14 Der Albtraum im Innern

Nein!, dachte Malfurion. Nein...

Er hatte geahnt, dass seine geheimen Hoffnungen gefährdet sein würden, sobald sein Plan endlich Früchte trug. Der Albtraumlord hatte ihn verspottet, ihn mit Bildern von Tyrande gefoltert, die verloren im Nebel herumirrte und starb.

Und schlimmer noch, er drohte ein Teil dessen zu werden, das sich nahe dem Zentrum des Albtraums sammelte und sogar über den Nebel hinausreichte, der ihn umgab.

Ich muss mich... mehr anstrengen...

Er konnte seinen Entführer nicht in der Nähe spüren, was aber nicht bedeutete, dass er unbeobachtet war. Deshalb musste Malfurion auf subtilere Art vorgehen.

Mit Mühe bewegte er die Äste, die einst seine Arme gewesen waren. Der Nachtelf hatte das schon mehr als einmal getan, wenn er versuchte, seine Schmerzen zu lindern. Der Schmerz blieb, doch der kleine abgeschirmte Teil in ihm hatte etwas anderes vor. Er wollte eine mögliche Ablenkung schaffen.

Doch das Wesentliche geschah unter der Oberfläche. Unten, wo die Wurzeln ihn im Boden verankerten. Eigentlich dienten sie dem Albtraumlord, hielten ihn fest und nährten ihn mit den Schrecken, die noch darunter lauerten. Doch sein Entführer war zu selbstsicher, und deshalb entging ihm, dass eine einzelne kleine Wurzel höchst wichtig für Malfurion geworden war.

Durch Konzentration und Willenskraft hatte der Erzdruide sie unter seine Kontrolle gebracht. Weil das alles so wenig war, wurde es vom Albtraumlord ignoriert. Deshalb nutzte Malfurion jeden Moment aus, um seine Macht zu stärken, damit die Wurzel schließlich tat, was er wollte.

Und jetzt wollte er, dass sie sich tiefer in den Boden bohrte, tiefer als alle anderen Wurzeln. Malfurion erinnerte sich aller Dinge, die er über die Bindung der Druiden an die Natur wusste. Er überredete die Wurzel zu wachsen, führte sie immer tiefer am Ungeziefer vorbei, das im Dreck wühlte. Jenes Ungeziefer, das im wahrsten Sinne des Wortes alles untergrub, was einst der Smaragdgrüne Traum gewesen war.

Dann, als er tief genug war, musste er der Wurzel eine neue Richtung geben. Vorsichtig, damit der Albtraumlord nichts merkte, konzentrierte der Erzdruide seinen Willen darauf, die Wurzel aus dessen Reichweite heraus und tief in den Nebel hinein zu bewegen.

Er kam seinem Ziel immer näher. Er hatte keine andere Wahl, als immer weiterzumachen, selbst wenn das den Schattenbaum schließlich doch noch alarmierte. Zeit war ein nebulöser Begriff an diesem Ort, doch für Malfurion lief sie ab. Entweder erreichte er die Freiheit... oder die Verdammnis würde ihn holen, und er würde willentlich dem Schrecken dienen.

Zentimeter für Zentimeter arbeitete sich der Elf vor. Die Wurzel war nun fast am Ziel.

Malfurion spürte, wie der Schattenbaum sich auf ihn zubewegte.

Die skelettartigen Äste durchstöberten die Erde vor ihm. Der Albtraumlord redete nicht, was nichts Gutes erahnen ließ. Die Schatten breiteten sich genau in die Richtung aus, in die Malfurion die Wurzel geschickt hatte.

Tiefes böses Gelächter berührte seine Gedanken. Doch Malfurion unterdrückte die Angst vor der Entdeckung.

Diese Narren geben einfach nicht auf..., spottete der Albtraumlord. Selbst wenn ihre Zahl schwindet... und ihre Verluste zum Albtraum kommen...

Sie werden ausharren!, antwortete der Erzdruide und hoffte, jegliche Aufmerksamkeit von seinen eigenen Anstrengungen abzulenken. Der Albtraum wird besiegt werden! Ihr werdet besiegt werden!

Sie wissen noch nicht einmal, was es bedeutet, auszuharren..., entgegnete der Schattenbaum. Sie wissen noch nicht einmal, was es bedeutet, zu planen und zu warten... und zu warten... Das Lachen wurde schrecklicher. Und wir werden für unsere Geduld belohnt werden... wir werden Azeroth verschlingen...

Der Schatten zog sich zurück. Malfurion nahm sich seine Worte nicht einen Augenblick lang zu Herzen. Doch der Albtraumlord würde ihn auch weiterhin beobachten. Sein düsterer Feind manipulierte ständig zahllose Dinge. Der Erzdruide wusste besser als alle anderen, was geschah, wenn sein Plan nicht funktionierte...

Die Wurzel erreichte ihr Ziel.

Alles, was Malfurion jetzt noch tun konnte, war, der Dinge zu harren, die da kommen würden... und beten.


Unfähig, Tyrande aufzuhalten, war Broll gezwungen, hinter der Hohepriesterin herzulaufen. Er tat es aber nicht als er selbst, sondern verwandelte sich in die große Raubkatze. Der Druide stürzte sich in den dichten Nebel und benutzte seinen nun empfindlicheren Geruchs- und Hörsinn, um die begrenzte Sicht auszugleichen.

Er nahm Tyrandes Spur augenblicklich auf. Es stellte sich als leichter heraus als gedacht. Obwohl sie ihre Liebe zu Malfurion über ihre eigene Sicherheit gestellt hatte, vergaß Tyrande darüber die Gefahren nicht, die auf sie lauerten. Broll war sicher, dass ihnen das Schlimmste aus dem Albtraum noch erst begegnen würde. Die Hohepriesterin von Elune hinterließ eine Spur aus monderleuchteten Schritten, die den Weg von den schrecklichen Parasiten reinigte. Broll war bei seinen eigenen Methoden nicht so wählerisch. Seine Klauen zermatschten die Kreaturen einfach, während er weiterlief.

Nur kurz erblickte er eine Gestalt vor ihm, doch sie folgte nicht genau dem Weg, den Tyrande genommen hatte. Der Druide stieß ein tiefes Knurren aus und wandte sich dann ab, um ein Zusammentreffen zu vermeiden. Broll hatte keine Zeit für Konfrontationen...

Der Boden vor ihm hob sich. Schwarze Käfer strömten hervor.

Vater! Vater!“

Anessa war vor Broll dort. Verzweifelt hielt sie ihre Arme ausgestreckt, ihr Gesicht blickte ihn flehentlich an. Sie war zierlicher als Tyrande und einen Kopf kleiner. Ihre Augen waren voller Unschuld und Unverständnis.

Broll grub seine Klauen in den Boden und blieb stehen. Ihr seid nicht echt!, dachte er. Ihr seid nicht real! In seinem Geist sah er sie wieder von den Energien eingehüllt, als die vereinigten Kräfte des Götzenbildes und des befleckten Dämons sie verzehrten. So war sie gestorben. Schuld daran waren Azgalors Angriff und sein Versagen. Anessa war tot... tot.

Vater! Bitte rettet mich!“, schrie die Vision von Anessa.

Und trotz des sicheren Wissens, dass dies nicht seine geliebte Tochter war, spürte der Druide, wie ihm seine Sinne wieder entglitten. Ein Teil von ihm wollte sie so sehr retten...

Smaragdgrüne Ranken zerrten an Anessa. Sie kreischte und versuchte, vor ihnen zu fliehen. Doch sie hielten sie fest.

Die Katze wich zurück und verwandelte sich wieder in den Nachtelfen. So ist sie nicht gestorben...

Die smaragdgrünen Ranken wanden sich enger und enger um das Mädchen. Anessas Körper knackte. Ihr Kopf war in einem schrecklichen Griff gefangen.

Der Schädel brach, doch Anessa schrie immer noch um Hilfe. Und aus ihrem Mund – und aus jedem zerborstenen Teil ihres Körpers – strömten Tausendfüßler, Schaben und andere Aasfresser. Gleichzeitig lief eine tintenähnliche Substanz aus, die die grüne Farbe der Verwesung hatte.

Vor Brolls erschreckten Augen verschwanden die letzten erkennbaren Spuren seiner Tochter in den Ranken. Alles, was übrig blieb, waren die grotesken Insekten, die aus ihr herausgeströmt waren. Sie fielen zu Boden und verteilten sich auf dem Dreck, der bereits dort lag.

„Du – bist – echt...“, erklang eine Stimme. Der benommene Broll erkannte erst einen Augenblick später, dass es nicht seine eigene war. „Anders als deine Tochter, die nur erschaffen wurde, um dich in den Albtraum hineinzuziehen...“

Eine große Gestalt trat aus dem Nebel vor ihm. Broll wechselte zur Bärengestalt und drohte dem Wesen mit seinen Klauen.

„Nein, Druide... ich will dir nichts tun...“ Es war eins der Urtume.

Broll fragte: „Knorre?!?“

Doch schon als er das sagte, erkannte der Druide, dass es nicht stimmte. Die Gestalt ähnelte Knorre zwar, doch sie ging gebeugter, und ihre Stoßzähne waren länger. Die borkenähnliche Haut war grünlicher, selbst wenn man die Farbschattierungen der Umgebung bedachte.

Außerdem kannte Broll dieses Urtum genauso gut wie Knorre. „Ich erinnere mich an Euch“, sagte der Nachtelf. „Arei...“

Das Urtum des Krieges verneigte den ausladenden Kopf. Viele seiner Blätter, die Teil seines Bartes und der Mähne hätten sein sollen, waren vertrocknet. Das Urtum wirkte sehr müde. „Der bin ich...“ Sein Blick prüfte den Druiden. „Und du bist Broll Bärenfell.“ Arei blinzelte. „Ich vermute, du bist durch ein Portal gekommen... Eschental wahrscheinlich...“

„Ja.“

Das riesige Wesen runzelte die Stirn. „Und deinen Worten entnehme ich, dass Knorre es nicht mehr sichert, oder?“

Schluckend antwortete der Nachtelf: „Knorre wurde... vom Albtraum genommen...“

Arei stieß ein Geräusch aus, das klang, als würde ein riesiger Baum langsam in zwei Hälften zerbrechen. Broll schauderte, weil der Schrei so durchdringend war. Er konnte Areis immensen Verlust spüren.

„Noch einer gefallen...“, murmelte der große Wächter. „Unsere Zahl schwindet in dem Maße, wie der Albtraum wächst... Wir kämpfen einen Kampf, den wir nicht gewinnen können...“

„Wer ist, wir? Was tut Ihr hier?“

„Was wir können.“ Das Urtum blickte zurück. „Komm... er wird wissen wollen, dass du hier bist...“

„Von wem redet Ihr?“, fragte Broll. Doch das Urtum war bereits tief in den Nebel eingedrungen.

Der Druide blieb noch einen Moment lang stehen. Er war hin- und hergerissen. Sollte er Tyrande oder dem Urtum folgen? Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen, weil die Spur der Hohepriesterin nun verschwunden war und Broll bezweifelte, dass er sie selbst in Gestalt einer Katze wieder hätte aufnehmen können.

Es blieb nur noch eine Hoffnung... dass Arei oder dieser andere, von dem er gesprochen hatte, wussten, wo Malfurion Sturmgrimm war. Das würde gleichzeitig den Druiden wieder auf Tyrandes Spur bringen. Mit dieser verzweifelten Hoffnung entschied sich Broll, dem Urtum hinterherzujagen... und zu beten, dass er nicht dem Albtraum in eine neue, schreckliche Falle ging.


Tyrande wusste, dass sie völlig rücksichtslos gehandelt hatte, als sie einfach in den Nebel gelaufen war. Doch eine unbeschreibliche Angst um Malfurion hatte sie ergriffen. Während der vielen Jahrtausende, in denen ihre Herzen miteinander verflochten waren, war sie schon mehrere Male vom Tod bedroht gewesen. Doch seit dem ersten Gefecht gegen die Dämonen der Brennenden Legion hatte die Hohepriesterin nicht mehr eine so schreckliche Angst um ihn gehabt wie jetzt.

Brox’ Axt hatte es ihr wieder klargemacht. Sie kannte ihre Kraft, kannte ihre riesige Stärke und die mächtige Magie, die darin steckte. In Brox’ Händen hatte sie große Dinge getan, mächtige Dinge...

Und nun waren diese Stärke und Magie gegen Malfurion gewandt worden. Sie konnte nur vermuten, dass dies der neueste schreckliche Scherz des Albtraums auf ihrer beider Kosten war.

Nein! Ihr werdet nicht sterben!, dachte Tyrande fast schon wütend. Ich werde das nicht zulassen!

Ihre Wut war natürlich unangebracht. Aber sie trieb sie an. Tyrande hatte nur den vagen Umriss der Burg vor Augen, die es hier gar nicht geben sollte. Selbst durch den dichtesten Nebel blieb sie immer noch gut sichtbar. Wieder war sie sich bewusst, dass es eine Falle sein konnte, aber es war ihr einziger Hinweis auf Malfurion.

Tyrande dachte daran, dass da noch etwas anderes war, das im Nebel auf sie lauerte. Etwas, das sich danach verzehrte, sie zu erwischen. Sie wusste, es war an die Schläfer gebunden, die zu verletzen Eranikus gefürchtet hatte, als er ihre Traumgestalten angegriffen hatte. Doch sie spürte, dass dieses Etwas tiefer in den Albtraum hinabreichte und finsterer war als selbst diese Gestalten.

Und was es auch sein mochte, es kam immer näher und näher, während sie weiterging.

Dagegen schien sie der düsteren Burg keinen Schritt näher gekommen zu sein. Auch das machte ihr Sorgen. Im Albtraum waren Entfernung und Zeit ohne Bedeutung. Das hatte Malfurion ihr erklärt. Für ihn könnte die Gefangenschaft schon Jahrhunderte dauern statt Jahre. Er konnte ganz in der Nähe sein, es wäre aber auch möglich, dass sie mehrere Tage laufen musste, um ihn zu erreichen.

„Nein!“ murmelte sie. „Ich werde ihn finden, und zwar bald!“

Nein... nein... nein..., flüsterte der Nebel plötzlich mit tausend Stimmen. Nein... nein... nein...

Die Hohepriesterin blickte auf die feuchte, beinahe kaum sichtbare Landschaft und suchte die Flüsterer. Sie betete zu Elune, und die Gleve leuchtete. Tyrande richtete die Waffe nach links, doch sie erblickte nur weitere wegkrabbelnde Aaskäfer.

Aber jenseits des Lichts...

Tyrande bewegte sich darauf zu. Doch was auch immer es war, es zog sich mit dem Nebel zurück. Doch es war da, nur vage zu erkennen.

Und es wartete darauf, dass sie einen fatalen Fehltritt tat.

Mutter Mond, führt mich nun... stärkt meinen Willen..., betete die Nachtelfe.

Willen... Willen... flüsterte es um sie herum.

Sie schauderte. Nicht nur ihre Worte erklangen, sondern sogar ihre eigensten Gedanken. War sie denn nirgends sicher?

Nirgends sicher... nirgends sicher... nirgends sicher...

Tyrande hatte die Antwort. Nichtsdestotrotz dachte sie nicht daran, sich zurückzuziehen. Ihr Verlangen, ihre Mission war klar. Sie hatte niemals geglaubt, dass sie sich unbemerkt Malfurion nähern konnte. Die Hohepriesterin erwartete zu kämpfen, und es würde kein leichter Kampf werden. Wenn der Albtraum also wusste, dass sie da war und was sie wollte, machte es kaum einen Unterschied aus.

„Ich werde allem entgegentreten, was Ihr mir entgegenwerft“, murmelte sie dem Nebel zu. „Und ich werde Euch besiegen!“

Es gab kein spöttisches Geflüster. Aber ob das gut oder schlecht war, konnte Tyrande nicht beurteilen.

Sie ging weiter. Obwohl das Ungeziefer vor ihr floh, konnte sie erkennen, dass es auch schnell wieder zurückkehrte. Außerdem wurde der Boden immer glitschiger, als eine schwarz-grüne Substanz sie wieder daran erinnerte, dass die Innereien der Käfer alles bedeckten. Sie musste ihre Beine davon befreien, was ein irgendwie krankes, klebriges Geräusch verursachte. Sie kam immer langsamer vorwärts.

„Es bedarf schon mehr als das“, sagte sie dem Nebel.

Ein weibliches Lachen hallte durch das Grau. Es ließ Tyrande mehr frösteln als alles andere. Sie kannte es, träumte davon.

Es war Azsharas Lachen.

Doch die Königin der Nachtelfen war auf dem Grunde des Sees, wo ihre Stadt und der Brunnen der Ewigkeit einst gelegen hatten... zumindest, soweit Tyrande es wusste. Es war dieser kleine Zweifel, das Wissen, dass sie ja nicht tatsächlich bei Azsharas Tod anwesend gewesen war, was ihr schon seit Jahrhunderten Albträume bescherte. Obwohl die wahnsinnige Königin, die von Sargeras versklavt worden war und glaubte, dass sie die zukünftige Gemahlin des Dämonenlords werden würde, sicherlich keine Gelegenheit gehabt hatte, aus Zin-Azshari zu fliehen. Aber vielleicht war es ihr doch irgendwie gelungen.

Das ist also Euer Plan!, dachte sie trotzig zum Nebel. Eine dreiste Wahl und völlig übertrieben!

Um ihren Trotz zu betonen, breitete sie die Hände aus, als würde sie den neuen Angriff erwarten. Doch nichts geschah. Die schreckliche Königin materialisierte nicht plötzlich vor ihr, es erklang nicht einmal ein weiteres Lachen.

„Dann spielt Eure Spielchen“, sagte die Hohepriesterin laut. „Ich habe wichtigere Dinge zu erledigen.“

Erneut schritt sie voran, zertrat das Ungeziefer und kämpfte sich weiter. Allmählich schien die Nachtelfe näher an die Burg heranzukommen. Tyrande spürte teilweise, dass ihre äußerste Entschlossenheit ihr nun dabei half, Fortschritte zu machen. Der Albtraum gab – zumindest irgendwie – ihrem Willen nach. Nichtsdestotrotz traf sie zusätzliche Vorkehrungen, indem sie ein stummes Gebet zu Elune sandte, dass die Burg nicht plötzlich verschwinden oder im letzten Moment zurückweichen möge.

Der Geruch nach Verwesung wurde stärker und der Boden glitschiger. Tyrande hätte fast schwören können, dass er pulsierte, als wenn etwas Großes langsam atmete. Die Hohepriesterin redete sich selbst ein, dass dies nur der Albtraum war, der ihre Entschlossenheit brechen wollte. Doch sie wurde trotzdem vorsichtiger.

Dann rutschte sie aus. Tyrande konnte nichts dagegen tun. Mit dem Gesicht voran stürzte sie in den widerlichen Mist. Ein ekelhafter Schleim bedeckte ihre Lippen und brannte auf der Zunge. Sie spuckte ihn schnell aus, er konnte schließlich giftig sein.

Ihre Gleve lag ein Stück weit entfernt, im Nebel verborgen. Tyrande kam auf die Knie, was anstrengender war, als sie gedacht hatte. Der Boden war so glitschig, dass ihre Hände kaum Halt finden konnten.

Ein schabendes Geräusch richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gleve.

Etwas zog die Waffe in den Nebel hinein. Die Gleve rutschte über den Boden, mehr und mehr gelangte sie außer Sichtweite.

Die Nachtelfe stürzte ihr nach und landete wieder auf dem Bauch. Nun war nur noch die Spitze zu sehen.

Sie beruhigte sich, rief das Licht von Elune an und leitete es auf das Schwert zu...

Etwas glitt hinter Tyrande her. Die Nachtelfe blickte sich sofort um, doch sie konnte nichts erkennen. Schnell richtete sie die Aufmerksamkeit wieder auf die Waffe.

Sie war fort.

Azsharas Lachen drang erneut an Tyrandes Ohren.

Sie versuchte, zur Quelle des düsteren Lachens herumzuwirbeln. Aber Tyrande beschmutzte sich dabei nur noch mehr. Schließlich nahm sie wieder bei Elunes Licht Zuflucht und hoffte, dass es den Boden härter machen konnte.

Doch als sie das versuchte, hörte sie erneut ein Schlittern. Tyrande weigerte sich aufzugeben. Aber sie konnte nicht widerstehen nachzusehen, was auf sie zukam...

Etwas Muskulöses, Feuchtes wickelte sich mit der Festigkeit einer Peitsche um ihre Kehle. Tyrande brach den Zauber ab, um das Wesen zu bekämpfen, das ihr die Luft raubte.

Es hob die Hohepriesterin mehr als einen halben Meter vom Boden an. Zur gleichen Zeit wurde das Gleiten lauter.

Und wieder ertönte das vertraute Gelächter.

„Was für ein schönes, süßes Wesen du doch bist! Das hatte ich glatt vergessen!“

Tyrande, die immer noch um Atem kämpfte, wandte sich nach rechts.

Ein monströses, blaugrünes Gesicht grinste sie anzüglich an. Es war elfengleich und doch auch ein wenig einem riesigen Fisch ähnlich. Finnenähnliche Ansätze standen nicht nur vom Kopf ab, sondern liefen gleichermaßen den geschuppten Rücken hinunter. Die Schuppen bedeckten auch das Gesicht und verliefen über die Brust.

Die Hände waren mit Schwimmhäuten überzogen und endeten in Klauen. Dadurch glichen sie denen eines Jägers im Meer. Dennoch waren sie den Nachtelfen ähnlicher als der untere Teil des Körpers, der eher wie eine Mischung aus Schlange und Aal wirkte.

Der übertrieben lange, stachelige Schwanz am Ende des Torsos versuchte mit wachsendem Erfolg, Tyrande zu erdrosseln.

„So schön“, säuselte Azshara.

Obwohl sie den Kampf um die Luft zu verlieren drohte, starrte Tyrande mit geweiteten Augen auf die Kreatur. Es war die Königin und dann auch wieder nicht. Azsharas Gesichtszüge lagen ganz eindeutig auf dem geschuppten Gesicht. Doch die Augen waren feurige rote Kugeln, die sich in den Geist der Hohepriesterin brennen wollten.

Und um sie herum näherten sich andere glitschige Gestalten. Die weiblichen hatten Ähnlichkeit mit den Nachtelfen, doch die männlichen wirkten primitiver und wilder. Ihre Gesichter waren wie von einem fleischfressenden Fisch, und ihre gierigen roten Augen zeigten, dass sie dem Genuss von Fleisch nicht abgeneigt waren.

Wenn dieses Monster wirklich Azshara war, dann konnten diese Kreaturen nur die Hochgeborenen sein. Sie gehörten zu der Kaste treuer Diener, die sich der Königin in ihrem Wahn angeschlossen hatten. Nichts anderes hatte für sie existiert, als Azsharas Ruhm zu dienen, selbst wenn Tausende anderer Elfen dabei starben.

Nun... dienten sie ihr immer noch. Nun waren sie, wie Azshara, zu einem Schrecken geworden, den Tyrande kannte. Die Schlangengestalt war unverwechselbar.

Es waren die Naga. Die scheußlichen Bewohner der Meere.

„Einst bot ich dir einen Platz an meinem Hofe an“, murmelte die Königin freundlich, als sie mit ihrem Schwanz Tyrande so nah zu sich heranzog, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Extremer Gestank ging von Azshara aus... ein Gestank, der an eine Leiche erinnerte, die seit Tagen im Wasser gelegen hatte. „Solch eine feine Kammerzofe hättest du abgegeben...“

Tyrande versuchte, Elune anzurufen. Doch das Licht, das sie bereits wirkte, wurde nur noch blasser. Als es schwächer wurde, kamen die Naga näher, begieriger. Sie umzingelten sie...

„Und dienen sollst du mir immer noch...“, sagte die Königin und grinste mit gebleckten Reißzähnen.

Die Beine der Nachtelfe klatschten zusammen. So sehr sie es auch versuchte, die halb ohnmächtige Tyrande konnte sich nicht lösen. Sie spürte, wie ihre Beine förmlich zusammenschmolzen.

Azshara verwandelte sie in eine Naga.

Tyrande zog fester an dem Ring um ihren Hals. Sie war kaum noch bei Bewusstsein. Das Denken fiel ihr schwer.

Doch mit dem letzten bisschen Bewusstsein erfüllte Malfurions Gesicht ihre Gedanken. Er sagte nichts, blickte sie nur aufmunternd an.

Das regte die Hohepriesterin zu einem weiteren Versuch an, ihre Herrin anzurufen. Obwohl Tyrande nicht sprechen konnte, bildeten ihre Lippen Elunes Namen.

Das silberne Leuchten von Mutter Mond erfüllte sie.

Sie verlor das Bewusstsein.

Azshara – alle Naga – waren nirgendwo mehr zu sehen. Tyrande lag bewegungslos auf dem glitschigen Boden, die Aaskäfer krochen langsam über ihren Körper. Der Nebel verdichtete sich um die Hohepriesterin.

Doch Tyrande bewegte sich immer noch nicht. Sie lag dort, mit den Händen an der Kehle...um ihre Kehle.

Als wollte sie sich selbst erwürgen.

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