5 Der Verrat des Druiden

„Er ist gekommen“, raunte die Wache Tyrande vom Eingang des Zeltes aus zu.

„Bittet ihn herein und achtet auf jeden, der sich nähert“, befahl die Hohepriesterin.

Mit einem Nicken ging die Wache hinaus. Einen Augenblick später trat Broll Bärenfell respektvoll ein. Der Druide verneigte sich tief, wie ein Untertan vor seiner Herrscherin. Mit gedämpfter Stimme sagte er: „Hohepriesterin, Ihr habt mich gerufen...“

„Seid hier nicht so formell, Broll. Wir kennen uns schon eine ganze Weile.“

Der Druide nickte, erwiderte aber nichts.

„Bitte“, begann die Hohepriesterin und wies auf eine Grasmatte, in die komplexe Mondmuster eingearbeitet waren. „Nehmt Platz.“

Broll schüttelte den Kopf. „Wenn es Euch nichts ausmacht, ziehe ich es vor zu stehen.“

Sie nickte. „Nun gut. Ich werde mich ohnehin kurz fassen... und ich sage Euch gleich, dass Ihr jedes Recht habt, meine Bitte abzuschlagen.“

Seine dichten Augenbrauen hoben sich. Tyrande hätte ihm einfach befehlen können, all ihren Wünschen nachzukommen. Doch das war nicht ihre Art.

„Broll... Ihr seid der Einzige, den ich das fragen kann. Malfurion vertraute Euch mehr als jedem anderen. Und so lege ich mein Vertrauen in Eure Hände – immerhin tragt Ihr das Zeichen der Größe, und Eure Taten während des Dritten Krieges haben seine Stärke unter Beweis gestellt.“ Sie blickte zu seinem Geweih.

„Ihr schmeichelt mir, Herrin.“ Der Druide schlug die Augen nieder. „Und Ihr übertreibt. Die Zeit, die ich von meinesgleichen fort war, dürfte mir kaum seine Wertschätzung eingebracht haben, wenn er davon erfahren hätte...“ Seine Augen wanderten zu der Gleve auf dem Tisch.

Tyrande blickte ihn eindringlich an. Sie hatte die primitive Waffe bewusst in Sichtweite platziert, um Broll an seine Vergangenheit als Gladiator zu erinnern. Die Hohepriesterin hatte ihn für die Aufgabe ausgewählt, weil sie hoffte, dass Brolls jüngste Heldentaten in fernen Landen seine Loyalität Malfurion gegenüber gestärkt hatten. Dann würde er vielleicht auch vom offiziellen Weg abweichen, den der Zirkel des Cenarius eingeschlagen hatte.

„Ich habe nicht übertrieben. Bevor er verschwand, hat sich Malfurion unmissverständlich über Euch geäußert. Er verstand den Kummer und die Wut, die Ihr erleidet, und er wusste, dass Ihr selber darüber hinwegkommen müsst.“ Ihre Augen verengten sich. „Lasst mich offen sein, Broll. Malfurions Traumgestalt muss in seinen Körper zurück. Fandrals Plan wird ihn nicht retten, dessen bin ich mir sicher. Und obwohl ich weiß, dass der oberste Erzdruide es gut meint, ist doch offensichtlich, wie starrsinnig er ist – nicht einmal ich kann ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern. Ihr und ich müssen Malfurion retten, in welchem Gefängnis er auch immer schmachten mag.“

Broll zögerte. „Seid Ihr Euch da absolut sicher? Könnte es sich nicht um einen Irrtum handeln?“

„Die Vision stammt von Mutter Mond“, sagte sie voller Überzeugung, denn Elune narrte ihre Anhänger nicht.

Zu ihrer Erleichterung nickte der Druide schließlich. Brolls Entschlossenheit zeigte ihr, dass ihre Wahl auf den Richtigen gefallen war.

„Ich kenne Euch, und ich kenne Elune.“ Wie die meisten Nachtelfen war Broll mit der Anbetung von Mutter Mond aufgewachsen. Seine Berufung zum Druiden war erst später erfolgt, doch sie hatte die Ehrerbietung vor der Göttin nie beeinflusst. „Aber auch wenn Fandrals Plan gut ist, bin ich doch eher geneigt, Euch zu glauben. Was auch immer Ihr vorhabt, Herrin, ich bin dabei. Etwas muss getan werden, und ich fürchte, dass Teldrassil uns nur vom richtigen Weg ablenkt. Wie sieht Euer Plan aus?“

Seine Entscheidung, ihr zuzustimmen, war plötzlich erfolgt, obwohl er keinen richtigen Grund dafür hatte. Ursprünglich war Broll mit Fandrals Plan einverstanden gewesen. Er hatte ihn sogar mit Hoffnung erfüllt. Doch Tyrandes Flehen hatte ihn verunsichert. Und diese Verunsicherung war seit der letzten fürchterlichen Vision, die er durchlebt hatte, nur größer geworden. Etwas Böses war am Werk – etwas, hinter dem ganz sicher der Albtraum steckte. Dass diese Visionen ihm plötzlich derart zusetzten und die jüngste sogar seine verstorbene Tochter betraf, bestärkte ihn nur in den Befürchtungen der Hohepriesterin. Etwas Schreckliches stand kurz bevor, und es schien gleichzeitig Malfurions Untergang zu sein.

Nein... Teldrassil zu heilen, wird viel zu lange dauern, überlegte der Druide. Doch Fandral hätte das nicht verstanden.

Er hatte immer noch keine Antwort auf seine Frage bekommen, deshalb stellte er sie erneut.

Sie blickte weg. Ein großer Teil von Tyrandes Plänen basierte auf dem Wissen über die Druiden, das Malfurion ihr verraten hatte. Es gab eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Hohepriesterin einige falsche Schlüsse gezogen hatte. Wenn das stimmte, war ihr Plan gescheitert, noch bevor er begonnen hatte.

„Ich will, dass Ihr nach Schattengrün geht...“

Er versteifte sich bei der Erwähnung des Namens. Ihre Absicht war ihm augenblicklich klar.

„Schattengrün“, murmelte der stämmige Nachtelf. „Ich weiß, was Ihr vorhabt. Es erscheint mir am logischsten... besonders, wenn die Zeit so sehr drängt, wie ich glaube...“

Ihre Hoffnung wuchs. „Glaubt Ihr, es könnte funktionieren?“

„Mylady... es könnte die einzige Chance sein, die wir haben... aber es wird nicht leicht, es sei denn...“

Sie wartete, doch als Broll weiterhin stumm in sein Innerstes blickte, fragte sie schließlich: „Es sei denn was?“

Kopfschüttelnd murmelte der Druide: „Am besten wisst Ihr das gar nicht.“ Entschlossener fügte er hinzu: „Aber ich werde dorthin reisen.“

„Da ist immer noch die Sache mit der Versammlung und Fandrals Plänen“, fuhr die Hohepriesterin fort. „Ihr werdet warten müssen, bis all das geregelt ist – doch ich fürchte, wir dürfen keine Zeit verschwenden.“

„Es gibt nur eine Sache, um die ich mich kümmern muss, Hohepriesterin – und wenn Erzdruide Fandral mich nicht dabei erwischt, verschwinde ich gleich danach.“ Er furchte die Stirn. „Dazu muss ich zuerst mit den anderen zur Enklave des Cenarius zurückkehren, obwohl...“

Wieder wartete Tyrande auf weitere Erklärungen, und wieder gab Broll keine. Sie nickte dem Druiden schließlich zu, vertraute ihm, egal welches Geheimnis er auch immer vor ihr verbarg. Sie wusste, es diente nur ihrem – oder Malfurions – Besten.

„Ich danke Euch“, murmelte Tyrande. Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Aber da gibt es noch etwas. Ihr werdet nicht alleine reisen. Ich schicke Shandris mit, sie wird Euch unterwegs treffen... Ihr seid mit Auberdine vertraut, oder?“

„Ich war schon mal dort. Es ist kein Ort, der einem Druiden gefallen könnte – und wie meine Brüder bevorzuge ich andere Arten des Reisens. Sollen wir uns dort treffen?“

„Ja, dann könntet ihr beide nach Eschental Weiterreisen.“

Sein Gesichtsausdruck verhehlte nicht, dass ihm ihre Entscheidung, ihm eine Partnerin zuzuteilen, missfiel. „Bei allem gebotenen Respekt vor der Generalin und ihren beachtlichen Fähigkeiten würde ich doch lieber alleine gehen.“

Die Hohepriesterin beharrte auf ihrer Entscheidung. „Das kommt nicht infrage. Und wenn ich es Euch befehlen muss...“

Broll seufzte. „Das müsst Ihr nicht. Wenn Ihr es wirklich für das Beste für Malfurion haltet, vertraue ich Euch, Hohepriesterin.“

Tyrandes Stimmung hellte sich auf. Sie griff plötzlich nach seiner Schulter. Dabei erschien ein schwaches Leuchten von Mondlicht. Es hüllte Broll kurz ein, bevor es in ihn eindrang. „Ihr habt den Segen von Mutter Mond... und meinen Dank.“

Der Nachtelf verneigte sich tief. „Ich fühle mich von beidem tief geehrt, Mylady.“

„Für Euch bin ich Tyrande.“

Der Druide verneigte sich erneut, dann begann er, sich zurückzuziehen. „Nein... das seid Ihr für Malfurion – für mich... seid Ihr meine Hohepriesterin, die Verkörperung aller Hoffnungen meines Volkes...“

Er verließ das Zelt. Tyrande kräuselte die Lippen und fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte.

Dann wanderte ihr Blick zur Gleve... und ihre Entschlossenheit wuchs.


Broll verriet Hamuul nichts, als er zurückkehrte, und der sture Tauren fragte nicht nach. Der Nachtelf schlief nicht mehr viel an diesem Tag, und als die Druiden ihre Abreise von der Mondlichtung vorbereiteten, nickte er der Hohepriesterin nur mit einer respektvollen Verbeugung zu, die nicht vertraulicher wirkte als die seiner anderen Brüder.

Die Schwestern der Elune hatten ihre eigene Methode, um nach Darnassus zu reisen: mächtige Hippogryphen.

Nachdem er ein paar Worte mit Tyrande Wisperwind gewechselt hatte, führte Fandral Hirschhaupt deshalb die Druiden zu einer bestimmten Stelle auf der Mondlichtung.

„Ich habe beschlossen, dass die Situation hier die augenblickliche Fortsetzung all unserer Bemühungen erfordert, den Weltenbaum zu heilen“, verkündete der oberste Erzdruide, als sie sich auf die Abreise vorbereiteten. „Wir werden unsere Anstrengungen noch in dieser Nacht verstärken...“

„Noch in dieser Nacht?“, fragte ein Druide. „Nach so einem langen Flug?“

„Wir werden natürlich zuerst eine Weile meditieren. Außerdem werde ich genau überlegen, wie unsere Kraft am besten einzusetzen ist. Schließlich haben wir das Götzenbild von Remulos nicht zur Verfügung...“ Fandral lehnte jeden weiteren Einwand mit einem Wink ab. „Es ist beschlossen! Nun, um Malfurions willen, sollten wir uns rasch auf den Weg machen...“

Fandral hob die Arme. Gleichzeitig begannen die Druiden zu schrumpfen. Sie beugten sich vor, und aus ihrer violetten Haut wuchsen Federn. Ihre Nasen und Münder streckten sich und wurden zu Schnäbeln.

Der kleine Schwarm Sturmkrähen erhob sich in die Luft und verschmolz fast unsichtbar mit dem Nachthimmel.

Fandral, ein großer Vogel mit silbernen Strähnen über jedem Flügel, führte die Druiden mit hohem Tempo. Er wollte Teldrassil so schnell wie möglich erreichen. Der Anblick war selten, weil nur die erfahrensten und mächtigsten Druiden die Mysterien des Flugs erlernen konnten. Mit Ausnahme von Broll waren alle Erzdruiden von einigem Rang. Das war ein weiterer Hinweis auf die Kraft, die in Broll schlummerte. Doch er konnte sich nicht genug darauf konzentrieren, um den ihm zustehenden Platz unter seinen Brüdern einzunehmen. Dass er überhaupt hier dabei war, verdankte er allein Fandral, und deshalb fühlte sich Broll umso schuldiger, wenn er an seine Pläne dachte.

Broll befand sich weiter hinten im Schwarm als üblich. Hamuul flog in einiger Entfernung davor. Der Tauren war die einzige andere Sorge, die Broll neben Fandral hatte. Aber Hamuul war darauf konzentriert, sein Tempo zu halten. Der Tauren war mächtig, doch er war auch schon recht alt für jemanden seines Volkes. Deshalb musste er sich mehr anstrengen als die Nachtelfen.

Nach langen Stunden erschien der Weltenbaum vor ihnen. Fandral schwenkte ein, und der Schwarm sank tiefer... Broll fiel ungesehen zurück und wandte sich aufwärts. Er schlug so fest er konnte mit den Flügeln und stieg immer höher. Teldrassils mächtiger Stamm wirkte wie eine undurchdringliche Barriere, dennoch flog der Nachtelf weiter.

Und dann... nahm ihn die riesige Krone auf. Ungesehen von den anderen schoss Broll unter die ausladenden Äste.

Ein Teil dessen, was von außen wie Blattwerk aussah, bewegte sich plötzlich. Obwohl er höchstens eine Sekunde hingeschaut hatte, genügte Broll der kurze Blick auf die langen, vorstehenden Hauer, die riesige baumgleiche Gestalt und das blättrige Kostüm, um zu erkennen, dass die große Gestalt ein Urtum war. Eines jener Wesen, die nicht nur den Weltenbaum und das Reich der Nachtelfen beschützten, sondern auch Darnassus Kriegern die dunklere Seite der Natur beibrachten und wie man sie im Kampf einsetzen konnte.

Das Urtum schien seinerseits Broll nicht zu bemerken, was dem Druiden gut zupass kam. Obwohl keine physische Gefahr von ihm drohte, fürchtete er, dass das Wesen Fandral unabsichtlich Brolls Anwesenheit verraten konnte. Der Grund dafür würde dem Erzdruiden irgendwann sowieso bekannt werden. Doch Broll wollte, dass es eher später als früher passierte. Denn dann war er schon lange fort.

Und falls die Dinge nicht so liefen, wie Broll sie geplant hatte, war er sehr wahrscheinlich sowieso tot.

Der Druide korrigierte die Flugbahn, um anderen, schlaueren Wächtern auszuweichen, die sich in den Ästen versteckten. Die Schildwache, Darnassus’ bewaffnete Streitkräfte, patrouillierte in Teldrassils Krone. Sie wurden von Shandris Mondfeder angeführt, die ihrer Herrscherin völlig ergeben war.

Nur wenige Nachtelfen waren fähiger oder erfahrener als Shandris, die Tyrande vor langer Zeit auf dem Schlachtfeld während des Ersten Krieges gegen die Brennende Legion gerettet hatte. Shandris war ein Waisenkind gewesen, eins von so vielen. Unter Anleitung der Hohepriesterin war sie im Rang aufgestiegen und hatte sich als eine der begabtesten Kriegerinnen ihres Volkes erwiesen.

Es war völlig logisch gewesen, dass Tyrande Shandris für eine so wichtige Mission ausgewählt hatte. Die Hohepriesterin würde in einer heiklen Angelegenheit wie dieser niemand anderem vertrauen. Broll fühlte sich geehrt, zu diesen Vertrauten zu gehören.

Er spürte, dass er seinem Ziel nahe war und schob die Gedanken an Tyrandes Wahl beiseite. Kaum einen Flügelschlag später brach die Sturmkrähe durch das Blattwerk... und gelangte in einen Bereich der Hauptstadt, der als Enklave des Cenarius bekannt war.

Wie bei so vielem in Darnassus war es für einen Außenstehenden unmöglich zu erkennen, dass dieser heilige Ort zu einer Stadt gehörte, die auf dem Ast eines Baumes errichtet worden war. Große Bäume – hauptsächlich Eichen und Eschen – durchzogen die Enklave. Jeder Baum trug mystische Runen, die aus der Rinde gebildet waren. Der kreisrunde Hain bestand aus einer Handvoll Gebäuden, die aus lebenden Bäumen und sorgfältig geformten Steinen errichtet waren. Sie waren die üblichen Versammlungsorte für die Treffen der Druiden. Das größte Haus diente Fandral Hirschhaupt als Wohnung.

Die Sturmkrähe flog nicht direkt auf das Sanktum des Erzdruiden zu, stattdessen landete sie zunächst auf einem Ast, der es ihr erlaubte, den Bereich zu überblicken. Die Enklave des Cenarius strahlte vor allem Ruhe aus, und sie war ein gemütlicher Ort. Doch auch hier gab es Wächter, besonders die, die von Fandral selbst eingesetzt worden waren.

Broll flatterte zu einem anderen Ast und blieb dabei tief genug, um nicht innerhalb der Enklave aufgespürt zu werden. Dabei blieb er aber stets nahe genug beim Sanktum des Erzdruiden. Er musste schnell eindringen, aber vorsichtig.

Alles wirkte ruhig, doch als Broll das grüne und purpurne Gebäude beobachtete, bemerkte er feine Ranken, die im Zickzack verliefen. Er neigte den Kopf und beobachtete die kleinen Knospen, die sich entlang der Ranken befanden. Sie wirkten wie eine dekorative Pflanze... und waren der einzige Hinweis auf Fandrals Gerissenheit. Selbst die meisten anderen Druiden – und Erzdruiden – hätten es schwer gehabt, die Ranken als Gefahr zu erkennen.

Die Sturmkrähe drehte den Kopf und zupfte eine Feder von ihrem Körper. Den kleinen Schmerz ignorierend, flog Broll hoch über die Ranken. Er ließ die Feder fallen.

Die Feder traf auf eine Knospe, die sich augenblicklich öffnete. Daraus schoss eine Art Saft hervor, der die Feder augenblicklich ein-schloss. Mit einem Plumps fiel sie zu Boden. Der Saft war schnell hart geworden.

Es gab Hunderte, vielleicht Tausende dieser kleinen Knospen. Eine derart große Zahl hätte Broll leicht mit dem Saft bedecken und ihn so gefangen nehmen können, bis Fandral zurückkam.

Broll erforschte die Ranken und beobachtete sie weiter. Ein paar kleine Bienen summten ungehindert an den Knospen vorbei.

Die Sturmkrähe stieß einen leisen, aber triumphierenden Laut aus, dann flatterte sie zu Boden. Broll achtete dabei darauf, sich vom Sanktum des Erzdruiden fernzuhalten.

Erst auf dem Boden nahm Broll wieder seine wahre Gestalt an. Er verschwendete keine Zeit und murmelte etwas. Der Druide gebrauchte keine Worte, sondern Klänge, die alle einen scharfen, summenden Ton in sich trugen.

Einen Augenblick später hörte Broll ein weiteres Brummen. Er summte weiter und beobachtete, wie sich die Bienen vor ihm sammelten. Sie flogen um ihn herum und schienen besonders neugierig zu sein.

Der Druide änderte das Tempo seines Zaubers, und der Schwarm reagierte augenblicklich. Die Bienen flogen in Massen auf das rankenbewehrte Gebäude zu.

Broll verwandelte sich wieder in eine Sturmkrähe und folgte den Bienen, deren Zahl immer noch anstieg, als er sich zu ihnen gesellte. Sie waren alle als Antwort auf den Ruf hier, den er als Einladung ausgesandt hatte. Die Bienen sammelten sich nun an der Stelle, wo der Nachtelf sie hinführte. Vor einer Fensteröffnung befanden sich dicht stehende Ranken.

Für Broll wäre es unmöglich gewesen, durch das Fenster zu fliegen. Selbst wenn er so schnell gewesen wäre, wie seine Flügel es zuließen. Doch die Bienen schwebten jetzt über den Knospen und versuchten vergeblich, die Blüten zu bestäuben, die ihnen versprochen worden waren. Broll bedauerte diese List, doch er hatte keine andere Wahl.

Als er sicher war, dass alle Knospen besetzt waren, flog der Druide auf das Fenster zu. Kaum hatte er es erreicht, sah er, wie sich einige der Knospen bewegten. Doch die Anwesenheit der Bienen hielt sie davon ab, den Saft auszustoßen.

Sein fliegender Körper passte kaum durch, aber schließlich gelangte er doch hinein. Broll landete auf dem Boden, dann wechselte er erneut die Gestalt. Er wusste, wo Fandral aufbewahrte, wonach er suchte. Der Erzdruide schien niemanden für wagemutig genug zu halten, ein derartiges Vergehen in die Tat umzusetzen.

Broll achtete nicht auf den Rest der Umgebung und ging direkt zu einer Kiste, die aus Stahlgras gefertigt war. Während sie von außen weich wirkte, konnte Stahlgras doch hart wie Metall werden. Ein normaler Nachtelf wäre nicht in der Lage gewesen, es zu durchschneiden oder den Deckel aufzubrechen. Doch Broll war mit Fandrals Methoden vertraut, die sie beide von Malfurion erlernt hatten. Broll wusste sogar ein paar Dinge, von denen er glaubte, dass Fandral sie nicht kannte.

Der Druide legte die Hände zusammen und testete die Beschaffenheit der Kiste. Er spürte die bindenden Zauber, die Fandral benutzt hatte und die Methoden, mit denen der Erzdruide das Stahlgras selbst geformt hatte.

Die Stränge, die die Kiste versiegelten, öffneten sich. Broll zögerte, dann hob er den Deckel.

Das Götzenbild von Remulos starrte ihn an. Die Drachenfigur schien fast begierig auf seine Ankunft gewartet zu haben.

Erneut entbrannte ein Kampf in seinen Gedanken. Er erkannte die Dämonen der Brennenden Legion und ihren Anführer, den Grubenlord Azgalor. Broll musste wieder hilflos mit ansehen, wie er von der Dämonenklinge getroffen wurde und ihm dann das Götzenbild aus der Hand rutschte.

Und erneut schlossen die entfesselten und korrumpierten Kräfte das einzige Wesen ein, das an seiner Seite stand. Seine Tochter. Anessas Tod war nicht leicht gewesen. Sie war schrecklich verbrannt, ihr Fleisch verdorrte vor seinen Augen...

Broll biss die Zähne zusammen, als er den Schmerz seines Versagens zurückdrängte. Er ließ nicht zu, dass seine Gefühle die Kontrolle über ihn erlangten. Er hatte die Statue, nur das zählte... das und Malfurions Schicksal.

Es hatte die Möglichkeit bestanden, dass Fandral Remulos nicht gehorcht und die Statue zu sich zurückgerufen hatte. Doch Fandral hatte tatsächlich auf den Rat des Wächters der Mondlichtung gehört und so dafür gesorgt, dass Broll sein Ziel erreichen konnte.

Der Nachtelf nahm die Figur sanft auf und bewunderte nicht zum ersten Mal ihre beinahe schon surreale Majestät. Einen Augenblick lang fragte er sich, wie eine so exzellente Arbeit gleichzeitig die Quelle von etwas dermaßen Bösen sein konnte. Natürlich war das Götzenbild mittlerweile von allem Dämonischen gereinigt worden, vielleicht machte das ja den Unterschied aus.

Der Nachtelf dachte an Remulos’ Warnung, sah aber keine andere Möglichkeit, um seine Pläne umzusetzen. Broll brauchte das Götzenbild. Er würde sich nur ganz besonders in Acht nehmen müssen.

Er zögerte nicht weiter und versiegelte die Kiste schnell wieder.

So, jetzt kann ich Diebstahl zur Liste meiner Taten hinzufügen, dachte Broll bitter. Wie würden Varian und Valeera darüber lachen...

Er verbarg die Statue unter seinem Umhang. So wie der Rest seiner Kleidung und seiner persönlichen Dinge würde auch sie an einen magischen Ort gebracht, sobald er sich verwandelte.

Doch als der Druide wieder zur Sturmkrähe wurde, hörte er ein schweres Plumpsen. Er neigte den Kopf und sah, dass die Statue neben seinen Krallen lag.

Broll stieß ein leises frustriertes Krächzen aus und flog hoch, dann griff er die Statue mit den Klauen. Als er schließlich das Götzenbild aufgenommen hatte, war er zu größter Eile gezwungen. Vielleicht achtete man nicht so sehr auf eine Sturmkrähe, die einfach wegflog. Aber eine Sturmkrähe, die eine Statue trug, würde sicherlich mehr Fragen aufwerfen, als ihm lieb war.

Flatternd wandte Broll sich dem Fenster zu. Dabei fiel sein Blick auf eine weitere Statue. Diese stand auf einem Ast, der wie ein Tisch oder ein Regal geformt war. Runen prangten darauf, doch es war der Gegenstand, der einen Moment lang die Aufmerksamkeit des Druiden erregte. Es war die Figur eines jüngeren Nachtelfen, die Fandral sehr ähnlich sah. Obwohl es nicht Fandral selbst war.

Volstann... Broll neigte den Kopf aus Respekt vor dem Nachtelfen, den die Elfenstatue darstellte. Wie Broll hatte Fandral sein einziges Kind verloren. In diesem Fall seinen Sohn. Obwohl die Umstände völlig andere gewesen waren – der Erzdruide war nicht verantwortlich für Volstanns Tod gewesen -, war der Verlust immer ein verbindendes Element zwischen den beiden älteren Nachtelfen gewesen.

Ein Band, das Brolls Tat für immer durchtrennen würde.

Er konnte spüren, wie die Bienen das Interesse allmählich verloren. Schnell flog Broll auf das Fenster zu. Der Druide erkannte, wie der erste Schwarm bereits abhob. Er beschleunigte, dann faltete er die Flügel eng an den Körper, als er durch das Fenster schoss.

Die Bienen flogen hoch. Es waren zu viele. Das bedeutete, dass einige der Knospen jetzt nicht mehr bedeckt waren.

Etwas traf seinen linken Flügel an der Spitze, Broll ruckte zur Seite. Diese unfreiwillige Aktion bewahrte seinen Kopf davor, in der klebrigen Substanz eingefangen zu werden.

Er wurde wieder getroffen, diesmal am rechten Bein, bevor er schließlich außer Reichweite gelangte. Selbst dann wurde Broll nicht langsamer. Er hatte das Undenkbare getan, und seine einzige Hoffnung war, dass sein verrückter Plan irgendetwas verändern konnte.

Malfurion war im Smaragdgrünen Traum verloren. Es gab weder Kontakt zum großen Aspekt Ysera noch zu einem der anderen grünen Drachen, die diese magische Ebene bewachten. Tyrandes Vorschlag, nach Eschental zu gehen, machte am meisten Sinn. Doch wenn sie eine echte Aussicht auf Erfolg haben wollten, würden sie Hilfe größerer Art brauchen als die eines einsamen Druiden von fragwürdiger Eignung und einer Priesterin der Mondgöttin.

Und durch das Götzenbild von Remulos hoffte Broll, genau diese Hilfe kontaktieren zu können... falls nicht schon der Versuch ihn umbrachte.


Thura kämpfte sich durch die dichte Vegetation. Ihr Orcsinn fürs Praktische sah keinen Grund, warum sie die magische Axt nicht auch für eine solch banale Aufgabe nutzen konnte. Denn wozu war eine Waffe sonst gut, wenn man damit seinen Feind nicht erreichen konnte?

Sie spürte, dass sie sich ihrem Ziel näherte. Die Reise konnte vielleicht noch Tage dauern. Vielleicht war sie aber auch schon am nächsten Morgen vorbei. Doch der Schlüssel, den verräterischen Elf zu finden, war nah.

Der Wald wich schließlich offenerem Land und dann einer Kette von höheren Hügeln. Die Orcfrau erblickte mehrere Höhleneingänge von verschiedener Größe. Thura umklammerte die Axt nun wieder wie eine Waffe. Höhlen konnten Gefahr bedeuten, besonders, wenn hungrige Tiere oder wilde Trolle darin hausten.

Als sie die Hügel erreichte, bemerkte Thura, dass eine merkwürdige Stille über dem Land lag. Wo waren die Vögel? Ein paar Insekten kündeten von ihrer Anwesenheit, doch nichts Größeres schrie oder flog in Sicht. Ein ideales Gebiet für die Jagd war das hier nicht... doch vielleicht wurde sie selbst gejagt.

Schon nach wenigen Minuten auf dem neuen Terrain verlangte die Erschöpfung ihr Recht. Thura blieb nichts anderes übrig, als sich auszuruhen und ein wenig Schlaf zu riskieren. Sie blickte zu den dunklen Höhleneingängen um sich herum. Sie wählte einen Unterschlupf, der zu klein war, um einen großen Jäger beherbergen zu können, aber ausreichend groß für ihre Bedürfnisse.

Die Höhle wurde nach nur ein paar Metern größer, bevor sie vor einer gewölbten Wand endete. Nachdem sie sich versichert hatte, dass es keine versteckten Öffnungen gab, die irgendeine Gefahr beherbergen konnten, ließ sich die Kriegerin in einer Ecke nieder, von der aus sie sowohl die Höhle als auch den Eingang beobachten konnte.

Sie hatte nur noch wenige Vorräte übrig behalten, und das Wenige teilte Thura sorgfältig ein. Drei Stücke getrocknetes Ziegenfleisch, einige langsam verrottende Knollen und einen halben Beutel voll Wasser. Thura aß eins der Fleischstücke und eine Knolle. Dann gestattete sie sich zwei kleine Schlucke des brackigen Wassers. Sie ignorierte den Protest ihres Magens, der schon seit Tagen nicht mehr gefüllt worden war. Irgendwo würde sie genug zu essen finden, um weiterzumachen, bis sie ihren Blutschwur erfüllt hatte. Nur dann, und wenn sie es überlebte, würde Thura sich mit profaneren Dingen abgeben können...

Ein Zischen hallte durch die Höhle.

Die Orcfrau brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass das Geräusch von draußen gekommen war. Thura packte die Axt und lief zum Eingang. Das Zischen stammte von keiner gewöhnlichen Schlange oder Echse. Der Intensität nach zu schließen, kam es von etwas viel, viel Größerem.

Das Fehlen der Vögel und Tiere in der Gegend erschien auf einmal verständlicher.

Thura wartete, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Schließlich trat sie einen Schritt nach draußen, bereit, es mit jedem Gegner aufzunehmen.

Ein starker Wind kam plötzlich auf. So stark, dass er die stämmige Orcfrau fast in die Höhle zurückgedrängt hätte. Die ohnehin schon düstere Region wurde noch dunkler, als hätte jemand die Sterne und den Mond ausgeblendet.

Und dann geschah etwas. Ein großer Schatten legte sich über Thuras Aufenthaltsort. Er glitt über sie hinweg, tiefer in das Land hinein.

Die Orcfrau trat weiter hinaus und versuchte, mehr zu erkennen. In der Ferne verschwand die riesige Gestalt hinter dem Horizont.

Nachdem sie eine Weile abgewartet hatte, ob das Wesen sich wieder in den Himmel erheben würde, ging Thura in die Höhle zurück. Sie ließ sich nieder, behielt die Axt aber in der Hand. Ein schwacher Schimmer lag nun in ihren Augen.

Das war ein Zeichen gewesen. Als sie das letzte Mal geschlafen hatte, hatte sich der vorher immer gleiche Traum verändert. Es war ein Hinweis auf etwas gewesen – ein kurzes Aufleuchten, eine vage erkennbare Gestalt, die sie erst später richtig erkannt hatte.

Eine Gestalt, derjenigen sehr ähnlich, die Thura gerade gesehen hatte.

Dort war ein Drache gewesen.

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