Xavius. Wie gut Malfurion sich doch immer noch an den bösartigen Vertrauten der Königin erinnern konnte. Es war Lord Xavius gewesen, der die Magie von Azsharas hochgeborenen Zauberern überhaupt erst ermöglicht hatte, indem er der Brennenden Legion den Weg nach Azeroth öffnete. Statt von seiner Entdeckung abgestoßen zu sein, hatte Xavius seiner heimtückischen Königin noch dabei geholfen, die Dämonen willkommen zu heißen.
Zweimal hatte Malfurion geglaubt, er sei tot. Das erste Mal während des verzweifelten Kampfes auf dem Turm, wo das Portal für die Dämonen geöffnet worden war. Malfurion hatte mit seinen starken druidischen Fähigkeiten einen Sturm erschaffen, der Xavius durch Blitzschlag in Brand gesteckt hatte und ihn dann vom Regen förmlich zerschmelzen ließ, um ihn schließlich mit einem Donnerschlag buchstäblich zu zerschmettern. Malfurion konnte sich noch an Xavius’ verzerrtes Gesicht erinnern – besonders die magisch geschaffenen schwarzen Augen, in denen ein rubinroter Schimmer lag. Der Erzdruide erinnerte sich an den letzten fürchterlichen Schrei des Beraters, als wäre es gestern gewesen.
Und dann hatte Xavius aufgehört zu existieren.
Doch Malfurion und alle Beteiligten hatten die Macht des finsteren Titans Sargeras unterschätzt. Nachdem er zusammengesucht hatte, was noch von Xavius’ körperlosem Geist übrig geblieben war und er ihn lange genug für sein Versagen gefoltert hatte, hatte Sargeras den ehemaligen Berater zu etwas noch Schrecklicherem geformt. Xavius war als Satyr zurückgekehrt – als eines dieser ziegenähnlichen Monster, die nun schon so lange die Feinde der Nachtelfen waren -, und seine Bösartigkeit war noch gestiegen.
Malfurion hatte beinahe Tyrande an Xavius und seine korrumpierten hochgeborenen Gefolgsleute verloren. Schließlich hatte der Druide Azeroths Macht angerufen, um den Satyr zu verwandeln und zu verhindern, dass Xavius dem Tod noch einmal entkam. Obwohl Xavius sich gewehrt hatte, hatte der junge Druide seinen Feind in einen harmlosen Baum verwandelt.
Zumindest hatte er das die letzten zehn Jahrtausende geglaubt. Das Böse hatte die ganze Zeit über Azeroth gelauert, und Malfurion hatte es nicht bemerkt.
Über all das dachte Malfurion wütend nach, als er zurück nach Darnassus eilte. Er hatte sich wieder in eine Raubkatze verwandelt, den verderbten Ast hielt er im Maul. Er machte sich Vorwürfe für alles, was geschehen war. Doch der Erzdruide fragte sich auch, wie Xavius so lange überlebt haben konnte, um der Albtraumlord zu werden.
Als er die Hauptstadt betrat, schob er diesen Gedanken beiseite und verwandelte sich wieder zurück. Darnassus war zerstört, was zum größten Teil an den weggebrochenen Ästen lag. Die Opfer der Diener des Albtraums lagen überall herum. Die Schwestern von Elune und die Schildwache versuchten zu helfen, wo sie konnten.
Er erblickte Shandris Mondfeder, die beiden Gruppen Weisungen erteilte. Die Generalin wirkte müde, aber sie war in ihrem Element. Unglücklicherweise erkannte sie nicht die Gefahr, die ihrem Volk immer noch drohte.
„Shandris!“ Als sie seine Stimme hörte, wirbelte sie herum.
„Malfurion...“ Die Generalin grüßte ihn respektvoll. Dabei wirkte sie sehr erleichtert. „Elune sei gepriesen, es geht Euch gut.“ Sie bemerkte den bedrohlich wirkenden Ast, den er nun in beiden Händen trug, und sie runzelte die Stirn. „Bei Mutter Mond! Welche Verderbtheit hat das bewirkt?“
„Die Verderbtheit, die sich durch Teldrassil ausgebreitet hat“, antwortete der Erzdruide schnell. „Aber das ist im Moment nicht so wichtig! Darnassus muss evakuiert werden! Der Weltenbaum hat sehr gelitten. Die abgebrochenen Äste, die hier herumliegen, sind nur ein Bruchteil von dem, was noch herunterfallen kann! Zu Eurer eigenen Sicherheit müsst Ihr alle fort von hier!“
Wie zur Bestätigung pflanzte sich ein weiteres Krachen durch Darnassus. Die Stadt erbebte. Teldrassil würde nicht fallen, doch für die Hauptstadt drohte dennoch Gefahr.
„Ich sorge dafür, dass es geschieht“, versprach Shandris.
„Ich kümmere mich um die Druiden“, sagte Malfurion, als sie sich trennten. „Vielleicht können sie es ja auffangen... aber ich kann nichts versprechen!“
„Verstanden!“
Ein Schmerzensschrei erklang aus der Ferne, die Stimme war voll des Verlustes. Doch der Schrei kam von keinem der Opfer, zu denen Malfurion gerade blickte, sondern aus einer völlig unerwarteten Richtung.
Er wandte sich der Enklave zu und stellte fest, dass die anderen Druiden bereits von dort forteilten. Broll führte sie an, Hamuul kam kurz dahinter.
Die Quelle des scheinbar nie endenden Schreis war Fandral. Der Erzdruide brüllte den Namen seines Sohnes immer und immer wieder. Er bettelte, Valstann möge zu ihm zurückkehren.
Zwei Druiden führten ihn an der Hand, als er hinter ihnen hertaumelte und den Namen seines Sohnes rief. Hinter ihnen bewachten Druiden eine kleine Gruppe... dazu gehörten einige Brüder, die ebenfalls Fandrals Wahnvorstellungen verfallen waren. Malfurion war klar, was mit ihnen geschehen musste. Auf der Mondlichtung gab es Orte, wo man die Kranken oder geistig Verwirrten unterbringen konnte. Für Fandrals Anhänger bestand Hoffnung, dass sie erlöst werden konnten.
Doch als er Valstanns Vater beobachtete, fragte sich Malfurion, ob es für Fandral selbst jemals Heilung geben würde. Zwischen dem Albtraum und seinem persönlichen Verlust zerrieben, wirkte der verrückte Erzdruide, als hätte er sich selbst für immer verloren.
Malfurion traf sich mit Broll und berichtete ihm, was er bereits Shandris mitgeteilt hatte. Broll nickte verstehend, seine Blicke verharrten auf dem grausigen Ast. Malfurion eröffnete ihm schließlich, was er herausgefunden hatte.
„Xavius...“ Broll sagte der Name nichts. Er hatte aber die große Wut und Furcht in der Stimme seines Shan’dos erkannt, als Malfurion von ihm sprach.
„Die Druiden müssen den Leuten beim Aufbruch helfen, dann werdet Ihr von mir hören. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Beeilt Euch.“
„Was wollt Ihr tun?“
Malfurion brach einen kleineren Ast nahe der Spitze ab. Die dickflüssige, widerliche Flüssigkeit tropfte daraus hervor.
„Was ich tun muss!“
Mit diesen Worten erschuf Malfurion schnell eine Fackel. Er verbarg das kleine Stück des Zweiges an seinem Körper und entflammte den restlichen Ast. Im selben Augenblick verbrannte er zu Asche, die Malfurion vom Wind wegtragen ließ.
„Seid bereit“, wandte er sich an Broll.
„Natürlich, Shan’do! Ich...“
Aber Malfurion hatte sich bereits verwandelt und war in den Himmel aufgestiegen.
Tyrande wusste, wer da sprach, auch wenn sie während ihrer früheren Begegnung bewusstlos gewesen war. Sie wusste es, weil Malfurion ihr später die fürchterliche Wahrheit enthüllt hatte... und auch, was er ihrem Entführer angetan hatte.
„Ihr könnt es nicht sein...“, murmelte sie abwehrend.
Der Schatten des riesigen skelettartigen Baumes legte sich über das Trio. Die Hohepriesterin spürte, wie sich ihre Brust verengte. Doch wenn sie mit ihrer Hand danach tastete, konnte sie nichts Festes fühlen. Tyrande bemerkte, dass Lucan und Thura dasselbe taten.
Ich bin es und werde es immer sein... Tyrande Wisperwind... Ich bin der Albtraum, und der Albtraum ist ich... Wir sind ewig... und bald schon wird Azeroth ein Teil von uns sein...
„Niemals!“ Sie betete zu Elune, und das Licht von Mutter Mond erfüllte sie. Tyrande konzentrierte das Licht augenblicklich auf den Schatten.
Im Licht schwand der Baum. Tyrande spürte, wie der Druck auf ihrer Brust nachließ.
Dann verdunkelte sich der Schatten erneut, trat deutlicher hervor. Die Hohepriesterin konnte nicht frei atmen. Sie mühte sich, um nicht umzufallen. Die anderen litten ebenso.
Das silbrige Licht schwand und hinterließ nur den widerlich grünen Schein des Albtraums... und den Schatten des Baumes, der einst der Nachtelf Xavius gewesen war.
Ich stehe nun über deiner kleinen Göttin... Ysera gehört mir, so wie ihre Schwester, die Lebensbinderin... Erkenne alle beide und erzittere angesichts deiner verlorenen Hoffnung...
Der Nebel teilte sich... und hinter dem Schatten erschien die Herrin des Smaragdgrünen Traums. Schattenranken, die ebenfalls von ihrem Entführer zu stammen schienen, fesselten sie. Yseras Kopf war gen Himmel gerichtet, als hielte sie nach etwas Ausschau, doch ihre Augen waren geschlossen. Jemand hatte ihre Flügel und Gliedmaßen gestreckt, was ihr sicherlich große Qualen bereitete.
Eine smaragdgrüne Aura ging von Ysera aus, doch nur wenige Zentimeter von ihr entfernt wurde sie zu dem widerlichen fauligen Grün des Albtraums. Es war nur zu klar, dass die Kraft des Aspekts nach Xavius’ Wünschen verkehrt worden war.
Und hinter ihr schwebte Alexstrasza. Ihre Augen starrten leblos geradeaus, und ihr Maul hing schlaff herab. Sie wirkte ausgetrocknet und mehr tot als lebendig. Ihre lebhafte rote Farbe war verblasst, und sie schien kaum noch zu atmen.
Der Nebel umgab die beiden großen Drachen wieder. Tyrande war erschüttert. Sie erinnerte sich, dass Alexstrasza in schrecklicher Gefahr gewesen war, als sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Doch sie hatte geglaubt, dass der Aspekt irgendwie schon entkommen würde.
Tyrande hörte das Schlagen von Flügeln. Eine riesige grüne Gestalt schälte sich aus dem Nebel. Zuerst dachte Tyrande, dass Eranikus zu ihrer Rettung herbeigeeilt wäre. Doch dann landete der Drache zwischen dem Albtraumlord und den drei Gefangenen. Es war eine schreckliche Kreatur, deren Züge offenbarten, wie tief sie bereits korrumpiert worden war.
Lethon verneigte sich vor dem Baum. „Ich bin gekommen, wie du befohlen hast...“
Bereite sie vor... es ist bald so weit... und dann... wird der Sieg des Albtraums allumfassend sein...
Der grüne Drache grinste die drei böse an. „ Kommt, meine kleinen Lieblinge... Smariss wartet schon auf uns...“
Die Magie des Drachen trug sie fort.
Malfurion stieg in den Himmel empor, der nun über der Insel genauso nebelverhangen war wie überall sonst auch. Der Albtraumlord hatte keinen Grund mehr, Darnassus zu verschonen, nachdem Fandral verloren war.
Der Erzdruide flog eine Kurve. Teldrassil erstreckte sich unter ihm. Er konnte nicht die ganze Krone erkennen, doch er sah den zentralen Bereich, der sein Ziel war.
Mittlerweile sollten die Druiden bereit sein. Sie mussten bereit sein...
Hamuul... Broll... Obwohl er nur die beiden beim Namen nannte, berührte Malfurion danach den Geist jedes einzelnen Druiden um den Weltenbaum herum. Sie alle antworteten schnell.
Wir werden Teldrassil heilen, sagte er ihnen.
Viele waren verblüfft. Besonders jetzt, nach Fandrals Verrat. Doch weil sie Malfurion vertrauten, befolgten sie seine Anweisungen ohne zu zögern.
Malfurion stieß hinab und landete in der Mitte der Krone. Dort verwandelte er sich. Die Luft war hier kalt, weil er sich oberhalb der Wälder befand, die auf der Spitze wuchsen. Dennoch war der Erzdruide unbesorgt. Nur sein Plan war momentan von Bedeutung.
Der Erzdruide streckte die Hände aus, als wollte er die große Baumkrone komplett umfassen, und stärkte das Band mit der Hilfe der anderen Druiden.
Lasst uns das Leben von Azeroth dazu nutzen, die Verderbtheit auszumerzen...
In seinem Geist konnte er sehen, dass die anderen Druiden ihm nacheiferten. Malfurion nahm nun Kontakt zu Teldrassil auf. Der Weltenbaum war von der Korrumpierung durchdrungen, doch er konnte noch gerettet werden. Er suchte den Kern der verbliebenen Gesundheit. Es war ein Ort, der nicht in dem hohen Stamm verborgen lag, sondern tief in den Wurzeln.
Malfurion ermutigte diese Wurzeln zu wachsen, tiefer zu graben. Sie sanken tief hinab, erreichten den ursprünglichsten Teil Azeroths... der gleichzeitig der reinste Ort war.
Nährt und heilt..., forderte er den Weltenbaum auf. Nährt und heilt...
Die Reaktion des Baums darauf war träge, wie Malfurion es schon vermutet hatte. Aber er drängte weiter. Weil Teldrassil immer noch krank war, musste er ermutigt werden.
Schließlich begann Teldrassil sich doch zu regen. Mithilfe der Druiden erholte sich der Weltenbaum allmählich. Azeroth unterstützte ihn dabei, wie es das mit allem Leben tat. Teldrassil wurde stärker.
Die Heilung strengte die Druiden allerdings sehr an. Malfurion schwitzte trotz der kalten Luft, und er wusste, dass es seinen Anhängern ähnlich erging. Dennoch gab niemand auf, was ihn mit Stolz erfüllte.
Was normalerweise mehrere Jahre gedauert hätte – was sie selbst mit der Hilfe des ursprünglichen Weltenbaums Nordrassil für unmöglich gehalten hatten -, geschah nun allerorten auf Teldrassil. Plötzlich entwickelte sich überall ein wunderbarer Ansturm des Lebens...
Aus der Krone ertönte ein Gewirr von ohrenbetäubenden Knackgeräuschen. Malfurion fürchtete zuerst, dass die Anstrengungen der Druiden den Baum zu stark belastet hatten und nun all die abgebrochenen Zweige herabstürzten. Doch kein einziger Ast fiel. Stattdessen begannen alle Zweige in Sichtweite, selbst die völlig zerstörten, zu heilen. Risse schlossen sich nahtlos. Das Geräusch stammte von den Ästen, die wieder an ihren alten Platz zurückkehrten.
Und wo die Äste heilten, begann der Baum sofort zu erblühen. Knospen sprossen hervor und verwandelten sich augenblicklich in wunderschöne Blätter.
Doch die Heilung fand nicht nur auf der Oberfläche statt. Der Erzdruide spürte, wie die Energie Teldrassil durchdrang. Sie stieg von den Wurzeln auf, bis zur Spitze und in jeden Ast hinein. Der Weltenbaum seinerseits nährte viele der kleineren Bäume und andere Pflanzen, die darauf wuchsen... bis alle geheilt waren.
Alles schien getan, doch die Druiden ließen nicht nach, weil Malfurion es ihnen noch nicht gestattete. Obwohl er und der Rest bereits erschöpft waren, durchsuchte Malfurion den Weltenbaum mit seinen verstärkten Sinnen.
Er konnte kein Anzeichen der Verderbtheit mehr erkennen. Erleichtert erlaubte er den Druiden, ihren Zauber zu beenden.
Malfurion brach die Verbindung ab, nachdem er den anderen gesagt hatte, dass sie sich ausruhen sollten. Denn die Druiden würden keine große Hilfe mehr sein, wenn sie sich nicht erholen konnten. Sich selbst erlaubte er einen tiefen, kühlen Atemzug, bevor er sich in eine Sturmkrähe verwandelte und abermals losflog.
Der schnelle und wunderbare Erfolg gab ihm neue Kraft. Der Erzdruide stieg hoch auf, um die erneuerte Baumkrone besser sehen zu können... dann zögerte er, als er den Umriss eines großen Reptils sah, das sich aus dem dichter werdenden Nebel schälte. Einen Moment lang glaubte er, dass es vielleicht Ysera wäre, die geflohen war.
Doch obwohl es ein sehr großer Drache war, erkannte er augenblicklich, dass er nicht grün war... sondern rot.
Nur ein roter Drache war so groß.
„Erzdruide!“, brüllte der weibliche Drache. „Ich erkenne dich, auch in dieser Gestalt. Du bist Malfurion Sturmgrimm!“ Der Drache neigte den Kopf. „Ich dachte, du wärst verschwunden?“
Der Erzdruide stieß zur Krone des Weltenbaums hinab und landete. Malfurion verwandelte sich wieder zum Nachtelfen und rief: „Alexstrasza! Große Lebensbinderin, Schwester von Ysera! Wisst Ihr etwas über Yseras Flucht?“
Ihr atemberaubendes Gesicht wurde traurig. „Nein, Sterblicher, das weiß ich nicht! Ich hoffe nur, dass sie auch aus der Gefangenschaft heraus kämpft! Ich bin hier, weil ich blühendes Leben in Zeiten der Not verspürt habe! Dieses Gefühl war so stark, dass ich einfach herkommen und nachsehen musste... Und du scheinst die Quelle all dessen zu sein!“ Alexstrasza blickte Teldrassil an. „Was für ein Kunststück, Malfurion Sturmgrimm!“
„Teldrassil musste geheilt werden, Lebensbinderin! Auch wenn er gegen unseren Wunsch aufgezogen wurde, ist er doch mittlerweile eine von Azeroths stärksten Kräften, die noch lebt!“
„Das ist wahr... das ist wahr...“ Der Gesichtsausdruck des Aspekts signalisierte Vorsicht. Ihr gingen sicherlich einige Dinge durch den Kopf. Schließlich sagte sie: „Auch wenn er ohne den Segen eines Aspekts erschaffen wurde, ist er dennoch ein schöner und stolzer Anblick...“
In diesem Augenblick schwindelte den Erzdruiden plötzlich. Er musste sich anstrengen, um nicht vom Baum herunterzufallen.
Der große Drache musterte die kleine Gestalt intensiv. „Malfurion Sturmgrimm, hast du dir keine Pause gegönnt, als du jedem anderen geholfen hast?“
„Es... es war nicht genug Zeit...“
Der rote Drache blickte von ihm zur Baumkrone und dann wieder zurück. Nach einem Moment sagte sie: „Dafür muss Zeit sein.“
Alexstrasza nahm den Erzdruiden in die Hand. Dann flog sie immer höher, bis man schließlich die ganze Krone überschauen konnte. Malfurion hielt den kleinen Zweig immer noch umschlossen und schüttelte ungläubig den Kopf. Er selbst hätte niemals so hoch fliegen können.
„Ich habe eine Entscheidung gefällt“, erklärte der Aspekt mit dröhnender Stimme. „Obwohl ich und die anderen den Baum zu Beginn nicht gesegnet haben, ist der Segen jetzt vonnöten!“
Sie breitete die Flügel aus, und ein herrlicher, warmer Lichtschein strahlte von ihr aus. Die Lebensbinderin lächelte auf Teldrassil hinab wie zu einem ihrer eigenen Kinder.
„Möge dieser Segen Teldrassil und alles darauf berühren!“, verkündete der rote Drache. „Und möge er für uns eine neue Hoffnung und einen neuen Anfang schaffen!“
Das rotgoldene Leuchten breitete sich von Alexstrasza zur Baumkrone aus. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit fuhr es den Stamm hinab und verlor sich aus Malfurions Blick.
Und dann... war es vollbracht. Teldrassil war nicht nur geheilt... er war nun auch gesegnet, wenn auch nur von der Lebensbinderin. Doch das bedeutete schon einiges.
Alexstrasza kreiste hoch über dem Weltenbaum. Die Umwandlung war komplett. Das herrliche Leuchten verblasste, doch es verschwand nicht von Teldrassil.
„Es ist vollbracht...“, erklärte sie. „Und keinen Augenblick zu spät!“
„Warum? Was geschieht denn gerade?“
„Spürst du es denn nicht? Der Albtraum verschließt alle Wege in ihn hinein! Jetzt, da er direkt nach Azeroth hineinreicht, hält er jeden davon ab, physisch in ihn einzudringen! Du als Druide solltest das spüren können! Die Portale werden eines nach dem anderen geschlossen!“
„Die Portale...“ Malfurion schloss einen Moment lang die Augen und spürte, dass es stimmte. Das brachte ihn auf einen anderen Gedanken. „Was ist mit den grünen Drachen? Würde Yseras Sippe so etwas nicht verhindern?“
„Die kämpfen alle noch im Albtraum. Doch ihre Chancen schwinden, genauso wie die der wenigen, die noch an ihrer Seite mitstreiten! Sie haben weder die Zeit noch sind sie stark genug, um dagegen anzukommen...“
Der Nachtelf starrte sie mit offenem Mund an. „Darnassus!“
Der Aspekt blickte ihn an. „Darnassus?“
„Das Portal dort! Es war noch offen, als ich dort fortging! Vielleicht...“
Ohne ein weiteres Wort eilte die Lebensbinderin auf die Hauptstadt zu. Sie war so schnell, dass sie die Stadt binnen weniger Augenblicke erreicht hatten. Alexstrasza neigte sich nach links und flog auf die Überreste der Tempelgärten zu.
Sie landete und ließ den Erzdruiden absteigen. Malfurion blickte sich schnell um und entdeckte Broll, Hamuul und einige andere Druiden, die ihm entgegenliefen. Sie wurden von einer Handvoll Schildwachen begleitet, darunter Shandris. Angesichts des Drachen waren sie fassungslos.
„Shan’do“, rief Broll im Laufen. „Teldrassil ist... wieder gesund!“
„Ich wünschte, das könnte man auch von Darnassus behaupten murmelte Shandris, als sie zu der Gruppe um Malfurion trat. „Oder den Rest von Azeroth.“
Der Erzdruide winkte jeden weiteren Kommentar ab. „Das Portal? Sind alle schon durchgegangen? Funktioniert es noch...?“
Während er sprach, spürte Malfurion erneut ein Schwindelgefühl. Der Adrenalinschub schwand, Broll und Hamuul mussten ihn festhalten, damit er nicht zu Boden stürzte.
Doch während Malfurion sich zu erholen versuchte, spürte er plötzlich eine tröstende Präsenz in der Nähe. Eine, die er nie zuvor bemerkt hatte. Sie war etwas ähnlich, das der Erzdruide für immer verloren geglaubt hatte... und deshalb konnte er sie identifizieren.
Teldrassil nahm Kontakt mit ihm auf. So wie er geheilt worden war, so bot er nun Malfurion Heilung an. Nicht nur die Verderbtheit war verschwunden, sondern auch Fandrals Einfluss. Der Weltenbaum benahm sich fast so, als hätte Malfurion ihn erschaffen.
„Ihr wisst es schon?“ Er hörte, wie Shandris knurrte. „Kaum war der Baum geheilt, da hat es sich geschlossen! Zuerst haben wir geglaubt, dass Ihr es getan hättet, aber...“
„Der Albtraum verschließt alle physischen Wege in den Traum hinein“, berichtete der rote Drache. „Also sind wir auch hier zu spät gekommen.“
Malfurion sagte nichts, als sein Kopf etwas klarer geworden war. Durch Teldrassils Berührung hatte der Erzdruide noch etwas von großer Bedeutung erfahren.
Malfurion straffte sich. „Die Enklave... wir müssen zur Enklave.“
Ohne zu zögern nahm der Aspekt nicht nur ihn auf, sondern auch noch Broll und Hamuul. Für den Drachen war es eine Kleinigkeit, sie das kurze Stück zur Enklave mitzunehmen und dort wieder zu landen.
Fandrals Heim war zerstört. Die Ranken, die es beschützt hatten, waren abgestorben. Es gab nichts zu bergen, denn sie waren das Ergebnis der Arbeit eines wahnsinnigen Erzdruiden gewesen, der sich mit dem Albtraum eingelassen hatte.
„Hat Fandral dort schon immer gelebt?“
„Nein“, antwortete Broll. „Ursprünglich wohnte er in der obersten Kammer auf dem größten Baum. Dieser Baum dort.“ Der Nachtelf wies auf einen Bereich, der nicht weit entfernt rechts von ihnen lag. „Doch vor kurzer Zeit hat er plötzlich dies hier erschaffen.“
Malfurion nickte. „Das bestätigt, was ich mir gedacht hatte. Ich brauche einen Moment.“ Er gab Broll den kleinen Zweig. „Passt für mich darauf auf, seid aber vorsichtig.“
„Ich verstehe, Shan’do“, murmelte Broll.
Malfurion stand mit erhobenen Armen in der Mitte der Enklave und blickte in das Zentrum von Teldrassil s großer Krone. Die Zeit drängte, und er betete darum, dass sein Versuch nicht lange dauern würde. Er betete ebenso darum, dass er mit seinen Annahmen recht behielt.
Obwohl er stand, begab sich der Nachtelf in eine meditative Trance. Seine lange Erfahrung ermöglichte es ihm, diesen Zustand schnell zu erreichen. Dabei ging er das Risiko ein, zeitweilig wehrlos gegen den Albtraum und Xavius zu sein. Doch dieser Weg eröffnete ihm Teldrassils Möglichkeiten.
Er nahm mit Geist und Seele Kontakt zum Weltenbaum auf... und der Baum begrüßte ihn. Der Erzdruide spürte seine sanfte Berührung und wurde gleichzeitig erregt und traurig. Er betete für Nordrassils Erholung und die von Azeroth, sollte die Welt diesen Angriff überstehen.
Teldrassil betete mit ihm.
Der Nachtelf ließ jede Form der Verteidigung fallen und öffnete sich dem Baum völlig. Wäre noch ein Fünkchen von Xavius’ altem Bösem übrig gewesen, hätte sich Malfurion ebenso seinem Feind geöffnet.
Doch alles, was er spürte, war Teldrassils wundervolle Wärme. All das Leiden, all der Mangel an Nahrung und Ruhe begannen zu schwinden. Malfurion lächelte.
Ein primitiver Teil von Malfurion wollte nach Teldrassil hinein fliehen, Teil von ihm werden und seine sterbliche Existenz aufgeben. Das war immer ein Risiko für Druiden, wenn sie von der Herrlichkeit der natürlichen Welt derart stark eingefangen wurden, dass ihre eigene Existenz dagegen verblasste.
Doch dann holte ihn das Gesicht, das stets Malfurions Herz und Seele mehr rührte als sein Verlangen, zurück in die harte Realität.
„Tyrande...“, flüsterte er.
Teldrassil schien ihm zuzustimmen, denn seine frischen, saftigen Blätter raschelten, obwohl kein Wind wehte. Malfurion hätte schwören können, dass dieses Geräusch dem Namen der Hohepriesterin glich.
Malfurion wusste nicht, wie er Tyrande retten konnte. Er kannte nur einen möglichen Weg.
Die Lebensbinderin war als Einzige bei ihm geblieben. Malfurion hätte nie gewagt, den Aspekt zum Gehen aufzufordern. Doch Alexstrasza blieb geduldig und stumm. Sie hatte offensichtlich erkannt, dass der Nachtelf zurzeit derjenige war, dessen Handlungen am wichtigsten waren.
Er kniete sich hin und legte eine Hand auf den Boden vor dem Haus. Dann redete Malfurion mit Teldrassil und erbat Hilfe beim Aufspüren der Wahrheit.
Die Kraft strömte aus dem Erzdruiden und dem Baum. Das beschädigte Gebäude erbebte. Die einst tödlichen Ranken verbrannten zu Asche, und die von Fandral errichteten Zauber lösten sich auf. Das Gebäude veränderte sich, wurde zu etwas Vertrautem, aber dennoch Erstaunlichem.
„Unmöglich!“, keuchte Broll.
Malfurion stand auf und trat auf seine Entdeckung zu. Er hatte seine Gegenwart gespürt. Er hatte gewusst, dass es dort sein würde, trotz der Tatsache, dass es dort nicht hingehörte.
Fandral hatte sich heimlich sein eigenes Tor in den Smaragdgrünen Traum geschaffen.
Es war schlicht, seine runde Form wurde von gewundenen Zweigen und Mauerwerk gebildet. Mächtige Zauber hatten es vor den anderen verborgen.
„Es ist immer noch offen...“, sagte Alexstrasza.
Malfurion nickte, dann nahm er durch seine Gedanken Kontakt mit den anderen Druiden auf. Meine Freunde... kommt zur Enklave...
Die Druiden erschienen nur wenige Augenblicke später. Alle waren erstaunt, was Fandral vollbracht hatte. Doch Malfurion konnte ihnen nicht die Zeit geben, alles in Ruhe zu verdauen.
„Jetzt liegt es an uns“, sagte Malfurion. „Wir müssen uns zum letzten Gefecht gegen den Albtraum stellen. Darauf wurden wir vorbereitet. Eine Verderbtheit durchdringt Azeroth. Als Hüter der Wälder, der Ebenen und aller anderen Länder, die ihre Gärten sind... müssen wir dieser Heimsuchung ein Ende setzen...“
Die versammelten Druiden knieten vor ihm nieder, und auch als er sie bat wieder aufzustehen, blieben sie respektvoll unten.
„Was sollen wir tun?“, fragte Broll, der der Sprecher der anderen zu sein schien.
„Was ich niemals von Euch verlangen sollte. Ich brauche Euch und alle anderen, die wir noch hierher rufen können, ganz egal, ob sie Druiden sind oder nicht. Wir durchschreiten dieses möglicherweise letzte Portal auf Azeroth und begeben uns ins Reich des Albtraums