte er weglaufen oder in Deckung gehen. Er wollte sich einfach nur einigeln und beten, dass die schattenhaften Gestalten ihm nichts antun würden. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.

Was geschieht mit mir?, fragte er sich. Broll war eigentlich nicht anfällig für Furcht. Doch der Drang, sich zu ergeben, war stark. Er blickte zu Tyrande und sah die Hand zittern, in der sie die Gleve hielt. Das lag gewiss nicht nur an dem Gewicht der Waffe. Die Hohepriesterin presste die Lippen zusammen. Selbst Jai zeigte Zeichen von Anspannung. Der Atem des mächtigen Hippogryphen kam immer schneller.

Tyrande blickte nach links. „Dort sind sie auch!“

„Rechts ebenfalls“, fügte Broll hinzu. „Und hinter uns sind sicherlich auch welche, vermute ich mal.“

„Ich werde nicht auf die Knie sinken und wie ein kleines Kind um Gnade winseln!“, rief Tyrande den kaum sichtbaren Schatten trotzig entgegen. Ihre Hände zitterten dennoch, wodurch auch Brolls eigene Furcht größer wurde.

Über der Hohepriesterin erstrahlte ein silbernes Licht, das die beiden Nachtelfen und den Hippogryphen einhüllte. Es breitete sich zu den Schatten hin aus und beschien die erste schreckliche Gestalt.

Im Leuchten des Mondlichts sahen sie ein Wesen, das gleichermaßen verrottet und verfault war. Es glotzte sie aus leeren, leblosen Augen an. Sein Gesicht war selbst im Tod von Schmerz verzerrt – ein Gesicht, das Broll plötzlich als das des Nachtelfen erkannte, der in der Schenke auf dem Boden gelegen hatte.

Aber wenn sie auch das Gesicht des Schläfers trug, war die Gestalt doch eine völlig andere. Sie wirkte wie ein schemenhafter Umriss von etwas, das Broll gehofft hatte, nie wiedersehen zu müssen. Der Nachtelf glich von seinem Körperbau her einem Dämon der Brennenden Legion.

Als der Mob näherkam, wurde ein zweites Wesen sichtbar, das ein halb skelettiertes Gesicht hatte und ansonsten dem Menschen glich. Doch auch sein Körper wirkte wie der eines Dämons.

„Sie...“, murmelte Broll. „Sie sind zurück...“

„Nein... das kann nicht sein!“, erwiderte Tyrande. „Keine Satyre mehr... bitte... keine Satyre...“

Die beiden Nachtelfen blieben reglos stehen. Sie wollten sich selbst verteidigen, doch die monströsen Gestalten, die sich um sie herum scharten, erschütterten die beiden so sehr, dass ihre Körper wie paralysiert waren.

In diesem Moment trat eine neue Gestalt vor den Druiden und seine Begleiterin. Es war der zerlumpte Mensch, den sie gejagt hatten. Er taumelte auf sie zu. Seine Augen schauten an ihnen vorbei.

Broll blinzelte, versuchte genau hinzusehen, doch offensichtlich hatte der Nebel sich verdichtet. Oder hatten seine Augen den Fokus verloren? Die gegnerischen Gestalten mit den Gesichtern von Auberdines unglückseligen Bewohnern waren wieder zu nebligen Schemen geworden. Plötzlich hatte der Druide das Gefühl, dem Boden ziemlich nah zu sein... und, mit seinen Händen herumtastend, stellte er fest, dass er kniete. Er erkannte, dass er geträumt hatte. Die Dämonen, die er gesehen hatte, existierten nur in seiner Vorstellung.

„Bei Mutter Mond!“, hörte er Tyrande seufzen, doch es war nur wie ein schwaches Echo. „Was...?“

Der hohläugige Mensch, der aus dem Nichts getreten war, sprach durch die unnatürliche Dunkelheit. „Nicht wieder einschlafen... nicht einschlafen...“, flüsterte er.

Broll spürte, wie ihm ein Arm um die Schulter gelegt wurde und wie er und Tyrande, die neben ihm kniete, von dem hageren Menschen mit Mühe festgehalten wurden.

Die Welt wurde durchscheinend. Sie verschwand nicht völlig. Sie verblasste, als wäre sie eher eine Erinnerung denn echte Materie.

Und gleichzeitig nahm sie eine tiefgrüne Farbe an.

Das war nicht mehr Auberdine. Eher eine kaum erkennbare Landschaft. Broll versuchte, sich zu konzentrieren um herauszufinden, wo sie sich befanden. Doch dann rauschte die Landschaft an ihm vorbei, als würde er mit einer für ein sterbliches Wesen unmöglichen Geschwindigkeit rennen.

Genauso plötzlich verlor ihre neue Umgebung die grünliche Färbung. Die Landschaft wurde wieder deutlicher. Es war Nacht, und obwohl auch hier Nebel herrschte, war er nicht so dicht wie in Auberdine.

Broll bemerkte, dass er sich bewegte. Doch als er versuchte, seine Bewegung zu kontrollieren, stürzte der Druide der Länge nach hin.

Der Boden war hart, aber zum Glück mit etwas bewachsen. Broll landete auf den Knien. Neben ihm hatte Tyrande mehr Glück, sie machte noch einige Schritte, bis sie sich sicher auf den Beinen halten konnte.

Die Hohepriesterin sprach als Erste wieder. Immer noch schwankend beobachtete sie ihre Umgebung. „Wo... wo sind wir? Das ist nicht Auberdine!“

Es war nicht Auberdine, und auf den ersten Blick war es gar kein Ort, der dem Druiden vertraut war. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich besser zu konzentrieren. Einige der Dinge, die gerade geschehen waren, begannen einen Sinn zu ergeben... wenn auch nicht den Sinn, der ihm gefiel.

„Nein, nicht Auberdine...“, krächzte der Grund für ihre Verwirrung. Der heruntergekommene Mensch stolperte zu Broll. Er blickte flehend von dem Druiden zur Hohepriesterin. „Ihr habt mich geweckt... und ich konnte gehen...“

Broll stand auf und hielt den Mann am Arm fest. Obwohl der Fremde Varian Wrynn keinesfalls ähnlich war, weckte sein Leid doch Erinnerungen an Brolls alten Freund. Worunter auch immer der Mensch litt, es war mindestens so schlimm wie Varians langzeitiger Gedächtnisverlust.

„Was habt Ihr getan?“, fragte Broll. „Habt Ihr uns wirklich mit hindurchgenommen...?“

Der Fremde presste sich gegen ihn, seine Augen brannten förmlich. „Ich bin so müde! Ich kann nicht wach bleiben! Bitte lasst mich schlafen...“ Er stieß ein gutturales Geräusch aus, dann sank er ohnmächtig gegen den Nachtelf.

Überrascht musste Broll schnell seine Haltung korrigieren. Sanft legte er den Menschen zu Boden.

„Wir müssen ihn aufwecken!“, erklärte Tyrande. „Ihr habt gehört, was er gesagt hat! Ihr habt Auberdine gesehen!“

Broll schaute ihren neuen Begleiter genau an. „Wir können ihn jetzt nicht aufwecken, selbst wenn wir beide unsere Kräfte vereinen. Er schläft tief und fest.“

„Er ist unsere einzige Spur zu Malfurion!“ Die Hohepriesterin griff nach unten, als wollte sie den Menschen schütteln, dann zögerte sie. Ihr Gesichtsausdruck beruhigte sich plötzlich. „Vergebt mir...“

„Da gibt es nichts zu vergeben.“ Broll blickte zu dem Mann. „Seine Kleidung wurde garantiert einst bei Hofe getragen, aber sonst kann ich nicht Bemerkenswertes an ihm erkennen.“

„Er scheint ein außergewöhnlicher Magier zu sein.“

Der Druide nickte. „Da stimme ich Euch zu... kein mir bekannter Magier hätte tun können, was er eben getan hat.“ Der ehemalige Gladiator schnaubte. „Kein Mensch oder Zwerg und nicht einmal die Nachtelfen... es sei denn, ich liege völlig daneben.“

Sie runzelte die Stirn. „Was sonst als Magie hätte es sein können? Es war eine merkwürdige Magie, aber ganz eindeutig Magie! Er nahm uns alle mit...“ Tyrande machte eine Pause „Außer Jai...“

Broll hatte bereits an den Hippogryphen gedacht. „Er schläft, Euer Majestät. Jai ist jetzt ein Teil von Auberdine.“

Die Hohepriesterin blickte ihn traurig an. „Arme Kreatur... so viele arme Kreaturen...“ Sie straffte sich und fragte: „Und was sollen wir nun mit ihm machen? Wenn er keinen Zauber gewirkt hat, wie hat er uns dann aus Auberdine herausgebracht und hier abgesetzt?“

„Das kann nur auf eine Art geschehen sein.“ Brolls Tonfall konnte seine Zweifel nicht verbergen. „Ich glaube... ich glaube, dass er uns für vielleicht einen Moment lang... mit in den Smaragdgrünen Traum genommen hat.“

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