Lucan war bis auf einen launischen grünen Drachen allein im Nebel. Zudem saß er rittlings auf dem Hals der Flugechse, was Eranikus offensichtlich noch weniger leiden konnte als den Kartografen selbst.
„Wir hätten uns nicht aufteilen sollen!“, knurrte Eranikus. „Nicht hier! Nicht jetzt!“
Der Kartograf sagte nichts. Er fühlte sich wertlos. Bislang war er nur von einem Ort zum anderen geflohen, um seinen stetig schlimmer werdenden Albträumen zu entkommen. Dann hatte ihn eine mächtige Gestalt nach der anderen herumgeschubst. Jeder behandelte ihn bestenfalls wie ein Kleinkind.
Und jetzt war er ausgerechnet an einem Ort, wo das bisschen Begabung, das er als Hilfs-Kartograf hatte, auch noch so gut wie nutzlos schien.
Der grüne Drache blickte in die düstere Welt hinein, seine Wut schwoll immer mehr an. Viel davon war reine Verbitterung gegen sich selbst. „Ich hätte für sie da sein müssen, aber nein, ich habe versagt! Jetzt ist sie irgendwo dort draußen und muss sich dem Albtraum ohne mich stellen!“
Lucan hütete sich, das zu kommentieren. Was hätte er auch sagen sollen? Er war ein Nichts... nein, weniger als das.
Eranikus stieß ein weiteres Knurren aus, doch war es diesmal gegen den Albtraum gerichtet. „Was schränkt unsere Sicht nur so ein? Welch Hinterlist hält dieser Albtraum noch bereit... und warum?“
Der Mensch öffnete den Mund und wollte einen Vorschlag machen, doch dann schloss er ihn schnell wieder. Seine Ideen waren wohl kaum von Belang.
Doch plötzlich hatte er einen Einfall. Lucan konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht laut mit der Idee herauszuplatzen. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war das Wissen, dass der Drache ihm solch eine Sache nie erlauben würde, selbst wenn es möglich sein sollte... oder zumindest einen Versuch wert war.
Aber schließlich konnte sich Lucan nicht mehr zurückhalten. Er war mehr als einmal von anderen gerettet worden. Es war an der Zeit, dass er etwas zurückzahlte, indem er seine wundersamen Fähigkeiten zu ihrem Vorteil einsetzte. Im schlimmsten Fall wurden die anderen dadurch von seinem erbärmlichen Dasein erlöst.
Lucan konzentrierte sich. Zuerst stiegen Bilder von Sturmwind in ihm auf. Er sah seinen schmächtigen Meister, Lord Edrias Utnur, den obersten Kartografen Seiner Majestät König Varian, der missbilligend auf Lucans Arbeit blickte... dieselbe Arbeit, die Edrias später ohne Änderungen unterzeichnen würde. Er sah die feinen Höflinge, die die Karten des Königs bewunderten, die zwar Lucan angefertigt hatte, für die aber sein Vorgesetzter sämtliche Meriten einstreichen würde. Und er sah die feinen Damen, vor allem zwei ganz besondere, die in sein Leben hinein- und wieder hinausgetreten waren, ohne es zu wissen.
Erst als Eranikus etwas sagte, wurde Lucan aus diesen Tagträumen von Versagen und Bedauern herausgerissen. Es war ihm egal, worüber sich der Drache jetzt schon wieder aufregte. Eranikus war sogar noch verbitterter als Lucan selbst.
Lucan versuchte, sich erneut zu konzentrieren. Dieses Mal fokussierte sich der Kartograf auf die Person, die er suchte. Augenblicklich erschien das Bild in seinem Geist, und zwar mit solcher Schärfe, dass er wusste, er war auf der richtigen Spur.
Eranikus brüllte jetzt mit großer Freude in der Stimme, doch was auch immer der geflügelte Riese Lucan mitteilen wollte, es ging verloren.
Denn der Kartograf war bereits verschwunden.
Sie ist nah... sehr nah..., dachte Malfurion unruhig. Aber weiß er es, und weiß er auch, warum?
Trotz seiner furchtbaren Gefangenschaft hatte sich Malfurion bislang im Verborgenen sehr bemüht, mitzubekommen, wie es den Kämpfern gegen den Albtraum erging. Er wagte nicht, sie direkt zu kontaktieren. Stattdessen hatte er bis zu dem Moment gewartet, an dem seine Pläne Früchte trugen. Nur die Herrin dieses Reichs wusste, was er plante und dass sein Plan lediglich auf einem flüchtigen Gedanken basierte.
Und jetzt hatte Ysera ihre Drachensippe mobilisiert. Sie, die Druiden und einige andere Beschützer von Azeroth hatten einen Großangriff gestartet, der aber zum Scheitern verurteilt war, wenn er die Dinge nicht perfekt durchdacht hatte.
Bevor nicht sie mit ihm Kontakt aufnahm, wusste Malfurion nicht, ob es geklappt hatte.
Er spürte, dass der Albtraumlord in der Nähe war. Doch der düstere Schatten schien mit den Drachen und den anderen Kämpfern beschäftigt zu sein. Malfurion gab sein Bestes, um so unbemerkt wie möglich ihr Nahen zu verbergen. Es war wichtig, dass die Orcfrau ihn kontaktierte und handelte, ohne dass der Schatten davon wusste.
Etwas bewegte sich durch den immer dichter werdenden Nebel. Der Erzdruide betete darum, dass nur er es spüren konnte. So raffiniert wie möglich verhinderte Malfurion, dass die Orcfrau bemerkte, was wirklich um sie herum lauerte.
Sie trat auf die kleine Lichtung, die ihn umgab.
Die Orcfrau lächelte, als der Blick ihrer tief liegenden Augen auf den Baum fiel. Sie sah nicht den Baum. Stattdessen meinte sie, vor Malfurion Sturmgrimm, dem Erzdruiden, dem ruchlosen Mörder und Verderber von Azeroth zu stehen, der trotzig lächelnd zurückblickte. Es war eine Illusion für sie, und nur für sie. Eine, die Malfurion sorgfältig entworfen hatte, so wie jede der vorherigen Visionen, mit deren Hilfe er sie hierher gelockt hatte.
Malfurion empfand darüber keinen Triumph. Er riskierte sowohl ihre Seele als auch ihr Leben. Doch auf der verzweifelten Suche nach jemandem, der ihn befreien konnte, hatte er Brox’ magische Axt gespürt. Malfurion wusste, wie sie wieder bei den Orcs gelandet war, obwohl er von der Geschichte erst Tausende Jahre später erfahren hatte. Der rote Drache, Korialstrasz – einigen wenigen Auserwählten auch als der Magier Krasus bekannt – hatte sie in der Verkleidung eines ältlichen Orcschamanen zurückgebracht. Damit wollte er Brox Ehre erweisen für das große Opfer, das der Orc erbracht hatte, als er gegen den Dämonenlord Sargeras kämpfte.
Doch die Axt war von größerer Kraft, als die Orcs ahnten. Niemand wusste das besser als Malfurion. Sein eigener Shan’do hatte sie mit Kräften versehen, die an die Welt selbst gebunden waren. Kräfte, die die Axt so sehr zu einem Teil von Azeroth machten wie Wasser, Land und Luft.
Und mit dieser Axt hoffte Malfurion, den Albtraumlord zu besiegen und sich selbst zu befreien.
Thura näherte sich ihm. Sie stellte nicht infrage, was sie sah. Der Druide hatte ihre Träume viel zu lange beeinflusst. Thura nahm alles als gegeben hin, was er ihr vorgaukelte. Das erfüllte ihn mit noch mehr Bedauern. Er hatte ihren Geist missbraucht, wenn auch aus gutem Grund.
„Nachtelf“, knurrte sie mit dunkler Stimme. „Du hast mein Volk bedroht, meine Welt! Und das Blut meines Klans klebt an deinen unehrenhaften Händen! Ich bin hier, um dir ein Ende zu setzen!“
Schlagt zu!, befahl er ihr leise. Schlagt zu! Malfurion erklärte ihr sogar, wo sie treffen sollte. Es war lebenswichtig, dass sie ihn genau an der gezeigten Stelle traf.
Sie blickte auf das, was sie für den Bauch des Druiden hielt. In Wahrheit war es die Mitte des Baumstamms. Thura fügte hinzu: „Ich gebe dir eine Chance! Ich werde dich Wiedergutmachung leisten lassen...“
Der Erzdruide war erschüttert. Obwohl er sich als so übel und boshaft präsentiert hatte, war sie gewillt, ihm eine Chance zu geben, sein Leben zu retten!
Schlagt zu!, wiederholte er und suggerierte ihr ein Bild der Verachtung.
Thura blickte ihn an.
„Wenn das deine Antwort ist...“, zischte die Orckriegerin und holte mit der Axt aus. „Ich habe dir deine Chance zu leben gegeben... jetzt gewähre ich dir die Gnade des Todes...“
Plötzlich umgab eine große silberne Sphäre die Orcfrau.
Nein! Nein! Nein!, flehte der Erzdruide. Nicht jetzt! Ihr wisst nicht, was Ihr da tut!
Aber seine geliebte Tyrande hörte ihn nicht, obwohl Malfurion mit all seiner Macht versuchte, sich verständlich zu machen. Die schlanke Hohepriesterin griff die Orcfrau an, die ihren Schlag zu Ende führte – oder es zumindest versuchte.
Wäre Elunes Licht nicht gewesen, hätte die Axt ihre Aufgabe gut erfüllt. Doch obwohl die Magie der Waffe die Sphäre schwächte, erreichte die Axt niemals den Baum.
Tyrande stieß ein überraschtes Grunzen aus angesichts der Macht der Axt. Augenblicklich trat sie nach Thura. Ihr Fuß traf die Orckriegerin in die Seite, als Thura versuchte, zu ihr herumzuwirbeln.
Thura taumelte zurück.
Die Hohepriesterin setzte den Angriff fort und trat zweimal nach. Der erste Tritt landete hart auf der Brust ihrer Gegnerin, doch den zweiten hielt die keuchende Kriegerin mit den Unterarmen auf.
Thura schlug mit der Axt zu und drängte Tyrande zurück. Als Antwort beschwor die Nachtelfe Elunes Licht. Doch bevor sie den Zauber wirken konnte, schlug Thura mit Brox’ Waffe zu. Tyrande wurde zurückgedrängt.
Dieser Kampf tobte vor einem immer besorgter werdenden Malfurion. Je länger die beiden kämpften, desto geringer war die Chance, dass eine von ihnen überleben würde. Er versuchte, die beiden mit seinen Gedanken zu erreichen, aber er schaffte es nicht.
Wie hatte Tyrande ihn ausgerechnet in diesem Moment gefunden? Malfurion hatte sehr genau gewusst, wie weit sie entfernt gewesen war. Zudem hatte er sein Bestes gegeben, sie insgeheim vom Weg abzubringen, doch das war fehlgeschlagen...
Eine weitere Gestalt betrat unerwartet das Schlachtfeld. Es war ein zerlumpt wirkender Mensch, der nur deshalb interessant wirkte, weil er eigentlich unmöglich hier sein konnte. Doch Malfurion wusste genau, wer es war, und jetzt hatte er auch seine Erklärung, wie Tyrande ihn zu diesem kritischen Zeitpunkt gefunden hatte.
Ysera hatte Malfurion versprochen, dass ihre Diener Thura, die ja Teil seines Plans war, in ihr Reich führen würden, ohne dass der Albtraumlord etwas davon erfuhr. Malfurion hatte geglaubt, dieser Führer wäre ein Druide oder einer von Yseras Drachensippe gewesen. Als er einen grünen Drachen nahe Thura gespürt hatte, hatte es gut ins Bild gepasst.
Aber warum musste es ausgerechnet ein Mensch sein?
Die zerlumpte Gestalt war hinter Thura aufgetaucht. Es war fraglich, ob der Mensch unter normalen Umständen den Kampf mit einer erprobten Kriegerin gewinnen konnte. Doch hier herrschten keine normalen Umstände.
Zu Malfurions Überraschung packte der Mann Thura einfach an der Hüfte. Welchem Zweck das diente, wurde einen Augenblick später klar, als die Orcfrau und ihr Angreifer verschwanden.
Und mit ihnen schwand die Axt... und damit Malfurions letzte Hoffnung.
Aber im letzten Moment wand sich Thura aus seinem Griff. Sie stürzte auf die Knie.
Währenddessen spürte Malfurion, wie sich die Aufmerksamkeit des Albtraumlords schließlich doch auf die Geschehnisse um seinen wertvollen Gefangenen herum richtete.
Es war zu spät für den Erzdruiden. Doch er gab sein Bestes, um Tyrande und die anderen zu warnen. Seine Äste schüttelten sich, und die scharfkantigen Blätter zitterten, als er mit aller Willenskraft vor der Gefahr warnte.
Viel zu spät.... spottete der Albtraumlord. Viel zu spät...
Schatten erschienen über Malfurion, die skelettartigen Schatten der Äste des unsichtbaren Baums.
Aber der Angriff richtete sich nicht gegen den Erzdruiden. Stattdessen zielten die Äste auf die anderen.
Malfurion versuchte wieder, sie zu warnen, doch nur der Mensch schien ihn zu bemerken. Er blickte auf Malfurions makabre Gestalt und öffnete den Mund. Er sagte etwas zu den beiden Kämpfenden. Der Erzdruide schöpfte Hoffnung...
Eine gewaltige smaragdgrüne Kraft überstrahlte alles.
Der Schattenbaum prallte zurück. Der verderbte Nebel wich, und der Schrecken, von dem allein Malfurion wusste, dass er immer noch darin hauste, verschwand und suchte sich einen sichereren Ort.
Tyrande und Thura unterbrachen ihren Kampf, um mit ihren Blicken dem ausgestreckten Finger des Menschen zu folgen. Und obwohl Malfurion das Objekt ihres Interesses nicht sehen konnte, verstand er mit seinen anderen Sinnen die Bedeutung vielleicht besser, als sie es taten.
Der Himmel war voller Drachen. Yseras Drachen. Alle, die noch nicht korrumpiert waren, waren zu diesem verzweifelten Zeitpunkt herbeigeeilt, um den Albtraum und seinen düsteren Gebieter anzugreifen.
Eigentlich waren sie gekommen, um ihn zu retten.
Das war es aber nicht, was Malfurion gewollt hatte. Die Drachen riskierten ihr Leben. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Albtraum vor ihnen schwand.
Was als Ablenkungsmanöver begonnen hatte, um die Pläne des Erzdruiden umzusetzen, war nun zum eigentlichen Teil seiner Rettung geworden. Der große Aspekt hatte erkannt, dass die Orcfrau nicht wie vorgesehen handelte. Tyrandes Eingreifen hätte sich beinahe unabsichtlich zu einer Katastrophe entwickelt.
Der Nebel zog sich zurück, als wäre er verbrannt worden. Wo immer Yseras Diener ihre Kräfte einsetzten, zogen sich die düsteren Ranken zurück, und der Traum wurde wieder hergestellt. Das Ungeziefer verging in einem smaragdgrünen Leuchten und verblasste zu nichts. Das Gras und die Bäume waren wieder da.
Und diesen Moment nutzte Thura, um ihre Mission zu erfüllen. Sie ließ die abgelenkte Tyrande zurück und löste sich aus dem verzweifelten Griff des Menschen.
Malfurion drängte sie weiter. Er sah, wie sie die Axt hob.
Tyrande erblickte sie. Die Hohepriesterin leuchtete förmlich bei dem Versuch, die Orcfrau aufzuhalten.
Der Schattenbaum bewegte sich. Malfurion erkannte, dass Tyrande immer noch nicht glaubte, dass sie manipuliert werden konnte. Malfurion hatte nichts mehr zu verlieren und übernahm die Kontrolle über eine weitere Wurzel. Mit der hatte er gearbeitet, seit die erste Wurzel sich über sein Gefängnis hinaus erstreckt hatte. Eigentlich war sie dazu gedacht gewesen, Thura zu helfen, nicht Tyrande. Doch nun würde sie die Nachtelfe ablenken, wenn auch nur für eine einzige kritische Sekunde.
Doch noch jemand anderes kam Malfurion zu Hilfe. An seinem Geweih erkannte der Erzdruide, wer es war. Broll Bärenfell stürmte in Gestalt einer riesigen Raubkatze heran und erregte mit seinem Fauchen Tyrandes Aufmerksamkeit. Dadurch war offensichtlich, dass er wusste, was Malfurion vorhatte. Das war für Malfurion keine Überraschung, denn Broll war zusammen mit den grünen Drachen aufgetaucht.
Sein Erscheinen kam wie gerufen. Tyrande wurde abgelenkt und verpasste ihre Chance, Thura aufzuhalten.
Thura schlug zu. Der Schattenbaum, eigentlich der Albtraumlord, reagierte zu langsam.
Die Axt traf genau dort, wo Malfurion es gehofft hatte. Schmerz durchzog ihn, doch nach den stetigen Qualen, die er erlitten hatte, konnte er diesen Schmerz leicht ertragen. Wichtig war, dass die Axt – von Cenarius geformt und mit der Lebenskraft von Azeroth erfüllt – beim Aufprall auch die Zauber zerstörte, die Malfurion überrascht und letztlich eingefangen hatten.
Mit einem Schrei der Erleichterung warf Malfurion seine verderbten Fesseln ab. Die schwarzen, dornenbewehrten Blätter vergingen. Die Äste, die seine Arme und Hände gewesen waren, sanken zusammen und entrollten sich. Die Wurzeln zogen sich zurück, wurden zu Füßen, die dann wieder zu zwei Beinen wurden.
Das dunkle verweste Grün verschwand, und das strahlende Smaragdgrün seiner Traumgestalt erschien wieder.
Nein.... erklang die Stimme des Albtraumlords. So einfach geht das nicht...
Die Schatten von mehreren Ästen legten sich über Malfurions Brust.
Obwohl die Zweige wie auch er selbst feinstofflich waren – vielleicht genau deswegen -, fühlte sich der Nachtelf, als würde seine Brust zerquetscht. Die Euphorie seiner Flucht schwand, als er spürte, wie sein Feind erneut in seine Gedanken und seine tiefste Seele eindrang.
„Mal!“, rief Tyrande. Sie und Broll drängten beide auf den Erzdruiden zu. Auch der Mensch folgte.
Thura war sprachlos, so hatte sie sich ihren Angriff nicht vorgestellt. Sie blickte wie jemand, der bitter enttäuscht worden war.
Weitere Schattenäste senkten sich herab und drängten mit Leichtigkeit Malfurions vermeintliche Retter beiseite. Thura erkannte, was die größere Gefahr war und schlug nach einem der Schatten, der die Brust des Erzdruiden umschloss.
Es gab ein Zischen, als das magische Holz den Schatten berührte. Ein einzelner Ast flog weg, als bestünde er aus fester Substanz. Er landete in einiger Entfernung, wo er sich auflöste.
Der Albtraumlord heulte, wodurch Malfurion fast in Ohnmacht fiel.
Der Boden unter Thuras Füßen brach auf. Schattenwurzeln zerrten an ihren Beinen, und die Orcfrau schrie. Eine Hand hatte die Axt schon losgelassen. Die andere drohte ebenfalls den Halt zu verlieren.
Der Albtraum will, dass sie Brox’ Axt verliert! Malfurion mühte sich, um der Orcfrau zu helfen, doch die Schatten pressten seine Brust fester zusammen.
Komm..., hörte er seinen Entführer murmeln. Komm...
Aber der Erzdruide hatte nicht die Absicht, sich der Finsternis zu ergeben. Er strengte sich an und gab alles, um nicht zerquetscht zu werden.
Um sie herum reinigten die grünen Drachen das Land vom Albtraum. Die einzige Ranke, die noch weit hinausreichte, lag um Malfurion und den Schattenbaum. Trotz der drohenden Niederlage wollte der Herr des Albtraums ihn nicht gehen lassen.
Malfurion verstand warum. Der Albtraum brauchte ihn. Er war der Schlüssel zum Wachstum des Albtraums, sowohl im Smaragdgrünen Traum wie auch in Azeroth.
Doch die anderen wussten das auch nur zu gut. Der Schattenbaum wurde plötzlich in reine magische Energie gebadet, die zur gleichen Zeit den Nachtelfen mit Euphorie erfüllte.
Nur ein Wesen konnte eine derartige Macht ausüben. Malfurion kämpfte darum, aufzublicken, und er sah nun, was über ihm schwebte.
„Keine Verunreinigung des Schattens soll in meinem Reich zurückbleiben!“, rief Ysera. Ihre Augen waren geschlossen, aber Malfurion wusste, dass sie mit größter Genauigkeit sah, wo ihr Feind am verwundbarsten war. „Ich werde keines meiner Kinder an den Albtraum verlieren...“
Ysera öffnete die Augen. Der Blick des Aspekts funkelte, und obwohl er auf Malfurion nicht bedrohlich wirkte, spürte er das Unbehagen und die Furcht seines Entführers. Die Schattenäste flohen vor dem Druiden.
Einer der anderen grünen Drachen stieß zu der Gruppe hinab. Yseras Diener nutzte seine Magie, um jeden aufsitzen zu lassen, auch Thura. Es war sogar egal, dass Malfurion nur in seiner Traumgestalt anwesend war. Die Magie des Drachen hob ihn hoch, als bestünde er aus Fleisch und Blut.
Doch als sie in den Himmel hinaufgetragen wurden, erklang ganz in der Nähe in einer anderen Region des Nebels der Schrei eines anderen Drachen. Malfurion erblickte eines der größeren Männchen aus Yseras Sippe.
Eranikus.
Malfurion kannte die bewegte Vergangenheit von Yseras Gefährten gut und hatte schon des Öfteren seine Gegenwart gespürt. Er hatte Eranikus hier nicht erwartet, völlig überrascht war er von seiner Anwesenheit allerdings auch nicht. Der ehemals korrumpierte Drache wollte sich rehabilitieren und war dem Albtraum mit viel Selbstvertrauen entgegengetreten.
Und jetzt hatte der ihn erwischt. Hunderte der schrecklichen Nebelhände hielten ihn fest. Binnen Sekunden waren nur noch sein Kopf, eine Vorderpranke und ein Flügel sichtbar. Er blickte verängstigt zu Ysera.
Der Aspekt reagierte. Ysera wollte ihren Gefährten retten und achtete nur einen Augenblick lang nicht auf den Albtraum...
Und in diesem Augenblick schwoll der Schattenbaum zu unfassbarer Größe an und packte sie.
Die schrecklichen Äste umschlossen Ysera. Bevor sie reagieren konnte, stießen die Zweige sie zurück und schubsten sie in den Nebel hinein.
Im selben Moment stieß Eranikus ein wildes Lachen aus. Er verwandelte sich... in den hinterlistigen Lethon. Dessen widerliche Fratze verspottete die vor Schreck erstarrten Verteidiger einen Moment lang, bevor der korrumpierte Drache die Illusion vollständig auflöste und dem wahren Ziel des Albtraums folgte... Ysera.
Die anderen Drachen machten sich augenblicklich auf, um ihre Herrin zu retten. Doch der Albtraum wehrte sich mit einer derartigen Kraft, die niemand, nicht einmal Malfurion, erwartet hatte. Als bestünde er aus Tausenden Kraken, tasteten sich Ranken aus dem Nebel, die jeden packten, der unvorsichtig genug war, sich zu nähern. Der Albtraum erwischte zwei weitere Mitglieder der grünen Drachensippe, bevor sich die restlichen grünen Drachen zögerlich zurückzogen.
Malfurion brüllte. Er konnte nicht fassen, was geschehen war. Hätte Ysera nicht versucht ihn zu retten, wäre sie auch nicht in Gefangenschaft geraten.
Der Albtraum breitete sich immer weiter aus. Schnell, wie ein reißender Fluss, rauschte er auf seine Gegner zu. Die Ranken peitschten wild auf der Suche nach neuen Opfern.
Sie hatten keine Wahl, sie mussten fliehen.
Der Erzdruide wusste, dass er keine Chance hatte, dennoch ließ er den magischen Schutz des grünen Drachen hinter sich. Er konnte nicht zulassen – würde nicht zulassen -, dass Ysera als Gefangene dieser schrecklichen Macht zurückblieb.
Doch obwohl der Nebel immer weiter vordrang, zerfaserte er an einigen Stellen auch ein wenig. Einige unter den grünen Drachen interpretierten es als Zeichen der Schwäche. Vielleicht hatte sich der Albtraum übernommen, als er die Herrin des Traums gefangen hatte.
Malfurion aber konnte die vordersten der ungestümen Drachen nicht mehr rechtzeitig warnen. Einer der Ersten, der sich in den Nebel stürzte, machte es den Ranken durch seinen Eifer nur leichter, ihn zu packen und hineinzuziehen. Wie die anderen zuvor, wurde er gänzlich verschlungen.
Die restlichen Drachen wurden zurückgetrieben. Zudem spürte Malfurion, dass die an anderen Orten kämpfenden Verbündeten ebenfalls wichen. Es war, als stünden sie einem völlig neuen und weit fähigeren Gegner gegenüber. Drachen, Urtume, Druiden... sie alle mussten sich zurückziehen, wollten sie nicht ebenfalls vom Nebel verschluckt werden.
Hinter ihnen allerdings wurde der Nebel immer dünner. Langsam wurde die zerstörte Landschaft wieder sichtbar, die einst der Smaragdgrüne Traum gewesen war. Ehemals stolze Hügel waren nun mit schwarzen Pockennarben bedeckt, und Ungeziefer krabbelte darüber. Die übrig gebliebenen Bäume hatten die meisten ihrer Blätter verloren und waren von kleinen rötlichen Saugern übersät, die nur aus Mäulern und Zähnen zu bestehen schienen. Die Äste wanden sich die ganze Zeit, als würden sie nach etwas suchen, das so unvorsichtig war, in ihre Reichweite zu gelangen.
Auf dem Boden wimmelte es von Käfern und anderem Krabbelgetier. Dazu tropfte etwas Widerliches wie Eiter aus den schroffen Rissen, die sich nun überall öffneten. Der Geruch nach Verwesung erfüllte die Luft schlimmer denn je.
Und dann offenbarte der Albtraum den anderen, was Malfurion bereits wusste. Der Druide hatte gehofft, dass das Böse nach seiner Flucht zumindest etwas geschwächt sein würde. Doch es war noch viel schrecklicher geworden als alles, was sein Entführer ihm zuvor gezeigt hatte.
Überall, wo der Nebel lag, ballten die Feinde sich zusammen. Ihre Reihen breiteten sich so weit aus, wie das Auge sehen konnte und noch darüber hinaus. Und mit jeder Sekunde wurden es mehr, jedes Gesicht war von Schmerz und Gier gezeichnet.
Es waren die Schläfer, die dem Albtraum unwissentlich zum Opfer gefallen waren. Und es waren viele. Malfurion hatte gegen Dämonen und die untote Geißel gekämpft. Beide wirkten regelrecht harmlos gegen die grausamen Nachahmungen dieser Schläfer. Sie hatten ihre Seelen verloren, und das zeigte sich auch auf ihren Körpern. Wenn sie sich bewegten, geschah das sehr fließend, gleichzeitig war es aber auch offensichtlich mit einem derart starken Schmerz verbunden, dass Malfurions eigene Folter wie nichts dagegen wirkte.
Verschrumpelte Haut umspannte die Schädel. Ihre Münder öffneten sich zu endlosen Schreien und wurden dabei größer, als physisch überhaupt möglich war. Ihre Augen lagen tief in den Schädeln und starrten mit Abscheu auf alles, das nicht ihre Leiden teilte.
Und es wurden immer mehr. Mehr, als auf hundert Welten so groß wie Azeroth gepasst hätten. Sie entstammten jedem schrecklichen Traum, den jeder Schläfer durchlebte, und deshalb waren es wohl auch so endlos viele. Sie streckten die klauenähnlichen Hände aus, während sie immer näher und näher kamen...
Malfurion wusste, was diese Gegner wollten. Sein Entführer war nur zu erpicht darauf gewesen, ihm nicht nur ihre Leiden zu zeigen. Er hatte ihn auch spüren lassen, was er ihnen als Rettung vorgegaukelt hatte.
Ihr einziges Ziel bestand darin, das zu bekommen, und sei es nur für einen winzigen Augenblick, was alle, die dem Albtraum noch nicht zum Opfer gefallen waren, noch besaßen: die Fähigkeit, ohne Schmerz und Angst zu träumen.
Doch es war ein falsches Verlangen. Etwas, das sie niemals erreichen konnten. Er war nur ein Trick, um sie weiterzutreiben. Um sie in eine derartige Verzweiflung zu stürzen, dass sie sich gegen ihre Freunde und Familien wandten. Und das alles nur zum Nutzen des Albtraums.
Und egal, wie gut die meisten dieser Menschen im Leben auch gewesen sein mochten... ihre Ichs aus dem Albtraum würden keine Sekunde zögern, Azeroth zu vernichten.
Es wurden immer mehr, ihre Zahl stieg weiter an. Die verbleibenden Mitglieder von Yseras Drachensippe waren nichts gegen sie. Die Drachen griffen immer wieder an, doch sie hätten genauso gut mit ein paar Sandkörnern versuchen können, eine Flut aufzuhalten.
Malfurion wusste, warum. Er wusste auch, dass er vom Albtraumlord manipuliert worden war. Bei all seiner Gerissenheit hatte er dem Schatten einfach gegeben, was der in Wahrheit begehrt hatte. Der Nachteil hatte seinem Entführer in die Hände gespielt, als wäre er selbst einer der Korrumpierten...
„Wir müssen fort von hier!“, brüllte einer der älteren grünen Drachen. „Wir müssen uns neu formieren!“
Neu formieren? Warum?, fragte sich Malfurion im Stillen, immer noch erschreckt über die Rolle, die er gespielt hatte. Welche Hoffnung gibt es jetzt noch?
Der Albtraum hatte nie Malfurion selbst gewollt. Dessen Gebieter war Malfurions Plan allerdings sehr recht gewesen.
Malfurion war nur der Köder gewesen. Seine Kräfte, seine Bindung an Azeroth und den Smaragdgrünen Traum waren stark genug, um den Absichten des Albtraums dienlich zu sein. Aber das hatte nicht ausgereicht, sie wirklich zu erfüllen. Der Schatten hatte das Wesen gebraucht, das am engsten mit diesem magischen Reich verbunden war.
Von Anfang an hatte der Albtraum nur die Herrin des Smaragdgrünen Traums gewollt.