27 In das Auge hinein

Menschen, Elfen verschiedener Art, Orcs, Zwerge, Trolle, Tauren, Gnome, Furbolgs, Untote und noch viele mehr setzten den Kampf gegen die unerbittliche Flut von Feinden fort. Krieger, Druiden, Magier, Priester – sie und alle anderen nutzten ihre besonderen Fähigkeiten.

Varians Armee aus Traumgestalten opferte sich weiterhin an der Front und tötete eine unlässbare Zahl von Feinden. Die Kämpfer starben nicht nur durch die Klauen der Satyre, sondern auch, weil ihre physischen Körper vermehrt versagten. Hamuul, der all dies beaufsichtigte, überlegte angestrengt, warum die Traumgestalten nicht weiterexistierten, wenn ihre echten Körper tot waren. Er nahm an, dass die Magie des Albtraums dabei eine große Rolle spielte, die über die bestehende Verbindung von Azeroth in die Traumgestalten floss.

Die Druiden setzten all ihre Zauber ein. Hier explodierten Samen in reinigendem silbernem Feuer, dort setzten andere Druiden in Gestalt von Bären und Raubkatzen ihre magisch verstärkten Klauen, Zähne und selbst ihr Gebrüll ein, um so viele Diener der Finsternis zu töten wie nur möglich.

Doch ihr Angriff verlangsamte sich, geriet ins Stocken...

Und dann entdeckten sowohl die auf Azeroth zurückgebliebenen Krieger wie auch die hier Kämpfenden die nächste Welle des Bösen. Aus den Nebeln beider Ebenen marschierte eine Armee heran, die aus von Schatten besessenen Drakoniden, niederen Drachlingen und anderen korrumpierten Drachen bestand.

Und dann... geschah etwas, das kein Druide, nicht einmal Malfurion, erwartet hätte.

Die Grenze zwischen Smaragdgrünem Traum/Albtraum und Azeroth begann zu schwinden... und beide verschmolzen langsam miteinander.


Die eigentlich unmögliche Verschmelzung überraschte Eranikus. Er verlor kurz die Kontrolle, doch dann versuchte er, sie zurückzuerlangen und gleichzeitig Thura und Lucan nicht zu verlieren.

Lucan hörte eine Stimme, die ihn rief. Sie war nicht ausschließlich an ihn gerichtet, sondern galt jedem, der ihr zuhören wollte. Etwas Vertrautes lag darin, etwas, das ihn an die verlorenen Tage erinnerte, als der Schlaf und seine Träume noch sanft gewesen waren. Er wurde davon angezogen...

Und ohne nachzudenken rutschte er aus Eranikus’ Pranken. Doch er fiel nicht. Stattdessen stürzte Lucan nur einen halben oder ganzen Meter durch die Luft... Dann hatte er das Gefühl, als würde etwas Unsichtbares an ihm ziehen. Eranikus und Thura verschwanden...

Einen Augenblick später tauchte der Kartograf in einer Gegend auf, die auf jeden Fall Teil des Albtraums war. Schreie drangen an seine Ohren. Schreckliche Gestalten bewegten sich im Nebel... aber sie störten Lucan nicht mehr so sehr. Er erhob sich von dem ungezieferverseuchten Boden, der sich eigentlich Hunderte Meter unter dem Drachen und seinen Reitern hätte befinden sollen.

Lucan erkannte, dass etwas vor ihm im Nebel lag. Etwas, das ihn, obwohl es sich mitten im Albtraum befand, doch mit ein wenig Hoffnung erfüllte.

Trotz der Gefahren des Albtraums rannte er darauf zu. Beim Näherkommen wunderte er sich über den Anblick. Das Gebäude – eine Ansammlung von hohen Kuppeln – war nicht von Menschen erbaut worden. Es war zu perfekt. Von seinem Standort aus konnte er nicht erkennen, ob die kleineren Kuppeln eine Größere umstanden oder sich nur daneben befanden.

Alles war von einer wundersamen goldenen Farbe, die Lucan trotz der Fäule des Albtraums auf eigentümliche Art tröstete.

Der Kartograf fühlte sich von der goldenen Kuppel angezogen. Trotz seiner Vorsicht ging er schneller voran. Lucan war so auf die goldene Kuppel fixiert, dass er den Albtraum gar nicht mehr bemerkte. Er wusste nur, dass er das Gebäude erreichen musste.

Später hätte er nicht mehr sagen können, wie lange er gebraucht hatte, um das Gebäude zu erreichen. Es war ihm auch egal. Ein paar Minuten, Stunden... Zeit bedeutete hier nichts. Wichtig war nur, dass er zu dem Eingang gelangte. Dort allerdings stellte er fest, dass er von einer Finsternis verschlossen war, die vom Albtraum stammte.

Diese Entdeckung erinnerte ihn wieder an die wahren Umstände, und Lucan wäre am liebsten fortgerannt. Doch dann spürte er, dass sich das Wesen, das ihn hierher gelockt hatte, im Gebäude befand.

Und dass es ihn brauchte...

Aus einer anderen Richtung hörte er Flügelschlag und wirbelte herum. Kaum hatte er das getan, ragte eine riesige Gestalt über ihm auf.

Obwohl Lucan es für unmöglich gehalten hatte, einen Drachen am Gesicht zu erkennen, war er sicher, dass dieser hier Lethon hieß. Der schwarzgeschuppte Drache, dessen geisterhafte Gestalt im kränklich grünlichen Licht des Albtraums erstrahlte, sah sich misstrauisch um.

Seine Augen, schwarze, bodenlose Klüfte, blickten in Lucans Richtung. Der Blick fand sein Ziel, kurz bevor er auf den Menschen traf.

Lethon schnaubte, dann ging er weiter.

Der Drache verschwand in der Ferne. Seufzend lehnte sich der Kartograf an die Wand.

Die Wand leuchtete auf.

Er fiel hindurch.

Doch er gelangte nicht in einen Raum, sondern in einen Wirbel magischer Kräfte, die ihn herumschleuderten. Dabei spürte Lucan, dass ihn seine eigenen Kräfte verließen. Er wusste, dass er nicht mehr lange wach bleiben konnte.

Ganz ruhig, junger Lucan... Ich wehre diese Effekte lange genug für dich ab... Ich hoffe...

Er kannte die Stimme, kannte sie, selbst bevor sein Körper sich der Quelle zuwandte.

Wie der Mensch schwebte auch der große Drache Ysera im Zentrum der Kräfte. Wenngleich Ysera deutlich mehr davon angegriffen wurde. Ihre Flügel waren weit ausgebreitet, und sie war von einer dünnen smaragdgrünen Aura umgeben, die permanent flackerte, als wollte sie schwinden. Die langen schmalen Drachenaugen waren geschlossen, dennoch schien sie ihn sehen zu können.

Lucan spürte, dass der weibliche Drache alles andere als hilflos war, trotz der Gefangenschaft, und immer noch kämpfte...

Aber das konnte nicht sein. Er hatte gesehen, wie sie verloren hatte. Der Albtraum hatte sie überwältigt, sie seinem Willen unterworfen...

Vom Albtraum und seinem Herrn kommen nur Lügen, antwortete Ysera auf seine unausgesprochene Frage. Ich bin eine Gefangene, aber ich leiste noch ein wenig Widerstand... obwohl er schwindet, wie ich zugeben muss...

Was ist das für ein Ort?, fragte er leise.

Ihr Kopf drehte sich zur Seite. Vor langer Zeit, als Azeroth noch jung war und wir es zusammen mit dem Smaragdgrünen Traum zum ersten Mal beschützen mussten, ehrten mich die Mitglieder meiner Sippe, indem sie diesen Ort, das Auge von Ysera nannten. Von dort aus wachten wir über alles... Ihr Gesichtsausdruck wurde traurig. Nun, durch Lethons Verrat... ist er zu meinem Kerker geworden...

Der große Aspekt knurrte plötzlich vor Schmerz. Yseras Körper erzitterte, und einen Atemzug lang wurde sie feinstofflich.

Obwohl es vergeblich war, streckte Lucan die Hand aus, um Ysera zu trösten.

Die Grenze zwischen dem umkämpften Traum und Azeroth schwindet!, verkündete sie in schrecklicher Sorge. Obwohl ich immer noch kämpfe, binden sie immer schneller meinen Willen und nutzen meine Kräfte, um alles andere zu vernichten!

Was können wir tun?, fragte der Kartograf entsetzt.

Sie sammelte alle Kraft, die sie noch hatte und antwortete: Erfahre die Wahrheit, Lucan Fuchsblut... Ich kenne dich schon, seit Eranikus dich gefunden hat... Ich entschied mich, abzuwarten, was aus dir werden würde... Selbst Eranikus wusste nichts davon... Er handelte nur, wie sein Herz es ihm befahl...

Lucan beobachtete sie mit offenem Mund.

Ich konnte an den Umständen deiner Geburt nichts ändern, doch vielleicht... war ich anmaßend, als ich dir nicht zumindest von Anfang an... ein wenig Schutz gab. Ysera keuchte erneut, dann fuhr sie fort: Aber wir haben keine Zeit, in der Vergangenheit zu schwelgen... Ich habe erfolglos versucht... jemand anderen zu kontaktieren... Doch deine Einzigartigkeit kann mir dabei helfen, ihn noch zu erreichen...

Ich? Was kann ich tun?

Wieder litt der Drache große Schmerzen und verschwand fast. Wir... wir erreichen den Punkt ohne Wiederkehr!, sagte Ysera schließlich. Du könntest mir den Weg bereiten, um die Zauber des Albtraumlords zu überlisten, die mich an der Kontaktaufnahme zu Malfurion Sturmgrimm hindern...

Malfurion? Ich tue alles, um dir zu helfen, selbst wenn es mich mein Leben kostet!, antwortete der Kartograf. Er erkannte, dass er es auch so meinte. Was war sein Leben schon wert, wenn alles andere an den Albtraum fiel?

Lass uns hoffen, dass es nicht so weit kommen wird, meinte der Aspekt und schien wieder seine Gedanken zu lesen. Mit geschlossenen Augen fügte Ysera hinzu: Bist du dir sicher, Lucan Fuchsblut? Bist du dir sicher, dass du die Risiken verstehst?

Er nickte.

Ich werde versuchen, so sanft wie möglich zu sein...

Ysera öffnete die Augen. Ihr Blick traf den des Menschen.

Für den Menschen war es, als ob jeder Traum, den er je gehabt hatte, von Neuem beginnen würde. In Yseras Augen befand sich ein ganzes Kaleidoskop von Bildern, die allesamt mit Lucan verbunden waren... und Bilder jeder anderen Kreatur, die träumte. Er wurde ein Teil dieser Träume und öffnete dem Drachen so die verstecktesten Regionen seines Unterbewusstseins...

Lucan Fuchsblut erstarrte in Ehrfurcht, als er in die Aura des Aspekts eintauchte.


Wir müssen zurück nach Azeroth, ermahnte Varian Hamuul. Sag Malfurion Sturmgrimm, dass es sein muss! Sie greifen unsere Körper an, selbst jetzt, wo wir hier gegen sie kämpfen!

Der Tauren nahm seine Worte wahr, antwortete aber nicht. Doch er suchte augenblicklich nach Malfurion, um ihn vor dem drohenden Desaster zu warnen.


Die Sorgen des Tauren erreichten Malfurion, gerade als der Nachtelf die Wahrheit hinter Xavius’ erstaunlicher Kraft erkannte. Er hatte das uralte Böse schon zuvor gespürt und konnte es nicht vergessen. Kein Wunder, dass Xavius so viel erreicht hatte, denn eine noch viel größere Finsternis stand hinter ihm.

Noch behielt Malfurion dies jedoch für sich. Weil er wusste, dass alles verloren war, wenn erst einmal alle Hoffnung schwand. Er hörte, wie Varians Wunsch ihn durch Hamuul erreichte. Der Erzdruide verstand, was der König wollte und warum. Malfurion verfluchte sich, weil er so etwas zugelassen hatte. Er hatte schon befürchtet, dass Xavius die ungeschützten sterblichen Hüllen der Verteidiger angreifen würde.

Der Erzdruide berichtete Tyrande, was gerade geschah und was er zu tun hatte. Sie nickte verstehend, obwohl auf ihrem Gesicht Schrecken und Mitleid lagen für alles, was sich Malfurion auf die Schultern geladen hatte.

„Sind wir dann verloren?“, fragte die Hohepriesterin direkt. Sie hatte offensichtlich die Dinge ebenso überdacht wie er. „Ist ganz Azeroth verloren?“

Bevor er antworten konnte, erreichte ihn wieder eine Stimme in seinem Kopf. Eine Stimme, um die er gebetet hatte, sie zu hören, bevor es zu spät war.

Malfurion Sturmgrimm... kannst du mich hören?

Herrin?

Ja... ich bin es, Ysera... hör mir zu... sieh mich...

Ein bewegtes Bild erfüllte plötzlich seinen Geist. Er sah Ysera in ihrem Gefängnis. Der Aspekt bemühte sich, seine vollen Fähigkeiten zurückzuhalten, damit Xavius und sein geheimer Meister sie nicht benutzen konnten.

Und als er das sah, erkannte Malfurion etwas Neues über seine Feinde und deren Natur. Er verstand, dass er gerade im Begriff war, einen kritischen Fehler zu begehen.

Dann erkennst du die Wahrheit...

Malfurion tat es... er spürte auch, dass er nicht allein mit Ysera sprach. Er waren noch zwei andere anwesend. Einer war der Mensch, Lucan, der als Yseras Vermittler diente, damit sie ihren Kerker umgehen konnte.

Der andere... sollte hiervon eigentlich gar nichts wissen. Doch irgendwie hatte er das Gespräch gespürt... und war darüber sehr wütend geworden.

Du bist es! Ich habe es sofort gespürt! Sie halten dich im Auge gefangen, das hätte ich wissen müssen! Diese Dreistigkeit... und diese Dummheit...

Es war Eranikus. Malfurion spürte, dass der Drache gerade Thura bei Broll abgesetzt hatte. Nachdem er nun den verzweifelten Kontakt seiner Königin mit dem Erzdruiden gespürt hatte, war nur noch ein einziger drängender Wunsch im Kopf des Drachen... sie zu befreien.

Hör mir zu, mein Gemahl!, flehte Ysera und versuchte, ihn aufzuhalten. Dein Platz ist bei Malfurion...

Ich werde dich retten!, unterbrach sie Eranikus. Seine Worte klangen so machtvoll, dass Malfurion und Lucan der Schädel dröhnte. Das schwöre ich!

Ysera verbot es ihm, aber Eranikus hörte nicht zu. Malfurion begann mit ihm zu sprechen. Doch bevor er etwas sagen konnte, schüttelte ihn eine Hand und brach den Kontakt ab.

„Mal! Vorsicht!“, schrie Tyrande.

Er konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung.

Überall waren Schattensatyre.

Doch sie waren nicht feinstofflich, sondern überaus real. Es waren lebendige Satyre, Nachfahren von Königin Azsharas hochgeborenen Dienern, die Xavius in die Verdammnis gefolgt waren. Verführt von der Macht, über die der wiedergeborene Xavius gebot, hatten sie ihre schönen Gestalten gegen diese monströsen Körper eingetauscht. Und das alles, um Sargeras, dem Herrn der Brennenden Legion, zu dienen.

Ihre Zahl schien endlos zu sein. Malfurion war wie gebannt. Die Satyre hatten sich verborgen gehalten und zweifellos lange auf das jetzt Kommende vorbereitet.

Meine Kinder haben auf diese Gelegenheit, Ruhm zu erlangen, gewartet!, spottete der Albtraumlord schadenfroh. Ich habe sie ihnen gewährt...

Die Satyre hatten Hörner, und obwohl ihre Gesichter noch größtenteils aussahen wie vor der Korrumpierung, trugen ihre dämonischen Fratzen doch tierhafte Züge. Sie grinsten wild und zeigten dabei ihre scharfen Zähne. Raues braunes Fell bedeckte die Arme, den Rücken und die Beine, die in Hufen endeten. Sie hatten zottelige Mähnen und Barte, die ihnen ein groteskes Aussehen verliehen, und in ihren Augen lag ein verderbter grüner Glanz.

Er ist es tatsächlich!, verkündete Xavius den heranstürmenden Satyren. Der verfluchte Malfurion Sturmgrimm...

Mehrere Satyre heulten aus Vorfreude, als sie die beiden angriffen.

Tyrande stellte sich vor den Erzdruiden und warf die Mondlichtgleve.

„Ich weiß, dass Ihr Euch auf die Schlacht konzentrieren müsst!“, rief die Hohepriesterin, als die Waffe den ersten Satyr zerteilte. Die drei scharfen Klingen schnitten tief in die düsteren Kreaturen hinein, bevor sie zu ihr zurückkehrten. Die Satyre starben, die obere Körperhälfte war von der anderen beinahe abgetrennt.

Dieser gnadenlose und effiziente Schlag verlangsamte die Satyre ein wenig. Doch sie versuchten weiterhin, herauszubekommen, wie sie am besten an Tyrande und den tödlichen Klingen vorbeikamen.

Malfurion aber wollte sie nicht mit ihren Gegnern alleinlassen. „Du kannst sie nicht alle besiegen!“

„Mithilfe der anderen kann ich sie vielleicht lang genug aufhalten!“

Bevor Malfurion fragen konnte, wen sie damit meinte, riss Tyrande die Gleve wie zum Gruß hoch und murmelte etwas in der geheimen Sprache der Schwesternschaft. In diesem Moment hatten die Satyre wieder genug Mut gesammelt und stürmten vor.

Das Licht von Mutter Mond leuchtete direkt vor Malfurion auf und badete Tyrande und ihre Umgebung in seinem Glanz. Malfurion bemerkte eine ganze Reihe von Gestalten, die allesamt wie Priesterinnen in Kampfrüstung wirkten. Sie sahen Tyrande sogar alle ein wenig ähnlich.

Tyrande hatte Elune um Hilfe gebeten, und sie war ihr gewährt worden. Die Kämpferinnen bestanden aus Mondlicht. Sie trugen Gleven, Bögen, Schwerter, Lanzen, Stäbe und andere Waffen und vernichteten die Satyre in der ersten Reihe. Doch immer weitere drängten nach.

Malfurion blieb nicht tatenlos, während Tyrande und alle, die sie herbeigerufen hatte, ihn verteidigten. Sie hatte recht, er musste sich auf die wahre Schlacht konzentrieren. Malfurion richtete seine Aufmerksamkeit auf zwei Dinge.

Zum einen regte er Varian und Hamuul zu energischerem Vorgehen an. Der Albtraum muss im Traumreich bekämpft werden!, drängte er. Seine Kraft liegt in den Schlafenden begründet und in all dem, was er Ysera abpressen kann! Zwingt ihn, seine Kraft vornehmlich dort einzusetzen, um sich zu verteidigen!

Beide willigten ein. Malfurion fühlte sich immer noch schuldig, weil allen Bemühungen zum Trotz wahrscheinlich noch viele andere sterben würden.

Dann nahm er zu Broll Kontakt auf.

Habt Ihr Thura gefunden?

Broll Bärenfell antwortete augenblicklich. Ja, Shan’do! Doch sie kann hier nicht effektiv kämpfen! Bringen wir sie nach Azeroth zurück, dann...

Nein... Ihr wisst, was sie hier zu tun hat.

So wie Hamuul und König Varian stimmte auch Broll zu.

Malfurion blickte wieder zu Tyrande. Sie stellte sich den Gegnern, wie sie es schon so oft zuvor im Krieg der Ahnen getan hatte. Ihr Gesicht war dunkel verfärbt – so wie es aussah, wenn Nachtelfen erröteten -, und sie warf die Gleve immer wieder. Die leuchtende Waffe trennte Gliedmaßen ab, schnitt den Satyren tief in die Brust und schlug einem von ihnen sogar den Kopf ab.

Doch der Erzdruide bemerkte, dass das Mondlicht um sie herum leicht schwächer wurde, ebenso wie Elunes Wächterinnen. Die Hohepriesterin bekämpfte nicht nur physische Feinde. Xavius leitete seine gesammelten Kräfte in die Satyre und stärkte besonders diejenigen, die gegen Tyrande kämpften. Aus ihr bezogen die Wächterinnen ihre Substanz. Wenn sie fiel, würden sie sich schnell auflösen.

Malfurion wandte sich seinem zweiten Problem zu. Er kontaktierte eilig den Geist des männlichen Drachen. Eranikus! Denkt nach!

Nein! Ich werde das Auge nicht ohne sie verlassen!

Der Blickwinkel des Nachtelfen änderte sich. Malfurion sah durch Eranikus’ Augen, wie der Gemahl des Aspekts hinabflog. Der Drache war beinahe an seinem Ziel angekommen.

Das Auge sah anders aus, als es der Erzdruide in Erinnerung hatte. Und als Eranikus sich näherte, veränderte sich sein Erscheinungsbild. Die Gebäude wurden schroffer, waren voller Spitzen und bereit, den Drachen aufzuspießen. Dann begannen sie, untereinander die Plätze zu tauschen.

Sie können mich nicht narren!, sagte Eranikus. Versteckt sie ruhig an Tausenden solcher Orte, und ich werde sie dennoch finden! Ysera und ich sind miteinander verbunden, und diesmal wird nichts dieses Band auflösen! Ich werde sie immer finden!

Seid vorsichtig!, rief Malfurion vergeblich.

Eranikus stieß auf eines der weniger beeindruckenden Gebäude herab. Plötzlich begann es, vor ihm in die Höhe zu wachsen.

Siehst du?, sagte er triumphierend. Sie ist in dem großen Gebäude, obwohl sie sich sehr bemüht haben, es anders aussehen zu lassen...

Malfurion, der mehr auf die Dinge im Auge achtete, die nicht mit Ysera zu tun hatten, bemerkte eine Bewegung im Albtraum. Eranikus...

Lethon materialisierte über dem anderen Drachen, dann stürzte er sich auf ihn.

„Willkommen zurück, Bruder Eranikus!“, spottete er, als seine Klauen sich in Yseras Gemahl bohrten. Der korrumpierte Drache schleuderte seine dunkelgrüne Energie in Eranikus hinein.

Eranikus schrie, als sein Körper heftig pulsierte. Seine schuppige Haut wand und bewegte sich, als würde ein großer Wurm sich durch das Fleisch und die Knochen bohren und nun zur Oberfläche durchbrechen.

Dein größter Albtraum wird wahr...“, säuselte Lethon. „Willkommen zurück...“

Malfurion versuchte, die Verbindung zu Eranikus zu halten, aber obwohl es ihm gelang, war sie schwach, sodass er nicht spüren konnte, was der Drache dachte.

Außerdem verstand Eranikus ihn auch nicht mehr. Der Erzdruide befürchtete, dass Lethon die Wahrheit sagte. Malfurion war sich Eranikus’ Angst, wieder korrumpiert zu werden, wohl bewusst.

Und tatsächlich stöhnte der Drache laut, als die verderbten Energien des Albtraums in ihn eindrangen. Obwohl er noch flog, rollte sich Eranikus zu einem Ball zusammen.

Mit einem wütenden Brüllen ließ er seine eigene Kraft auf Lethon los.

Der korrumpierte Drache war zu selbstgefällig gewesen und zuckte nun zurück. Mit einem schmerzerfüllten Brüllen stieg Lethon in einer Spirale vom Auge Yseras auf.

Ohne zu zögern wandte Eranikus seine Aufmerksamkeit wieder dem Gefängnis seiner Königin zu. Er krallte seine vier Klauen in das Gebäude.

Der Kerker schimmerte. Der grüne Drache wurde von der Verderbtheit des Albtraums angegriffen. Eranikus’ Gestalt bog sich, wurde pervertiert, als die Korrumpierung versuchte, ihn zu überwältigen. Doch er hielt stand, ließ seine eigene Macht in das Gebäude fließen.

Weil er sich schon auf so viele Dinge konzentrieren musste, konnte Malfurion nur wenig tun. Doch er gab Yseras Gemahl so viel Hilfe wie möglich. Die Ausbreitung der Verderbtheit wurde plötzlich aufgehalten.

Das Gefängnis erbebte. Der Angriff auf Eranikus endete abrupt. Der Drache stieß einen Triumphschrei aus.

Aber dann riss ihn eine mächtige Kraft von Yseras Gefängnis weg. Hell glühend und gespeist von den schrecklichen Energien des Albtraums schoss Lethon auf ihn hinab.

Malfurion versuchte, Eranikus zu helfen. Doch der Drache wies nun jede Hilfe zurück und brüllte im Kopf des Erzdruiden: Nein! Sie ist beinahe frei! Ich halte ihn auf, während du es zu Ende bringst!

Der Nachtelf stimmte ihm zu. Ysera zu befreien war viel wichtiger. Sie war die Herrin des Smaragdgrünen Traums, an ihn gebunden und mit seiner innersten Kraft vertraut. Der Albtraum brauchte sie, um seine Verbindung zum Smaragdgrünen Traum zu verstärken und so die Magie des Reiches besser manipulieren zu können.

Ysera musste um jeden Preis befreit werden. Das würde den Albtraum sicherlich schwächen und die Chancen der Verteidiger steigern.

Malfurion konnte nun den Aspekt selbst spüren, der seine geschwächte Zelle untersuchte. Eranikus hatte recht. Es gab jetzt viel mehr Hoffnung auf Erfolg.

Der Erzdruide konzentrierte sich, um sowohl aus Azeroth wie auch dem angeschlagenen Smaragdgrünen Traum so viel Kraft zu ziehen, wie er nur konnte. Er war überrascht, wie leicht diese Kräfte, besonders die aus dem Smaragdgrünen Traum, seinem Wunsch nachkamen. Dann entschied Malfurion, dass er es nicht allein schaffen konnte. Ysera musste ihm irgendwie helfen.

Während er gemeinsam mit dem Aspekt versuchte, Ysera zu befreien, spürte Malfurion, wie Eranikus’ Kampf tobte. Die beiden Drachen waren ineinander verschlungen, ihre jeweiligen Kräfte denen des anderen ebenbürtig. Anfangs schien keiner die Oberhand zu gewinnen, obwohl der Nachtelf befürchtete, dass auf kurz oder lang ihre Umgebung schließlich der korrumpierten Bestie zum Vorteil gereichen würde.

Er spürte, wie Ysera immer stärker von innen drängte. Doch sie sorgte sich nicht um sich selbst, sondern um ihre Gefährten, Malfurion und Lucan.

Rette ihn zuerst, denn er ist nicht an den Zauber des Albtraums gebunden wie ich, befahl sie Malfurion und wies auf den Menschen. Obwohl er in die goldene Kuppel hätte eintreten können, schien Lucan zu erschöpft zu sein, um seine merkwürdigen Fähigkeiten einzusetzen. Er war das geringste Problem für Malfurion, der den Kartografen nach Azeroth zu Hamuul zurückbringen konnte.

Ysera bemühte sich stärker. Die Barriere wurde schwächer. Malfurion konnte es spüren...

„Nein... noch nicht ganz.“ Lethon, der die Kräfte seines Herrn einsetzte, hätte beinahe die Bemühungen der beiden zunichte gemacht. Malfurion sah im Geist all seine Aktionen in furchterregenden Bildern. Der Erzdruide wusste, dass es Albträume waren, die von der Finsternis erzeugt wurden. Doch es war schwer, sie zu ignorieren und gleichzeitig den Angriff auf die Zelle des Aspekts fortzusetzen.

Lethon schrie plötzlich auf. Durch seine eigenen Gedanken erhaschte Malfurion die Bilder eines sehr verschreckten, desorientierten Eranikus, der seinen korrumpierten Gegenpart mit Klauen und Magie festhielt. Eranikus hatte offensichtlich einiges abbekommen, aber durch seine Entschlossenheit hatte er dennoch momentan die Oberhand errungen.

Das würde sicherlich nicht lange anhalten. Widerstrebend drosselte Malfurion seine Anstrengungen, Ysera zu befreien.

NEIN!, dröhnte Eranikus in seinem Kopf. Sie muss gerettet werden! Ich werde schon mit Lethon fertig!

Lethon bekam das offensichtlich mit, weil der verderbte Drache ob solcher Anmaßung lachte. Die Macht des Albtraums erfüllte ihn. Er war nun größer als Yseras Gemahl.

Du bist erledigt, Eranikus! Gib dich dem Albtraum hin! Lass ihn dich umarmen! Die Mauern zwischen Azeroth und hier werden schwächer! Schon bald werden wir ungehindert über Azeroths Himmel fliegen können...

Azeroths Himmel..., wiederholte Eranikus.

Plötzlich umgab ein Leuchten Yseras Gemahl. Das Gesicht des Drachen wurde grimmig.

Zur gleichen Zeit blickte Lethon unsicher.

„Was machst du da?“, wollte er von Eranikus wissen.

Doch der Drache sagte nichts. Stattdessen spürte Malfurion, wie er andere Energien anzog. Dann durchschaute der Erzdruide plötzlich Eranikus’ Plan.

Und als die beiden titanischen Gestalten zu schwinden begannen, begriff es auch Lethon. „Das könnt ihr nicht machen! Tut es, und ihr vernichtet euch selber! Ich schwöre es! Die Instabilität wird euch mit mir nehmen!“

So sei es dann, hörte Malfurion Eranikus antworten.

Mein Gemahl!, rief Ysera... aber es war zu spät.

Der Albtraum versuchte, den Smaragdgrünen Traum und Azeroth zu vereinen. Die Macht dieses neuen Reiches wäre unüberwindbar.

Doch die Vereinigung war noch nicht vollendet... und hier, in der Nähe des Auges, dem zentralen Punkt des Smaragdgrünen Traums, erkannte Malfurion, dass die schwindenden Grenzen zwischen beiden Reichen instabil waren. Dadurch wurde der Aufenthalt im Zentrum die reinste Einladung zur völligen Vernichtung...

Eranikus weigerte sich, die korrumpierte Gestalt loszulassen. Die beiden gelangten in den Bereich der Instabilität zwischen beiden Welten.

Wie Lethon vorhergesagt und Malfurion und Ysera befürchtet hatten, zog der verzweifelte Lethon die Kraft seines Herrn in sich hinein, in dem sinnlosen Versuch, das Unausweichliche zu vermeiden.

Das Monster heulte auf, als es auseinandergerissen wurde. Die furchterregenden Kräfte, die alles waren, was von ihm übrig blieb, wurden freigesetzt.

Ein feuriger Mahlstrom brach dort aus, wo Lethon eben noch gestanden hatte. Dieser Mahlstrom verschlang Eranikus, der gar nicht erst zu fliehen versuchte.

Die entfesselten Kräfte schlugen nach überall hin aus. Malfurion spürte, wie Ysera ihn drängte, etwas zu tun, um sie zu absorbieren. Der Erzdruide war sich nicht sicher, was sie von ihm erwartete, doch er versuchte es trotzdem.

Plötzlich hatte er einen verzweifelten Plan. Er lenkte die Energien zu einem ganz besonderen Ort.

Sie trafen Yseras Gefängnis und verwandelten das Zentrum des Auges vollständig in eine Art Dampf... und befreiten schließlich Ysera.

Die Herrin des Smaragdgrünen Traums brüllte vor Erleichterung und stieg über den Überresten ihres Gefängnisses in die Lüfte auf. Eine smaragdgrüne Aura umgab sie, eine Aura, die kurzzeitig das ganze Auge erhellte.

Doch der Nebel zog sich bereits wieder um sie herum zusammen. Ysera stieß ein weiteres Brüllen aus, und die Aura verdreifachte sich. Alles, was sie berührte, erwachte plötzlich wieder zu frischem Leben und einer Schönheit, für die der Smaragdgrüne Traum bekannt war. Der Nebel zog sich augenblicklich zurück...

Und in diesem besonderen Moment verschwand der Aspekt.

Malfurion spürte sie nicht mehr innerhalb des Reiches. Ysera hatte sich nach Azeroth zurückgezogen. Sie wusste besser als jeder andere, wie die Verbindung zwischen diesen beiden Orten funktionierte, und materialisierte nahe den Druiden, die in Darnassus kämpften.

Danke... Malfurion Sturmgrimm..., sagte sie traurig. Du... und Eranikus...

Er tat, was er tun musste, antwortete der Erzdruide schnell. Und ehrte das Opfer des Drachen. Doch er wusste, dass noch weitere Opfer nötig sein würden. Aber er war auch voller Hoffnung, nun, da die Herrin des Smaragdgrünen Traums frei war. Xavius hatte keine mächtige Gefangene mehr. Mit Yseras Kraft, die sie alle leitete, würden sie...

Nein – Malfurion – ich fürchte – ich fürchte, dass nur wenig übrig ist, was ich dir anbieten kann... Meine Bemühungen, den Albtraum daran zu hindern, mich auszusaugen, waren kräftezehrender... als ich dachte...

Die Worte lähmten Malfurion, sodass er beinahe die Verbindung zu den anderen verloren hätte. Er hatte auf diese Hoffnung gebaut! Welche Macht war größer als ihre, wenn es um den Smaragdgrünen Traum und die Verderbtheit ging? Sie hatte den Albtraum nur deshalb nicht schon längst vernichtet, weil er dummerweise in Gefangenschaft geraten war. Hätte Xavius seine mäßigen Fähigkeiten nicht durch ihre Energie verstärkt, wäre all das Chaos nie passiert...

Das ist... nicht wahr, Malfurion! Ysera hatte offensichtlich Probleme, bei Bewusstsein zu bleiben. Du kennst doch die Kräfte, die hier am Werk sind und weißt, wie lange sie das schon tun!

Aber was macht das aus?, antwortete er. Wenn selbst Ihr nicht in der Lage seid es zu beenden, dann sind wir verloren!

Der Aspekt verlor beinahe das Bewusstsein. Es war alles, was sie tun konnte, um sich selbst zu schützen. Es gibt Hoffnung... Ich bin... Ich bin der Smaragdgrüne Traum... doch du... du kommst aus dem Smaragdgrünen Traum... und aus Azeroth! Darin... liegt deine Chance... Was meint Ihr...?

Der Kontakt brach ab. Der Aspekt hatte den Kampf gegen den Schlaf verloren. Die Anstrengungen waren zu viel gewesen.

Und als Yseras Gedanken schwanden, schien der Albtraumlord in Malfurions Kopf aufzulachen.

Ysera hatte das Schicksal beider Reiche in Malfurions Hände gelegt... der aber keine Vorstellung hatte, was er zu tun hatte.

Загрузка...