1 Teldrassil

Eine Vorahnung, wie die anmutige Priesterin der Nachtelfen sie seit dem Fall von Zin-Azshari nicht mehr gespürt hatte, erschütterte sie bis ins Mark.

Tyrande Wisperwind versuchte, sich ihrer Meditation hinzugeben. Darnassus, die neue Hauptstadt der Nachtelfen, war als Zeugnis für das Überleben ihres Volkes erbaut worden. Und nicht, um eine verrückte Königin zu ehren.

Obwohl viel kleiner als ihre Vorgängerin, war die Stadt Darnassus auf ihre eigene Weise nicht weniger spektakulär. Das lag auch an ihrer Lage hoch in den westlichen Ästen von Teldrassil... dem Weltenbaum. Er war so groß und mächtig, dass die Nachtelfen darauf imposante Bauten hatten errichten können wie etwa den Tempel des Mondes. Die dazu benötigten Steine stammten vom Festland und waren mittels Magie in die unglaublichen Höhen geschafft worden. Noch beeindruckender als die Tatsache, dass die Hauptstadt auf Teldrassils Ästen stand, war, dass sie nur die größte von etlichen Siedlungen im Laubwerk war.

Dabei hatte sie viel den Druiden zu verdanken, die den Baum aufgezogen hatten.

Tyrande versuchte, ihr Bedürfnis nach Frieden nicht von den Gedanken an die Druiden beeinflussen zu lassen. Sie respektierte die Druiden, weil die Natur immer ein zentraler Teil der Existenz der Nachtelfen gewesen war und auch weiterhin sein würde.

Doch selbst, wenn sie nur flüchtig an die Druiden dachte, wurden Erinnerungen wach, die gleichsam wundervoll und sehr schmerzhaft waren. Erinnerungen an ihren Freund aus Kindertagen, ihren Geliebten, Malfurion Sturmgrimm.

Das sanfte Licht der Mondgöttin schien durch das runde Dachfenster aus Buntglas in die große zentrale Kammer. Zeitweilig verwandelte es sich von silbern zu einem sanften Purpur, so wie momentan. Doch es wurde wieder silbern, als es auf den glitzernden Teich traf, der die Statue von Haidene umgab – die erste Hohepriesterin, die als Kind die gesegnete Stimme von Elune gehört hatte.

Wie üblich saß Tyrande im Schneidersitz am Teich auf den riesigen Steinstufen vor Haidenes emporgereckten Armen und versuchte verzweifelt, von ihren Vorgängerinnen und der Göttin Trost und Führung zu erhalten. Sie brauchte Hilfe, um das wachsende Gefühl der Angst loszuwerden. Obwohl Priesterinnen und Novizinnen oft zum Meditieren und um Frieden zu finden hierherkamen, war Tyrande zu dieser Stunde allein.

Sie hatte die Augen zugepresst und versuchte erfolglos, jeden Gedanken an Malfurion aus ihrem Geist zu verbannen. Das Band ihrer stürmischen Beziehung reichte zurück bis an den Anfang des Kriegs der Ahnen, als sie, Malfurion und sein Zwillingsbruder Illidan die Unschuld der Jugend verloren hatten und erfahrene Krieger geworden waren. Sie erinnerte sich noch lebhaft an Illidans Verrat und ihre Gefangenschaft in Azsharas Palast. Und obwohl sie bewusstlos gewesen war, als man sie dorthin gebracht hatte, durchlebte Tyrande den Transport in ihrer Erinnerung so, wie sie ihn sich vorstellte. Gefangen von Xavius’ Dienern, dem bösen Berater der Königin, der vom Herrn der Brennenden Legion in einen Satyr verwandelt worden war. Auch der Beinaheverlust ihres geliebten Malfurion war ihr ins Gedächtnis gebrannt, nachdem er es eben erst geschafft hatte, die Dämonen von ihrer Welt zu verbannen. Ihr Herz schmerzte bei der Erinnerung daran, wie er den letzten Rest seiner Macht beschworen hatte, um sie zu retten.

Doch am nachhaltigsten erinnerte sie sich an all die Hoffnungen und Träume, die sie beide nach dem Krieg geteilt hatten. Sie planten ein gemeinsames Leben zu beginnen. Wollten, dass Azeroth keine weiteren Opfer mehr von ihnen beiden verlangen konnte.

Doch zu Tyrandes großer Enttäuschung führte Malfurions Berufung ihn wieder fort. Er begann, andere Druiden auszubilden, weil Azeroth selbst so viel Heilung benötigte, und sie gehörten zu den eifrigsten Helfern. Als Malfurion sich dazu entschloss, Tyrande jahrelang zu verlassen, um durch den Smaragdgrünen Traum zu wandeln, hatte sie sich manchmal gefragt, ob er sie jemals wirklich geliebt hatte.

Tyrande war mittlerweile in die Rolle der Hohepriesterin der Elune gedrängt worden. Und praktisch gegen ihren Willen war sie zur Herrscherin ihres Volkes aufgestiegen. Erst in dieser Position hatte sie die Gesellschaft der Nachtelfen nachhaltig ändern können. Etwa indem sie das traditionelle – und oftmals fehlerhafte – System der militärischen Befehlskette auflöste, das allein auf Abstammung basierte. Stattdessen gründete sie die Schildwache, deren Offiziere nur durch eigene Verdienste aufsteigen konnten.

Das Schicksal, Herrscherin der Nachtelfen zu sein, hätte sie nicht freiwillig gewählt. Doch sie konnte es auch nicht ablehnen, denn viel zu sehr wollte sie das Volk der Nachtelfen beschützen.

Mutter Mond, gewährt mir Ruhe, erbat die Hohepriesterin stumm. Obwohl sie Jahrtausende alt war, schien die Nachtelfe wenig älter zu sein als an dem Tag, als sie zur Herrscherin ernannt worden war. Sie hatte immer noch das üppige mitternachtsblaue Haar, das über ihre Schultern floss. Die silbernen Strähnen hatte sie schon seit ihrer Jugendzeit. Ihr Gesicht war das eines jungen Mädchens, obwohl mittlerweile feine Fältchen die Winkel ihrer silbernen Augen durchzogen. Aber selbst das war eher sechs oder sieben Jahren wahren Alterns geschuldet denn den zehn Jahrtausenden, die sie bereits lebte.

Doch der Versuch, ein oder mehrere Jahrhunderte lang weise zu regieren, forderte seinen Tribut. Deshalb suchte die Hohepriesterin gelegentlich Ruhe in der Meditation. Tyrande brauchte nur ab und zu eine Stunde, was sicherlich keine zu große Forderung an Elune war. Hier, gebadet im stets präsenten Licht von Mutter Mond, fand sie normalerweise ohne Mühe ihre innere Mitte. Doch dieses Mal entschlüpfte ihr das Gefühl des Friedens. Tyrande kannte die Gründe dafür, aber sie wollte sich ihnen nicht beugen. Sie konzentrierte sich stärker – und keuchte. Das sanfte Mondlicht funkelte, blendete sie... und schmerzte sie zum ersten Mal.

Ihre Umgebung veränderte sich. Sie befand sich nicht mehr in der Sicherheit des Tempels. Stattdessen stand die Nachtelfe an einem dunklen Ort, dessen irdene Wände ihn sofort als Kammer in einem Grabhügel kennzeichneten. Tyrande konnte sämtliche Details in der Kammer gut erkennen. Sie erblickte Beutel voller Kräuter, Federn, Zähne und andere Objekte, die allesamt aus Azeroths Fauna stammten. Es waren auch Zeichen zu sehen. Einige waren ihr vertraut, während andere ihr völlig unergründlich blieben.

Ein Schaudern lief ihr den Rücken hinunter. Sie wusste, wo sie war, doch sie konnte es nicht glauben.

Plötzlich trat eine Priesterin der Elune in ihr Blickfeld. Tyrande kannte sie beim Namen, erkannte ihr schmales, faltenloses Gesicht. Es war Merende – viel jünger als die Hohepriesterin, doch eine geschätzte Akolytin von Mutter Mond.

Eine zweite Priesterin folgte Merende. Sie war ihrer Herrscherin ebenfalls bekannt. Der Priesterin folgte ein dritte. Sie alle blickten düster und hielten den Kopf gesenkt. Die Priesterinnen trugen einfache silberne Roben mit Kapuzen. Die schlichten Stoffe waren dem Respekt vor ihrer Umgebung geschuldet, weil die Priesterinnen sich nicht unter ihresgleichen aufhielten. Stattdessen befänden sie sich an einem Ort, der unter Aufsicht der Druiden stand. Dies war eine Gruft – eine Heimstatt sozusagen -, in der ein Angehöriger ihrer Zunft ruhte.

Als Tyrande gerade darüber nachdachte, veränderte sich der Blickwinkel und folgte unwillentlich den Augen der besorgten Priesterinnen. Ein Körper ruhte flach auf der gewobenen Grasmatte, ein schwaches silbernes Licht – Elunes Licht – lag über der reglosen Gestalt. Tyrandes Herzschlag beschleunigte sich bei diesem feierlichen Anblick, obwohl sie sich eigentlich daran gewöhnt haben sollte.

Selbst im Schlaf waren auf dem stolzen Gesicht des Liegenden die Zeichen der Zeit und der Mühsal viel deutlicher zu erkennen als auf ihrem. Sein langes graues Haar, das von den Priesterinnen gekämmt worden war, lag auf seiner Brust, wo es mit dem vollen, langen Bart zu verschmelzen schien. Seine dichten Augenbrauen ließen ihn ernst und gedankenvoll wirken.

Er war aufwendiger als die meisten Druiden gekleidet – weniger aus eigener Entscheidung, als vielmehr, weil es seiner Position entsprach. Eine schwere Rüstung mit hervorstehenden Dornen bedeckte seine Schultern, passende Teile schützten Unterarme und Schienbeine. Obwohl aus Holz gefertigt, das aus Respekt vor der Natur nur von toten Bäumen stammte, war die durch Zauber gewirkte Rüstung haltbarer und belastbarer als eine aus Metall. Das ärmellose Gewand reichte bis zu seinen in Sandalen steckenden Füßen hinab und war an der Seite in Beinhöhe mit blattförmigen Mustern geschmückt. Um die Knöchel verliefen blaue Bänder, auf denen Halbmonde prangten, als kleine Ehrung für Elune.

Malfurion Sturmgrimm schaute zur Decke, seine goldenen Augen waren leer.

Tyrande trank den Anblick ihres Geliebten förmlich. Ihre Beine wurden schwach, als sie ihn betrachtete – wie konnte ein Wesen mit einem so wachen und lebendigen Geist nur derart leblos und hoffnungslos wirken?

Sie lächelte schwach, als sie Malfurion ansah, der so majestätisch war, so vornehm. So edel der männliche Nachteil auch wirkte, verlangte ein Aspekt an ihm doch die meiste Aufmerksamkeit. Aus seiner Stirn erwuchs ein stolzes Geweih. Beinahe sechzig Zentimeter lang waren die beiden Äste, die kein Geburtsfehler waren, sondern ein Geschenk und Zeichen von Cenarius. Es gab nur wenige Druiden, die den Segen des vierbeinigen, behuften Halbgotts trugen. Und von den wenigen war er der Erste und Größte.

Als Malfurion das Geweih seinerzeit gewachsen war, hatte Tyrande nicht die Fassung verloren. Stattdessen hatte sie es stets als Anerkennung seiner Größe gesehen, von der sie schon immer gewusst hatte, dass sie in Malfurion steckte.

„Malfurion...“, flüsterte sie dem Körper zu, obwohl niemand, schon gar nicht er selbst, sie hören konnte. „Oh, mein Malfurion... warum musstet Ihr mich wieder verlassen?“

Sie sah zu, wie ihre Anhänger neben dem reglosen Körper niederknieten und ihm ihre Hände auf Kopf und Brust legten. Tyrande wusste, was sie taten. Schließlich hatte sie selbst die Anweisungen dazu erteilt.

Nur durch den Segen von Mutter Mond lebte Malfurion Sturmgrimm überhaupt noch. Ihr Glaube hielt den Körper des Erzdruiden lebendig und gesund, und sie hoffte entgegen allen Erwartungen auf den Tag, an dem Malfurion sich wieder regen würde. Dass seine Traumgestalt zurückkehren würde, wo auch immer sie sich im Smaragdgrünen Traum verlaufen hatte...

Die Hohepriesterin wollte verzweifelt fort. Welchem Zweck diente es, dass Elune ihr diese Szene zeigte? Dadurch wurden nur ihre Furcht neu entfacht und weitere schreckliche Erinnerungen ausgelöst. Sie konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen, verloren für sie... vielleicht für immer.

Malfurions Hüterinnen traten zurück. Sie blickten düster. Die Priesterinnen verrichteten diese Aufgabe Tag für Tag und kannten ihre Pflichten.

Die Haut des Erzdruiden verdunkelte sich plötzlich.

Die drei Priesterinnen zeigten keine Reaktion auf diese Transformation, fast als könnten sie sie nicht sehen. Tyrande dagegen beugte sich zu Malfurions Seite hin und ignorierte, dass ihr Körper durch eine ihrer Anhängerinnen hindurch glitt, weil sie für Tyrande nur eine feinstoffliche Gestalt war. Jetzt war nur die schreckliche Transformation ihres Geliebten wichtig.

Während sie hilflos und unfähig, ihn auch nur zu berühren, dabeizusehen musste, setzte sich die merkwürdige Veränderung am Körper des Erzdruiden fort. Sein Fleisch verdunkelte sich, verkrustete wie die Borke eines Baums. Seine Beine und Arme wurden knorrig. Schartige schwarze Blätter sprossen aus seinem Haar und Bart und überwucherten schnell beides. Zur gleichen Zeit begannen die Blätter langsam hin und her zu wehen, als würde ein Wind von irgendwoher an diesem unterirdischen Ort blasen.

Die goldenen Augen verblassten zu dem Silber, das sie bei seiner Geburt gehabt hatten, sanken dann erschreckenderweise ein und verwandelten sich in schwarze Klüfte.

Die rhythmische Bewegung der Blätter lenkte die Hohepriesterin von den schrecklichen Augen ab, obwohl sie zuerst nicht den Grund dafür entdeckte. Es lag etwas Vertrautes in der Bewegung. Und dann erklang ein fernes Geräusch, ein stetiges pulsierendes Pochen, das schnell an Intensität gewann.

Ein Herzschlag.

Verzweifelt blickte sie sich um – die anderen Priesterinnen schienen es nicht zu hören. Das Geräusch wurde lauter und immer noch stärker. Schließlich war der Lärm ohrenbetäubend, die Blätter bewegten sich im Rhythmus dazu und dann...

... wurde der Schlag wieder langsamer. Zuerst nur ein klein wenig, doch es war, als würde der Wind schwächer wehen.

Als würde das Herz allmählich aufhören zu schlagen...

Panisch streckte Tyrande eine Hand in Malfurions Richtung aus...

Die Gruft verschwand. Dunkelheit und völlige Stille umfingen die Hohepriesterin. Sie merkte, dass ihre Augen geschlossen waren.

Keuchend öffnete sie die Augen und passte sie an Elunes Leuchten an. Sie saß wieder im Tempel. Die Statue von Haidene ragte stolz über ihr auf. Alles war, wie sie es in Erinnerung hatte, und Tyrande wusste, dass das, was sie erlebt hatte, vielleicht nur einen kurzen Atemzug lang gedauert hatte.

Doch ihre eigene Situation beschäftigte sie nicht im Geringsten. Nur die Vision war wichtig. Sie hatte während all der Jahrhunderte nur selten eine dieser Botschaften von ihrer Herrin erhalten, und sie alle hatten wichtige Nachrichten enthalten. Dennoch war diese... war sie die Beunruhigendste von allen.

Trotz aller Bemühungen und der außerordentlichen Wachsamkeit seiner Hüterinnen stand fest, dass Malfurion starb.


Die Sturmkrähe schlug kräftig mit ihren langen Flügeln, als sie sich der Insel näherte. Die braune Krähe, mit silbergrauen Nuancen an den Enden der Federn, war selbst für ihre Art groß. Ein silberner Kranz bedeckte den Kopf. Zwillingsquasten von gleichfarbigen Federn hingen von beiden Seiten herab und verliehen dem Tier das Aussehen eines Gelehrten. Dunkelbraune Augen lugten unter den Brauen hervor und sogen die Umgebung förmlich in sich auf.

Obwohl ein dichter Nebel den Nachthimmel bedeckte, glitt die Sturmkrähe mit einer Schnelligkeit durch die Luft, die auf Vertrautheit mit der Umgebung schließen ließ. In einiger Entfernung zuckten Blitze über der See, und der Vogel nutzte das kurzzeitige Licht, um nach einem Anzeichen für die Insel zu suchen.

Plötzlich war der einsame Reisende gezwungen, sich gegen eine merkwürdig kalte Windböe zu stemmen, die ihn zurücktrieb. Es war wie eine Warnung, dass nur ein Narr weiterfliegen würde. Doch die Sturmkrähe setzte ihren Weg fort und kämpfte hart gegen den frostigen Wind an. Sie spürte, dass sie ihrem Ziel sehr nah war.

Als hätte sich ein Vorhang geteilt, lichtete sich der Nebel plötzlich. Die Insel kam endlich in Sicht. Sie wirkte klein, wenn man bedachte, wofür sie bekannt und wonach sie benannt war. Aus der Ferne hätte jemand, der den großartigen Anblick das erste Mal sah, glauben können, einen großen Berg zu sehen, dessen Hänge senkrecht aufragten und dabei so hoch reichten, dass selbst die Wolken unter dieser Majestät verschwanden. Doch bei Tageslicht und angenehmerem Wetter würde der Betrachter bemerken, dass es gar kein Berg war – oder gar ein großes Bauwerk, das von Hand errichtet worden war. Es war etwas viel Bemerkenswerteres.

Es war ein Baum.

Er bedeckte den größten Teil der Insel. In seinem Schatten lag das Hafendorf, das die Nachtelfen, die dort lebten, Rut’theran nannten. Es war offensichtlich, dass die Insel nur existierte, um den Baumriesen zu beherbergen, nach dem sie benannt und für den sie weltbekannt war.

Es war die Heimat von Teldrassil... dem zweiten Weltenbaum.

Vor zehntausend Jahren war der ursprüngliche Weltenbaum Nordrassil auf dem Berg Hyjal aufgezogen worden. Das war nach der Zerstörung der traditionellen Machtquelle der Nachtelfen gewesen, dem Brunnen der Ewigkeit. Nordrassil war auf dem zweiten Brunnen gepflanzt worden, der durch Illidans falsches Spiel entstanden war. Dabei hatte der Baum zweierlei Zweck gedient. Zum einen sollte er andere davon abhalten, die Magie des zweiten Brunnens zu missbrauchen. Und zum anderen sollte er dafür sorgen, dass die Macht der zweiten Quelle im Laufe der Zeit nicht zu groß wurde.

Von dreien der großen Drachenaspekte gesegnet – Alexstrasza der Lebensbinderin, Nozdormu dem Zeitlosen und Ysera der Träumerin -, hatte der große Baum nicht nur über Azeroth gewacht, sondern war auch an die Unsterblichkeit und die Macht des Volkes der Nachtelfen gebunden.

Doch vor weniger als einem Jahrzehnt hatte der ehrwürdige Nordrassil schrecklichen Schaden während des titanischen Kampfes gegen dieselben Dämonen erlitten, deren erste Invasion seine Aufzucht überhaupt erst begründet hatte – die Brennende Legion. Sein geschwächter Zustand kostete die Nachtelfen viel ihrer berühmten Macht. Schlimmer noch, sie verloren ihre Unsterblichkeit. Und obwohl Nordrassils Wurzeln langsam neu wuchsen, war diese Unsterblichkeit bislang noch nicht wieder zurückgekehrt.

So hatten die Druiden – deren Befürchtungen von ihrem neuen Anführer Fandral beschwichtigt wurden – Teldrassil, seinen Nachfolger, aufgezogen.

Die Sturmkrähe sank hinab, als der Baum sich vor ihrem Blick immer weiter auszubreiten begann. Auch wenn Teldrassil nicht ganz so überwältigend wie sein Vorgänger war, stellte der neue Weltenbaum doch ein wahres Weltwunder dar. Ein phänomenales Werk der Natur, durch die Magie der Welt von Azeroth geschaffen, wie sie die Druiden benutzten. Der Umfang von Teldrassils Stamm war größer als einige Länder. Doch so unglaublich das auch war, war es doch nichts im Vergleich zu seiner grünen Krone, die den Horizont völlig zu bedecken schien.

Etwas beanspruchte kurz die Aufmerksamkeit des Vogels, und er neigte den Kopf. In den großen Ästen erkannte die Sturmkrähe eine Bewegung zwischen den steinernen Gebäuden. Jetzt ragten auch die Dächer der Häuser über die Zweige hinaus.

Als der Vogel weiterglitt, zogen kleinere Siedlungen unter ihm vorbei. Selbst ein See glitzerte kurz unter den Blättern auf, so groß waren die riesigen Äste. Und direkt vor ihm ragte die Spitze eines Berges hervor.

Die Sturmkrähe erreichte die ersten Äste und erhaschte ein weiteres Wunder, das darunterlag. Von dort unten herauf strahlte ein Licht, das nicht nur vom Fackelschein stammte, sondern auch kleine Teile lebendigen Mondlichts enthielt.

Die herrliche Stadt Darnassus, Hauptstadt des auf Bäumen wohnenden Volkes, war verlockend. Auch aus der Ferne war offensichtlich, dass Darnassus es mit anderen sagenhaften Orten aufnehmen konnte, wie der Menschenstadt Sturmwind oder Orgrimmar, der Hauptstadt der Orcs.

Der Weltenbaum sammelte genug Tau, um mehrere Flüsse, Ströme und Seen unter seinen Ästen zu speisen. Eines der Gewässer war so groß, dass ein Teil von Darnassus in es hineinreichte. Die Nachtelfen leiteten das Wasser um, um die Pracht der Tempelgärten und des atemberaubenden Wasserweges zu erhalten. Weiter im Norden auf der anderen Seite des Wassers hatten die Druiden ihr eigenes Heiligtum erbaut, die von Baumland bedeckte Enklave des Cenarius.

Der Vogel drehte ab. Er mied nicht nur Darnassus, sondern auch die anderen unglaublichen Städte, die sich auf der Krone befanden. So einladend der Anblick auch war, lag das Ziel der Sturmkrähe doch weit darunter.

Der große Vogel sank hinab, bis er nur noch gut zehn Meter vom Boden entfernt war, um dann mit seinem angeborenen Talent die Flügel auszubreiten und den Sinkflug zu verlangsamen. Er streckte die Krallen aus, bereitete sich auf die Landung vor.

Kurz bevor die Sturmkrähe den Boden berührte, wuchs sie an. In nur einem Atemzug wurde sie größer als ein Mensch. Die Beine wurden dicker und länger, und die Krallen verwandelten sich in Füße mit Sandalen daran. Zur gleichen Zeit vereinten sich die Flügel, dehnten sich aus, und Finger wuchsen daraus hervor. Die Federn verschwanden, wurden von dichtem waldgrünem Haar ersetzt, das im Nacken zusammengebunden war und vorne einen dichten Bart bildete, der sich auch auf die nun bekleidete Brust erstreckte.

Der Schnabel war zu einem Gesicht mit markanter Nase und einem breiten Mund geworden, dazu eine stets gerunzelte Stirn. Die schwarzen Federn waren Haut von dunkelvioletter Tönung gewichen. Der Gestaltwandler gehörte eindeutig zu dem Volk, das in diesem Land und auch darüber wohnte.

Broll Bärenfell, der Nachtelf, sah wie die meisten anderen Druiden aus. Allerdings war er muskulöser gebaut und glich mehr einem Krieger als die anderen. Sein wenig friedvolles, bewegtes Leben hatte seine Gesichtszüge geprägt. Doch für die Druiden war er immer noch einer der ihren.

Er blickte sich um. Kein anderer Druide war zu sehen, obwohl er spürte, dass sie in der Nähe waren. Das passte ihm gut. Er wollte für einen Augenblick allein sein, bevor er sich zu den anderen gesellte.

Viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Die meisten betrafen seinen Shan’do, seinen Lehrer. Jedes Mal, wenn er nach Teldrassil zurückkehrte, dachte der breitschultrige Elf an ihn. Er wusste, dass er ohne ihn nicht der wäre, der er war. Obwohl Broll sich selbst nur für einen erbärmlichen Druiden hielt. Doch keiner der zu dieser außerplanmäßigen Versammlung erschienenen Druiden, nicht einmal Fandral, wäre hier, wenn es den legendären Malfurion Sturmgrimm nicht gegeben hätte.

Malfurion war nicht nur ihr Anführer gewesen, er war der oberste aller Druiden, ausgebildet vom Halbgott Cenarius persönlich. Der Waldgott hatte in dem damals noch jungen Nachtelfen etwas ganz Besonderes gesehen, eine einzigartige Verbindung zur Welt, und hatte ihn gefördert. Und noch bevor Malfurions mystische Ausbildung beendet worden war, wurde er in den ersten titanischen Kampf gegen Dämonen und Verräter aus den eigenen Reihen verwickelt... wozu sogar Azshara, die Königin der Nachtelfen, und ihr verräterischer Berater Xavius gehört hatten. Wäre Malfurion nicht gewesen, würde Azeroth wahrscheinlich nicht mehr existieren.

Die Geschichten seiner außergewöhnlichen Taten erstreckten sich über alle Zeitalter. Malfurion hatte die bemerkenswerten Jahrhunderte seines Lebens immer wieder für das Wohl seiner Welt und ihrer Bewohner geopfert. Wenn andere gefallen waren, hatte er ihre Schlachten fortgeführt und sie zu seinen gemacht. Aus dem Meister der Naturmagie war ein erfahrener Kriegsherr geworden.

Dennoch hatte Malfurion erst kürzlich, als ein bleibender Friede in greifbare Nähe gerückt war, seine Druiden umorganisiert und versucht, sie auf den ursprünglichen Weg zurückzuführen. Die Vergangenheit war eben die Vergangenheit; die Zukunft ein faszinierendes Rätsel, das man besonnen und in Ruhe erforschen sollte. Malfurion war sogar der Auffassung, dass die Nachtelfen ohne ihre Unsterblichkeit besser dran wären. Denn so waren sie gezwungen, Teil des pulsierenden Lebens auf Azeroth zu werden, statt, wie bislang, als unveränderliches Element nur die Zeiten vorbeiziehen zu sehen...

„Malfurion...“, murmelte er. Mit Ausnahme von zwei anderen Wesen hatte niemand Broll in seinem Leben dermaßen beeinflusst wie sein Shan’do. Er schuldete Malfurion viel... und dennoch konnte er den Erzdruiden genauso wenig wie alle anderen von seinem schrecklichen Schicksal erlösen.

Broll blinzelte und kam wieder zu sich. Er hatte gespürt, wie jemand hinter ihm aufgetaucht war. Noch bevor er sich umdrehte, wusste der Nachtelf, um wen es sich handelte. Schon der bloße Geruch verriet diesen speziellen Druiden.

„Der Segen des Waldes sei mit dir, Broll Bärenfell“, brummelte der Ankömmling. „Ich spürte deine Nähe. Ich hatte darauf gehofft, dich zu sehen.“

Obwohl er nicht erwartet hatte, den Neuankömmling zu treffen, war er doch froh darüber. „Hamuul Runentotem... Ihr hattet eine kurze Anreise von Donnerfels.“

Während Broll den meisten anderen Druiden ähnelte, nahm sein neuer Begleiter eine Sonderstellung ein. Zwar glich sein Körper ein wenig dem eines Nachtelfen oder Menschen, doch hatte er breitere Schultern als der ohnehin schon kräftig gebaute Broll. Dazu trug er die lockere, gegerbte Kleidung seines Stammes. Zwei lange rote Riemen hielten die lederne Schulterpanzerung an dem rot gebeizten Lederkilt. Gestreifte Bänder, rot, golden und blau, schmückten jeden Unterarm an den Gelenken.

Doch was Hamuul noch einzigartiger als Broll machte, war, dass er ein Tauren war. Dicke Hufe trugen den schweren Körper, und sein Kopf erinnerte an einen Bullen – wie es für einen Tauren charakteristisch war, auch wenn ihm das niemand jemals ins Gesicht gesagt hätte, wollte er nicht Leib und Leben riskieren. Er hatte eine große Schnauze, in der er einen Zeremonienring trug, und lange Hörner, die sich zuerst bogen, bevor sie nach oben stachen.

Hamuul war fast zweieinhalb Meter groß, und das, obwohl auch er den charakteristischen Buckel seiner Art hatte. Sein feines, graubraunes Fell tendierte mittlerweile eher zu grau. Als Broll den Tauren kennengelernt hatte, war das noch anders gewesen. Hamuul trug zwei dicke Zöpfe über der Brust, die ebenfalls ergrauten. Er war erst spät Druide geworden, und das auch nur, weil Malfurion Sturmgrimm ihn dazu ermutigt hatte. Der Tauren war der Erste seines Volkes gewesen, der seit zwanzig Generationen auf diesen Rang aufstieg, und obwohl es mittlerweile auch noch andere gab, war doch keiner so versiert wie er.

„Die Reise verlief ereignislos, eigentlich schon verdächtig ruhig“, bemerkte der Tauren. Seine ausdrucksvollen grünen Augen zogen sich unter den dichten Augenbrauen zusammen, als wollte er noch etwas hinzufügen, um sich dann aber doch anders zu entscheiden.

Der Nachtelf nickte, seine Gedanken wandten sich kurz der Frage zu, wie er selbst wohl von den anderen wahrgenommen wurde. So viel war von Broll erwartet worden, so viel seit seiner Geburt... und alles nur wegen eines einzigen Zeichens, das er mit Malfurion teilte. Ein einziges Zeichen, das für Broll auch ein ewiges Stigma, ein Makel, war.

Das Geweih auf seinem Kopf war über sechzig Zentimeter lang, und wenn es auch nicht so beeindruckend wirkte wie das des berühmten Erzdruiden, so fiel es doch auf. Es hatte Broll bereits als Kind gezeichnet, dabei war es damals noch nicht mehr als kleine Wülste an jeder Seite gewesen. Doch sie wurden als Zeichen einer zukünftigen Ehrung betrachtet. Schon als Kind war ihm prophezeit worden, dass er eines Tages – irgendwann – Stoff einer Legende werden würde.

Doch während andere das Geweih als Geschenk der Götter betrachteten, war Broll schnell klar geworden, dass es ein Fluch war. Und in seinen Augen hatte ihn das Leben darin bislang nur zu sehr bestätigt.

Wozu waren die Auswüchse letztendlich nütze gewesen, wenn er in den kritischsten Momenten seines Lebens Hilfe gebraucht hatte?

Zum Beispiel, als Broll den Angriff der Dämonen und Untoten abwehren musste, die unter der abscheulichen Herrschaft des Grubenlords Azgalor gestanden hatten. Damals hatte er geglaubt, dass letztlich alle Vorhersagen doch wahr geworden waren. Er hatte den Götzen von Remulos benutzt und damit seine Fähigkeiten als Druide erweitert. Der Feind war zurückgeschlagen worden, wodurch sich Brolls Kameraden zur Hauptarmee zurückziehen konnten.

Doch wieder einmal hatte er sich der Aufgabe als nicht gewachsen erwiesen. Seine Erschöpfung hatte ihm zugesetzt. Azgalors Klinge Tücke, die dieser so gekonnt führte, durchdrang seine geschwächte Verteidigung. Sie durchstieß seine Hand, und Broll ließ das Götzenbild fallen.

Die Macht der Dämonklinge korrumpierte augenblicklich die der Figur eigenen Energien, und sie entluden sich zu einer verzerrten magischen Kraft – eine, die den letzten Verbündeten an Brolls Seite traf.

Seit damals war der Nachtelf oft versucht gewesen, das Geweih einfach abzuschneiden und die Wülste zu veröden, damit sie nicht nachwuchsen. Doch er hatte sich nie zu diesem letzten Schritt durchringen können.

Broll bemerkte, dass Hamuul still geworden war und ihn anblickte. Nach einer Weile raunte der Tauren: „Sie wird stets bei dir sein. Die Geister unserer geliebten Angehörigen wachen immer über uns.“

„Ich habe nicht an Anessa gedacht“, log der Nachtelf.

Hamuul nickte. „Dann entschuldige ich mich vielmals, sie erwähnt zu haben.“

Broll winkte zur Entschuldigung des Tauren, als wollte er sie wegscheuchen. „Ihr habt nichts falsch gemacht“, murmelte er. „Lasst uns aufbrechen. Die anderen werden sich schon am Portal versammelt haben...“

Hamuul runzelte die Stirn. „Aber wir müssen nicht hoch nach Darnassus zur Enklave des Cenarius gehen! Fandral wollte, dass unsere Versammlung woanders stattfindet... ziemlich genau entgegengesetzt unserer derzeitigen Position. Wusstest du das nicht?“

„Nein...“ Broll stellte die Entscheidung des Erzdruiden nicht in-frage. Denn Fandral Hirschhaupt, ihrem Anführer, lag nur ihr Wohl am Herzen. Wenn er es für klüger hielt, sich hier unten zu treffen statt in Darnassus, dann sollte es so sein. Sicherlich gab es gute Gründe dafür.

Plötzlich keimte Hoffnung in ihm. Vielleicht hatte Fandral einen Weg gefunden, ihren Shan’do zu retten...

„Machen wir uns auf“, sagte er zu Hamuul. Der Nachtelf konnte es kaum noch erwarten, zum Versammlungsort zu gelangen. Angespornt von der tiefen, unerschütterlichen Hoffnung, die ihn jedes Mal erfüllte, wenn er nach Teldrassil zurückkehrte, war Broll davon überzeugt, dass Fandral eine Antwort auf Malfurions schreckliche Lage gefunden hatte.

Und wenn nicht?

Der Nachtelf schauderte bei dem Gedanken an den Weg, den sie dann beschreiten mussten...

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