11 Nach Schattengrün

Wenig Licht drang von draußen herein. Der größte Teil der Beleuchtung in der Höhle war immer noch Tyrandes Werk. Doch selbst das schwache Leuchten von draußen schien den Drachen immer nervöser zu machen.

„Das ist nicht normal“, murmelte er. „Der Himmel sollte heller sein.“ Eranikus schloss für einen Augenblick die Augen, sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, dann öffnete er sie wieder und sagte: „Ihr hättet nicht bleiben sollen! Ich habe es draußen gesehen. Nicht die Wolken verdecken die Sonne, sondern ein Nebel, der sich eigentlich schon aufgelöst haben sollte. Es ist nicht normal... Ich spüre es – ich spüre den Albtraum näher als jemals zuvor...“

Der grüne Drache nannte das Reich selten bei seinem Namen, unter dem es seit ewigen Zeiten bekannt war. Für ihn existierte dort nur noch der Schrecken, zu dem es geworden war.

Über das Schicksal seiner Herrin Ysera sagte er nichts, was Broll nichts Gutes ahnen ließ. Obwohl auch er sich um seine Königin und Gefährtin sorgte, weigerte sich Eranikus kategorisch, sie nach Eschental zu begleiten – darüber stritten sie schon die ganze Nacht.

Eranikus blieb in seiner falschen Elfengestalt, als fürchtete er, in seinem wahren Körper erneut korrumpiert zu werden. Der Drache hatte sie mehr als einmal zum Gehen aufgefordert. Doch weder der Druide noch die Hohepriesterin würden ihm diesen Gefallen tun. Nicht einmal, wenn er ihnen drohte. Beide wussten, dass sie angesichts solch ernster Probleme jemanden brauchten, der sich im Smaragdgrünen Traum noch besser auskannte als Broll. Glücklicherweise war es recht offensichtlich, dass Eranikus keinerlei Absicht hatte ihnen zu schaden.

„Ich bin sehr geduldig mit euch gewesen“, knurrte der Drache und wandte sich von ihnen ab. „Geht, bevor ich euch hier rauswerfe.“

„Das hättet Ihr schon mehr als einmal tun können“, meinte Broll. „Und Ihr habt es nicht getan.“

„Verwechsle mein Elend nicht mit Schwäche!“, antwortete Eranikus und wandte sich an den Nachtelf. „Und nutze mein Bedauern nicht aus! Ich habe etwas Schlimmes angerichtet und weiß das auch. Doch selbst meine Geduld hat ihre Grenzen...“

Lucan hörte ihnen zu und ahnte, dass der Untergang bevorstand. Er hatte der Diskussion nicht folgen können. Er verstand jedoch, dass die Dinge schlechter wurden und dass alles irgendwie mit ihm zu tun hatte.

Er wollte zumindest ein wenig Ruhe haben. Und dieses Verlangen war allmählich immer stärker geworden. Der Kartograf gab dem Drängen schließlich nach. Da die Nachtelfen immer noch mit dem Drachen stritten – stritten, entschied sich Lucan fortzugehen. Nicht weit. Nur weit genug, um etwas Frieden zu finden.

Eranikus blockierte den Weg, durch den das Trio eingetreten war. Deshalb ging Lucan in die andere Richtung. Er wählte den Weg zufällig, wichtig war nur, dass er weit genug wegkam, um den Stimmen zu entkommen. Er wollte nur fort von hier.

Obwohl er kaum so unsichtbar wie der Druide oder die Hohepriesterin war, verließ der Mensch die Höhle, ohne bemerkt zu werden. Aufatmend schlenderte Lucan die enge Passage hinab.

Die Stimmen erklangen hinter ihm. Unbefriedigt ging Lucan weiter. Der Streit verblasste zu reinen Hintergrundgeräuschen, aber das reichte ihm noch nicht.

Lucan hatte den Lichtkegel, den Tyrande erschaffen hatte, verlassen. Doch etwas Licht von vorn erhellte das Dunkel ein wenig. Instinktiv ging er darauf zu.

Schließlich erreichte er einen Ausgang. Draußen war es zwar kaum heller, und der Nebel drang in den Durchgang ein. Aber trotz seiner Vorsicht spürte Lucan den Drang weiterzugehen. Es konnte nicht schaden, nur einen einzigen Schritt nach draußen zu tun. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr musste er nur wieder hineingehen.

Von dieser Logik überzeugt verließ der Mensch den Durchgang. Er wurde von einer nebligen Landschaft empfangen, die ihn an die Gegend erinnerte, von der er schon geträumt hatte. Obwohl er sich fürchtete, ging er hinaus.

Doch nach einer Nacht in der Höhle draußen zu sein, verschaffte Lucan auch Erleichterung. Ich bleibe nur einen Moment hier draußen, dachte er. Vielleicht... vielleicht wissen sie dann, was zu tun ist...

Er wusste nur, dass er nicht die geringste Lust hatte, nach Eschental zu reisen. Er hatte bereits erkannt, dass der Ort mit dem Traumreich verbunden war. Lucan hatte den Nachtelfen verschwiegen, dass, je näher sie dem Ort kamen, den der Drache zu Recht Albtraum genannt hatte, das Gefühl immer stärker wurde, zwischen Azeroth und diesem Ort hin- und herwechseln zu müssen. Alles, was mit dem Traumreich verbunden war, rief ihn.

Das, so erkannte Lucan, war der Grund, warum er hier überhaupt gelandet war. Er war von Anfang an in Richtung des Drachen gegangen. Denn Eranikus war nicht nur ein Teil seiner gleichermaßen erstaunlichen wie schrecklichen Vergangenheit, einer Vergangenheit, mit der Lucan gerade erst zurechtkam. Der Drache war, zumindest in der Vergangenheit, zudem ein integraler Bestandteil des Albtraums gewesen. Was auch immer diesen Teil in Lucan geweckt hatte, schien entschlossen zu sein, ihn auf diesem Weg in das andere Reich zu locken... Und genau das wollte Lucan unter allen Umständen vermeiden.

Der Kartograf ging auf und ab. Die ganze Nacht lang, während die anderen sich zu einigen versucht hatten, hatte er zu verstehen versucht, warum er dazu gezwungen werden sollte. Als Waise, die von guten Menschen in Sturmwind aufgezogen worden war, hatte er ein ganz normales Leben erwartet. Magie und Monster waren nichts für ihn. Seine Reiselust basierte nur auf dem Wunsch, das Kartenmaterial zu verbessern, auf das sein Meister seinen eigenen Namen setzen würde. Mehr wollte Lucan gar nicht.

Er war absolut kein Feigling. Doch außerhalb seiner Träume war er auch kein Abenteurer.

Beim letzten Gedankengang verzog er das Gesicht. Gerade meine Träume sind ja das Problem!

Plötzlich knirschten irgendwo ein paar Steine, und Lucan blickte sich um. Erst da bemerkte er, dass er weiter von der Höhle weggegangen war, als er gewollt hatte. Der Durchgang war nun nur noch ein ferner Schemen hinter ihm.

Er wandte sich um und eilte hastig darauf zu.

Eine kräftige Gestalt packte ihn von hinten. Er roch einen Körper, der noch ungewaschener als sein eigener war. Lucan sah die Hände, die den Axtgriff umklammert hielten und ihm die Luft aus der Brust pressten. Dadurch wurde er zudem daran gehindert, um Hilfe zu rufen. Dann bemerkte er, dass die Hände dick und grün waren.

„Orc...“ keuchte er. Das Wort war kaum mehr als ein Flüstern. Lucan versuchte es erneut, nur dieses Mal hatte er gar keine Luft mehr. Ihm begann schwindelig zu werden, und sein Blick verschwamm.

Doch er wurde auch... grün.

Als das geschah, verschwand der Druck von seiner Brust. Trotzdem presste ihn eine starke Kraft zu Boden. Lucan fiel aufs Gesicht, der Boden fühlte sich plötzlich viel weicher an, angenehmer als zuvor.

„Ja...“, raunte eine tiefe Stimme, die dennoch weiblich klang. „Ich bin... dem Ort der smaragdgrünen Schatten nah...“

„Sma... smaragdgrün?“, stieß Lucan hervor. Er blickte mit Schrecken auf und sah, dass die Stimme die Wahrheit gesagt hatte. Er war im anderen Reich... nur dieses Mal war er nicht nur einfach durchgereist.

Bevor der Kartograf mehr erkennen konnte, wurde er auf die Beine gerissen und dann herumgewirbelt.

Vor ihm stand ein Orc, und er war weiblich. Lucan hoffte für die Frau, dass sie mit so einem Gesicht zumindest unter ihresgleichen attraktiv wirkte. Der Mund war breit, und auf der kurzen, platten Nase wuchs eine dünne Schicht von Haaren. Die Augen blickten ihn böse an und waren so ziemlich das Einzige, was man attraktiv nennen konnte. Bei einer Menschenfrau wären sie sogar umwerfend gewesen.

Der Kopf einer Axt stieß unter sein Kinn. Die Orcfrau knurrte: „Bring mich zu ihm!“

„Zu... zu wem?“

„Dem Ehrlosen! Dem Mörder! Der bösen Bedrohung für alle! Dem Nachtelf, der sich Malfurion Sturmgrimm nennt!“

Lucan versuchte das Kinn zu heben, doch die Axt ließ ihn nicht los. Durch zusammengepresste Zähne antwortete er: „Ich weiß nicht – wo er sich aufhält!“

Es lief nicht gut mit seiner Gegnerin. Lucan fragte sich, warum er nicht nach Azeroth zurückglitt, so wie stets in der Vergangenheit. Er konzentrierte sich... aber nichts geschah, mit Ausnahme, dass die Orcfrau den Axtkopf nun fester unter sein Kinn presste.

„Du weißt schon! Die Vision hat es mir in der letzten Nacht verraten! Ich habe dich dort gesehen, als er den großen und treuen Brox erschlug...“

„Ich weiß... nicht, was du wi...“ Er hörte auf, als ein stechendes Gefühl unter seinem Kinn ihm verriet, dass die Axt ihn geschnitten hatte.

„Der Traum war schon wieder anders! Jedes Mal sagt er mir, was ich tun muss! Ich bin dem Ende nahe, Mensch! Ich werde meinen Blutsverwandten rächen... und du wirst mir dabei helfen oder das Schicksal des Nachtelfen teilen!“

Lucan wusste, dass sie es auch so meinte. Er murmelte vorsichtig: „Ja... ich bringe dich dorthin.“

Der Axtkopf senkte sich. Die Orckriegerin beugte sich vor, ihr Atem stank fast so schlimm wie ihr Körper. Sie blickte durch ihn hindurch. Offensichtlich war sie mit den Gedanken anderswo. „Meine Rache ist vorbestimmt... Ich habe geträumt, dass du aus der Höhle herauskommen würdest und wusste auch wo. Und genauso ist es auch geschehen! Malfurion wird sterben...“

Sie drehte ihn wieder zurück, sodass er sie führen konnte. Erst dann sah Lucan zum ersten Mal den Ort, den er zuvor durchlaufen oder nur halbtot erlebt hatte.

Die Landschaft wirkte sehr idyllisch. Es war ein unberührter Fleck reiner Natur. Langes, fließendes Gras wuchs auf Hügeln und Feldern.

Und überall standen üppige Bäume. Hierher war die Zivilisation sicherlich noch nicht vorgedrungen. Es gab Tiere. In der Ferne zwitscherten einige Vögel. Es wirkt tatsächlich wie einem Traum entsprungen, dachte er.

Dann bemerkte der Kartograf, dass es in direkter Nähe keine Vögel gab. Alle schienen weit weg zu sein. Weil er sonst nichts Interessantes erkennen konnte, warf er einen Blick über seine Schulter zurück.

Lucan blieb der Mund offen stehen. Auch wenn sich der Anblick noch in einiger Entfernung befand, versuchte er doch verzweifelt, auf die Ebene der Sterblichen zurückzukehren, um dem, was er sah, zu entfliehen... aber es war vergebens.

Als würde sie nicht erkennen, was eigentlich keinem lebendigen Wesen entgehen konnte – und was kein lebendiges Wesen jemals sehen wollte -, benutzte die Orcfrau den Axtstiel, um Lucan unsanft vorwärtszustoßen... direkt auf den Albtraum zu.


Eranikus erschauderte. „Der Weg wurde geöffnet!“ Er blickte sich um. „Wo ist der Mensch?“

Alle Streiterei war vergessen, als das Trio nach Lucan suchte. Broll entdeckte die Spur zuerst. „Er ist da lang!“

Tyrande folgte dem Druiden, doch Eranikus rannte in die entgegengesetzte Richtung. Keiner der Nachtelfen hatte die Zeit, sich um den Drachen zu kümmern, der sich weiterhin unerschütterlich weigerte, ihnen zu helfen.

Augenblicke später stürzte Broll ins Freie. Der Nebel war dichter und erinnerte viel zu sehr an Auberdine.

„Seht Ihr ihn?“, fragte die Hohepriesterin.

„Nein, aber in dieser dichten Suppe kann er nicht weit gekommen sein.“

Tyrande streckte die Handfläche vor sich und begann flüsternd zu beten. Der Nebel zog sich zurück, als würde er von einer unsichtbaren Hand beiseitegeschoben.

Nur gab es auch jetzt kein sichtbares Anzeichen des Kartografen. Der Druide untersuchte wieder den Boden. Schnell fand er Lucans kaum sichtbare Spuren.

„Er ist hier langgegangen. Doch es sieht aus, als wäre er viel hin- und hergelaufen. Er...“ Broll pausierte, dann presste er sein Gesicht fest gegen den Boden, als er die Spuren genauer analysierte. „Da sind noch weitere Abdrücke... die sehen aus, als ob sie von einem Orc stammen.“

„Ein Orc? Hier?“

Ein schweres Flügelschlagen ließ beide Nachtelfen aufblicken. Über ihnen erschien die riesige Gestalt des grünen Drachen in all seiner Pracht. Er war groß im Vergleich zu allen anderen Drachen, die sie bislang gesehen hatten. Abgesehen vielleicht von den großen Aspekten. Doch Eranikus war schlanker und länger als die meisten anderen seiner Artgenossen. Schwebend hatte er die Flügel weit zu jeder Seite ausgestreckt. Auf seinem Kopf prangten zwei lange Hörner. Sein schmales Maul öffnete sich, und man konnte die beunruhigend scharfen Zähne erkennen, die jeder so lang wie Brolls Arm waren. Unter seinem Kinn wuchs ein kleines Haarbüschel, was ihm zu einem gelehrten Aussehen verhalf.

Doch viel erstaunlicher war, dass Eranikus leicht schimmerte, als wäre er nicht vollständig mit der Ebene der Sterblichen verbunden. Dadurch erhielt der riesige Drache ein ätherisches Aussehen, was zudem die Bande zum Smaragdgrünen Traum betonte, die er trotz seiner momentanen Sorgen immer noch hatte.

Eranikus beobachtete die Landschaft.

„Kein Anzeichen von dem kleinen Menschen, nirgendwo! Obwohl ich beinahe blind bin, wenn ich meine Augen wie ein sterbliches Wesen benutze!“, zischte der Drache schließlich. Dabei verschwieg er, dass er es unter den gegebenen Umständen nicht wagte, zu viel Kontakt zum Smaragdgrünen Traum – und damit zum Albtraum – aufzunehmen. „Und der Weg hat sich wieder geschlossen!“

„Er wurde von einem Orc gefangen genommen, wie es scheint“, meinte Broll.

Der riesige Drache zeigte seine scharfen Zähne. „Er muss versucht haben zu fliehen, indem er seine einzigartige Fähigkeit benutzte.“

„Wenn er das getan hat... dann hat er den Orc mit sich genommen“, meinte Tyrande.

Immer noch schwebend neigte Eranikus den Kopf. „Ich habe den Orc hier gewittert. Doch es war nur ein sehr schwacher Geruch. Das bedeutet vielleicht, dass es nur ein Einziger ist. Und kein Orc wäre dumm genug, mich zu suchen...“, zischte er. „Anders als so manche Nachtelfen!“

Broll gefiel der Tonfall in seiner Stimme nicht. „Warum sollte ein Orc mehrere Tage lang hierbleiben? Was könnte er an diesem Ort wollen?“

„Es könnte reiner Zufall sein“, antwortete die Hohepriesterin. „Doch ich glaube, irgendjemand wollte den Orc von Anfang an hier haben. Wenn man zudem bedenkt, dass Lucan gleichzeitig hier auftaucht, der über seine Vergangenheit mit Eranikus verbunden ist, dann sind mir das ein paar Zufälle zu viel, um daran glauben zu können...“

Der grüne Drache grollte düster. Er blickte die Nachtelfen an. „Ich bleibe so lange bei euch, bis ich euch nach Eschental gebracht und sichergestellt habe, dass euer Weg dorthin frei ist! Mehr mache ich nicht!“

Obwohl beide dankbar waren, musste Broll fragen: „Warum habt Ihr Eure Meinung geändert? Warum bringt Ihr uns zu dem Ort, der für Euch doch so schrecklich ist?“

Eranikus starrte in die Luft, als ob er über etwas nachdachte. Schließlich sagte er: „Weil mir der Gedanke nicht gefällt, dass da etwas die ganze Zeit am Werke ist... etwas, das es einem Orc ermöglicht, den Albtraum zu betreten!“

Der Druide war skeptisch. „Aber aus welchem Grund?“

Der große Drache blickte besorgt. So besorgt, dass das Unbehagen des Nachtelfen wuchs. „Nun, das ist die Frage, kleiner Druide... das ist die Frage...“

Er landete, und mit der Spitze seines Kopfs bedeutete er den beiden, auf seinen Hals zu klettern. Tyrande war schon zuvor auf Drachen geflogen und gehorchte deshalb ohne zu zögern. Broll runzelte die Stirn, folgte dann aber auch. Seine Fluggestalt als Sturmkrähe konnte mit dem Tempo des Drachen nicht mithalten.

Als sie bereit waren, hob Eranikus ab. Er kreiste einmal, dann flog er in die Richtung, in der, wie der Druide vermutete, Eschental lag.

„Wie lange brauchen wir, bis wir da sind?“, rief Tyrande. „Wie weit ist es bis nach Eschental?“

„Nicht so lange, doch vielleicht zu lange!“, brüllte der Drache. „Drückt euch gegen meinen Hals und haltet euch fest!“

Sie rasten mit einer Geschwindigkeit über den Himmel, die den Nachtelfen beinahe den Atem raubte. Der böige Wind wäre vielleicht schwer zu ertragen gewesen, doch Eranikus bog seinen Hals so, dass er sie ein wenig davor schützte.

Broll beugte sich nach rechts. Aber nur so weit, um den Boden sehen zu können. Was er sah, beunruhigte ihn noch mehr. Überall war Nebel. Er war kein dickes Tuch, noch gab es ein paar freie Flecken. Doch das Muster erinnerte ihn an etwas.

Als Druide fiel es ihm schließlich ein. Äste... die Ranken des Nebels sehen wie Äste aus. Äste von einem bösen Baum...

Die Ähnlichkeit wurde noch durch die Bereiche verstärkt, die an Blätter mit zahnigen Kanten erinnerten. Broll wurde dadurch an die Visionen erinnert, die er zuvor durchlitten hatte, und er überlegte, wie das alles wohl zusammenhing.

Sie flogen immer weiter. Die Hügel wurden zu bewaldetem Land. Die Luft kühlte sich ein wenig ab. Die Wälder verdichteten sich zu saftigen grünen Forsten, die Broll von früheren Reisen her kannte.

„Ich sehe es...“, informierte Eranikus sie. „Schattengrün liegt direkt vor uns...“

„Direkt vor uns“, bedeutete für die Passagiere, dass es noch einige Minuten für sie außer Sieht blieb. Dann...

„Ich sehe es!“, rief Tyrande.

Broll tippte ihr zustimmend auf die Schulter. Auch er konnte schließlich den Großen Baum erkennen.

Er war kleiner als seine mächtigeren Geschwister. Doch er erhob sich immer noch hoch über die Region, ein wahrer König. Aus der Ferne schien sich der Baum in guter Verfassung zu befinden, auch wenn sein Fuß von Nebel bedeckt war. Seine großen Äste breiteten sich beinahe über eine Meile aus, und in seinen Zweigen konnte man viele Kreaturen erkennen, darunter einige, die als Wächter dienten. Er gehörte zu einer Handvoll von besonderen Bäumen. Die anderen standen zum Beispiel im erstaunlichen Kristallsangwald, der kein richtiger Wald war, sondern ein mystischer Ort im kalten Nordend, wo statt Bäumen Kristallformationen wuchsen. Ein anderer Baum stand im Hinterland, östlich des Nistgipfels gelegen, der Heimat der auf Greifen reitenden Wildhammerzwerge. Im düsteren und gefährlichen Dämmerwald wuchs ein weiterer dieser Bäume, und im tiefen, dunklen Dschungel von Feralas befand sich ebenfalls einer.

An all diesen Orten gab es Portale, aber für die Druiden und Broll war Eschental der mit Abstand sicherste Ort. Zumindest bislang.

Doch als sie sich näherten, sagte der Drache: „Die Gegend ist völlig unbelebt. Ich kann niemanden sehen, weder Nachtelf noch sonst jemanden...“

„Das kann nicht sein“, antwortete Broll. „Die Druiden wurden abberufen, es gab allerdings noch einige andere, die hier sein sollten!“

„Wir werden sehen.“ Eranikus kreiste einmal, dann sank er tiefer.

Als der Drache landete, konnten die Nachtelfen einen ersten Blick auf den Fuß des großen Baums und das Portal werfen, das ihre größte Hoffnung darstellte.

Das Portal war von Ranken gesäumt, und geriffelte, breite Säulen standen daneben. Ein aus Felsbrocken gebildeter Weg führte zwischen ihnen hindurch direkt zum Baum.

Das Portal selbst war rund. Es wurde von den Wurzeln des Baums geformt. Sie wanden sich umeinander und bildeten so einen Bogen. In dem Bogen waberte eine zweite Grenzschicht von violetter Farbe, die Energie ausstrahlte.

Doch der Kern zog alle Blicke auf sich. In dem Portal wirbelte smaragdgrüne Energie. Immer wieder leuchteten darin kleine grüne Blitze auf.

Dieses Portal war der Schlüssel zu ihrem Plan, Malfurion zu befreien. Es bildete gleichermaßen den physischen Weg in den Smaragdgrünen Traum und den Albtraum. Dabei war es der einzige Weg, dem man vielleicht noch trauen konnte – und er lag offen vor ihnen.

Aber das konfrontierte sie mit einer weiteren Sorge.

„Es ist, wie Ihr gesagt habt“, sagte Tyrande zu dem Drachen. „Niemand ist hier, obwohl viele Wächter anwesend sein sollten.“

„Könnten sie im Osten sein?“, fragte Broll. „Die Horde ist jüngst recht frech geworden und hat versucht, diesen Teil des Waldes abzuernten. Darüber war Malfurion bereits vor ein paar Jahren schon sehr besorgt.“

„Könnte sein“, gestand der Drache ein. „Doch die meisten Wächter sind meiner Königin unterstellt... und würden nicht weggehen, zumindest nicht ohne ihr Einver...“

Eranikus stieß ein erschrecktes Brüllen aus, als ein großer Fels auf seinen Rücken donnerte. Die Attacke war unvorbereitet gekommen. Und weil er gerade die beiden Nachtelfen transportiert hatte, hatte er sich nicht sonderlich um die Verteidigung gegen solch einen primitiven, aber mächtigen Angriff gewappnet.

Noch bevor der Drache wusste, wie ihm geschah, traf ihn ein zweites Geschoss. Eranikus taumelte auf das Portal zu und warf mehrere Säulen um.

Die Nachtelfen wandten sich dem Feind zu. Broll verwandelte sich in den schrecklichen Bären, und Tyrande umfasste die Gleve.

Aus dem Wald brach ein Riese hervor, der von den Bäumen selbst abzustammen schien. Sein Körper war mit dicker Borke bedeckt, und er hatte einen langen Bart aus Blättern. Zwei Stoßzähne stießen aus seinem Maul, und seine Augen waren von einem goldenen Zorn erfüllt, der sich nicht gegen die Nachtelfen richtete, sondern gegen den Drachen.

„Korrumpierter...“, knirschte er, seine Stimme klang, als schabe Holz gegen Holz. „Du kommst nicht vorbei...“

„Ein Urtum des Krieges!“, rief die Hohepriesterin.

So schnell er sich verwandelt halte, nahm Broll wieder seine wahre Gestalt an. Er lief zu dem tobenden Riesen und baute sich furchtlos vor den schrecklichen Klauen auf, die großen scharfen Holzsplittern glichen und sicherlich mehrere Druiden auf einmal aufspießen konnten.

„Knorre!“, rief Broll so laut er konnte. „Knorre, Urtum des Krieges, Beschützer von Eschental und Waldeslied! Ihr kennt mich! Ihr kennt mich!“

Das Urtum zögerte. Die mächtige Kreatur trug kaum Rüstung, die zudem eher dekorativ denn schützend war. Furchterregende Gesichter und mystische Muster schmückten sie. In Wahrheit brauchte das Urtum kaum Schutz. Es gab nicht viel, was einen wie ihn hätte verletzen können. Die Urtume gehörten zu den ältesten Wesen auf Azeroth, den ersten Wächtern des Lebens. Sie waren genauso sehr Pflanze wie Tier und bargen geheimes Wissen von jeder Art.

Der Riese neigte den Kopf, als er den Druiden beobachtete. Sein plumpes Gesicht ähnelte ein wenig dem eines Hundes, doch die Augen zeugten von einer Intelligenz, die viel größer war. In der Tat hatten die Urtume des Krieges den Nachtelfen erst viele ihrer Fähigkeiten beigebracht.

„Ja, ich kenne dich, Nachtelf! Du bist der Wanderer und Freund, den man Broll Bärenfell nennt...“ Knorre neigte kurz den Kopf. „Mein Beileid zum Tod deines Kindes...“

Broll ballte die Faust, obwohl er das vor dem Urtum verbarg. Urtume lebten viel länger als die Nachtelfen, deshalb waren für sie Jahre nur wie Sekunden. Für Knorre war Anessas Tod gerade erst geschehen, und so war es noch neu für ihn. Knorre wollte Broll nicht daran erinnern... nicht, dass der Druide ihren Tod je hätte vergessen können.

Doch dann wandte Knorre seine Aufmerksamkeit wieder Eranikus zu, der sich schließlich senkrecht aufgerichtet hatte. Der Drache breitete die Flügel aus und zischte dem Urtum etwas entgegen. Obwohl Knorre kleiner war, wirkte der Wächter nicht verängstigt, als er Eranikus direkt gegenübertrat.

„Korrumpierter! Du wurdest gewarnt...“

„Ich habe nur diese beiden hierher gebracht, damit sie meiner Königin und ihrem Freund helfen, der auch dein Freund ist! Malfurion Sturmgrimm!“

„Sturmgrimm...“ Knorre blickte unsicher. „Wir haben seine Abwesenheit bemerkt... aber auch seine Gegenwart...“ Die Augen blickten Eranikus an. „So wie wir dein Herannahen während der letzten Tage gespürt haben... und die Korrumpierung, die du mit dir bringst...“

Der Drache verwandelte sich zurück. Es war offensichtlich, dass die Bemerkung des Urtums irgendetwas in ihm aufgewühlt hatte.

„Er ist von der Korrumpierung befreit!“, korrigierte ihn Broll und verteidigte Eranikus. „Er ist ein Verbündeter und wieder ein Freund!“

„Nein!“ Knorre hob die mächtige Hand. „Er...“ Der Riese blinzelte. „Ich sah, wie er dem Bösen erneut verfiel! Er...“ Knorre blinzelte. „Nein... das war nur ein Albtraum... einer von vielen in letzter Zeit. Er wirkt gar nicht korrumpiert... doch...“

Broll nutzte das Zögern des Urtums aus und stellte eine Frage, die ihn beschäftigt hatte. „Knorre... wo sind die anderen Wächter?“

Der Gesichtsausdruck des Waldhüters wurde grimmiger. „Einige sind im Osten, einige im Norden, andere im Süden... und wieder andere... schlafen und wachen nicht auf...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe sie in Sicherheit gebracht... doch ich wurde selbst so müde... vielleicht werde ich auch bald zu einem der ihren.“

„Was ist geschehen?“

Knorre berichtete ihnen, wie die Wächter – Urtume, Nachtelfen, grüne Drachlinge, Dryaden und die Drachen der grünen Sippe – viel zu lange schon keine Befehle mehr von Ysera erhalten hatten. Sie hatten sich gesorgt. Ihre Sorge war schlimmer geworden, als eine Dryade namens Shael’dryn zu ihnen kam, nachdem sie von ihrem Mondbrunnen geflohen war. Diese Brunnen – die an die Magie der Natur und das Licht von Elune gebunden waren – waren Orte der Heilung für das Land und aller, die das Wasser daraus tranken. Magier und andere Spruchweber konnten ihr Mana dort auffrischen. Es war ein Geschenk von Mutter Mond an alle Verteidiger Azeroths. Shael’dryn war die Hüterin des nördlichsten Brunnens gewesen.

„Ich kenne sie“, sagte Broll mit einem leicht schiefen Lächeln. „Eine Wortakrobatin, sie liebt Wortspiele...“

Knorre schüttelte den schroffen Kopf. „Als sie zu uns kam, hat sie nicht gelacht. Sie warnte uns – vor Angreifern im Dunklen, die die Brunnen heimsuchten. Die Dryade nannte sie nur Schatten, obwohl sie meinte, dass sie sie noch an etwas anderes erinnerten.“

Niemand hörte, wie Tyrande scharf einatmete. Dann fragte sie: „Wo ist sie? Es wäre klug, mit ihr zu reden.“

„Das ist unmöglich“, antwortete das Urtum. „Sie schläft bereits seit zwei Tagen.“

Er fuhr fort und berichtete ihnen, wie, nach allem, was er von der Dryade erfahren hatte, die Urtume und die anderen Wächter aufgeteilt worden waren, um die Mondbrunnen und andere strategische Positionen zu verteidigen. Und Knorre war zum Schutz des Portals zurückgeblieben.

„Es waren mehr als ein Dutzend hier... alle stark... besonders die Drachen. Doch damals wussten wir nichts von dem Schlaf, aus dem man nicht mehr erwacht. Davon haben wir erst erfahren, nachdem wir uns aufgeteilt und verabschiedet hatten...“

„Ihr wurdet wie Schachfiguren behandelt“, sagte Eranikus, nicht ohne eine gewisse Befriedigung über die Fehler anderer zu zeigen. „Hmmmpf!“

Knorre interessierte sich offensichtlich nicht für die Kommentare des Drachen. Deshalb verteidigte er sich und seine Kameraden nicht. Stattdessen wies das Urtum zum Portal hin. „Ich werde euch nicht im Weg stehen... geht durch, wenn ihr es für nötig haltet...“

„Ich bin nicht so dumm, dort einzutreten! Das bleibt den beiden hier vorbehalten!“

Jetzt zeigte Knorre seine Verachtung, obwohl Eranikus ihn ignorierte. Den Drachen vergessend, sagte der Waldhüter zu Broll: „Waldbruder, ich würde mitgehen... doch einer muss hierbleiben...“

„Das verstehe ich. Ich werde allein gehen...“

„Wir gehen zusammen“, unterbrach ihn Tyrande.

Wie immer gab es keine Diskussion mit der Hohepriesterin. Broll zuckte die Achseln. „Dann sollten wir aufbrechen.“

Eranikus bewegte sich zur Seite. Die Nachtelfen gingen auf die glitzernden Energien im Portal zu.

Tyrande keuchte. „Es sieht so... schön aus.“

„Einst war es das auch.“

„Wie treten wir ein?“

„Geht einfach hinein“, antwortete der Druide. „Und dann seid auf alles vorbereitet.“

„Das bin ich immer.“

„Lebt wohl“, sagte Knorre. Das Urtum hob eine seiner schweren Hände. „Das Gefühl der Korrumpierung ist immer noch nahe...“

„Der Albtraum hat schon viel Gebiet vom Traum erobert“, erklärte Eranikus ungeduldig. Er war jetzt vorsichtiger, nachdem die beiden dabei waren, einzutreten. „Ich spüre das Böse mehr denn je. Wenn ihr erst durch seid, werde ich fortgehen!“

Broll an der Spitze wartete und blickte ein letztes Mal zu dem Drachen. „Wir danken Euch trotzdem für Eure Hilfe.“

„Dankt mir nicht dafür, dass ich euch in eine mögliche Katastrophe geführt habe, kleiner Nachtelf!“

Tyrande blickte auf das Portal und unterbrach sie. „Broll, da ist etwas...“

Das Portal leuchtete. Die smaragdgrünen Energien verdunkelten sich, dann schwollen sie an, breiteten sich aus und umschlossen die beiden Nachtelfen.

Als sie versuchten, sich aus diesem Griff zu lösen, erklang spöttisches Gelächter in ihren Ohren, und ein furchterregender Kopf, der sowohl wie Nebel als auch real wirkte, stürzte auf sie zu. Wie die Energien des Portals war die Kreatur ein grässlicher grüner Schatten.

Wir haben auf euch gewartet...“, sagte der Drache.

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