15 Die Verteidigung des Traums

Den mächtigen Mauern von Orgrimmar mangelte es an der „Kultiviertheit“ von Sturmwind, ihre schroffe Majestät war dennoch unübersehbar. Groß, mit schweren Wachtürmen, die das umgebende Land überblickten, waren sie eine Warnung an jedermann, der töricht genug war, angreifen zu wollen. Sie prophezeiten einen hohen Blutzoll.

Ernst blickende Posten patrouillierten auf den inneren Wehrgängen, unter ihnen eine Anzahl von Dunkelspeertrollen und selbst untote Verlassene.

Den Menschen wäre Orgrimmar wie ein barbarischer Ort erschienen mit seiner Bevölkerung, die auf kleine Täler verteilt war, statt in Vierteln zu leben, und seinen dorfähnlichen Bauten, die besser zur nomadischen Vergangenheit der Orcs passten. Dennoch war Orgrimmar ein genauso wichtiges Zentrum für die Gemeinschaft der Orcs wie es die Hauptstadt von Sturmwind für ihre Bewohner war. Tausende lebten hier, handelten, lernten, bereiteten sich auf den Krieg vor...

Am Fuß des Berges, nahe dem Tal von Durotar gelegen, war Orgrimmar das Symbol des Kampfes ihres großen Befreiers Thrall, der seinen Anhängern ein richtiges Zuhause geschenkt hatte. Während Thrall das Tal nach seinem ermordeten Vater benannt hatte, ging der Name der Stadt selbst auf jenen Kriegshäuptling zurück, der dem entflohenen Sklaven und Gladiator Schutz geboten und der Thrall später zu seinem Nachfolger ernannt hatte.

Thrall regierte von der Feste Grommash aus, die sich im Tal der Weisheit erhob, einem zentralen Bereich der Hauptstadt. Grommash war mit jedem Zoll wilde Schönheit.

Die Feste bestand aus großen runden Gebäuden, die von scharfen Spitzen gekrönt wurden. Es gab runde Eingänge und zahlreiche Dekorationsstücke an den grauen Steinwänden, die wichtige Siege des Kriegshäuptlings und der Horde zeigten. Darunter befanden sich furchterregende mumifizierte Köpfe von Kreaturen, die von der Brennenden Legion eingesetzt worden waren, Waffen und Rüstungen, die von den Dämonen selbst stammten, und sogar Rüstungen und Banner eines anderen Feindes – der Allianz. Dass die inzwischen zu den Verbündeten gehörte, machte für die Orcs keinen Unterschied – es waren Siege gewesen, und so wurden sie auch geehrt und zur Schau gestellt.

Doch an glorreiche Siege dachten die Orcwachen und der Schamane zurzeit nicht, die sich im Heim des Kriegshäuptlings versammelt hatten. Die Krieger beobachteten ängstlich, wie der Schamane Kreise über der liegenden Gestalt in die Luft malte. Sie ruhte in dem grob gearbeiteten Eichenbett, die Felle wilder Tiere dienten als Decken. Jedes Mal, wenn der Schamane seine Hand wegzog, beugten sich die Krieger erwartungsvoll vor... aber nur, um sich kurz darauf wieder enttäuscht zurückzulehnen.

Die Gestalt im Bett schlug plötzlich um sich und murmelte etwas. Ihre Hände wischten durch die leere Luft. Dann bewegte sie den Arm, als führe sie eine Axt.

Diese Bewegung ermutigte die Zuschauer nicht gerade. Sie hatten sie schon viele Male gesehen. Thrall war dem Erwachen nicht näher als beim letzten Versuch des Schamanen.

„Er hat immer noch diese schrecklichen Träume“, meinte der grauhaarige Schamane. „Sie plagen ihn immer wieder, und nichts, was ich tue, kann sie durchdringen...“ Der alte Orc, dessen Haare silberweiß waren, blickte durch tief liegende Augen auf den Dolch, der auf einem runden hölzernen Tisch in der Nähe lag. Er hatte ihn zuvor benutzt, um den schlafenden Häuptling zu piksen, in der Hoffnung, dass ein plötzlicher scharfer Schmerz den Albtraum zu durchbrechen vermochte.

Das war ebenfalls schiefgegangen.

„Legen wir ihn zu den anderen?“, fragte eine der Wachen zögernd. Der andere Wachtposten schlug ihm augenblicklich kräftig vor den Kopf. Wache Nummer eins blickte die zweite an, und wenn nicht der runzelige Schamane sich zwischen sie geworfen hätte, wäre ein Kampf ausgebrochen.

„Schämt euch, alle beide! Der große Thrall liegt hier verzaubert, und ihr bekämpft euch! Würde er das wollen?“

Die beiden gemaßregelten Krieger schüttelten die Köpfe. Obwohl sie doppelt so schwer waren wie der in Bärenfell gekleidete Schamane, fürchteten sie seine Macht. Er war der talentierteste Schamane in Orgrimmar. Eigentlich gebührte dieser Titel Thrall selbst. Aber der alte Schamane war zumindest immer noch wach. Deshalb war er derzeit die beste Wahl.

Doch diese Hoffnung schwand allmählich.

Von der anderen Seite der Kammer her ertönte ein klagendes Geheul. Wie ein Mann wandten sich die Orcs um und blickten die große weiße Wölfin an, die am Fenster bellte. Das Tier war so groß, dass jeder der Krieger darauf hätte reiten können, als wäre es ein Pferd. Tatsächlich benutzte der Kriegshäuptling seinen loyalsten Untertanen genau zu diesem Zweck. Die beiden waren legendäre Partner im Kampf. Die Wölfin hatte freien Zugang zum Gebäude, und keine Wache beklagte sich je darüber.

Das schwere Tier stieß ein weiteres Heulen aus. Das Geräusch erschütterte die Krieger und den Schamanen mehr als alles andere seit der Entdeckung von Thralls Zustand.

„Still, Schneesturm“, murmelte der Schamane. „Dein Jagdbruder wird bald befreit werden...“

Doch die Wölfin versuchte, aus dem Fenster zu klettern. Obwohl die Fensteröffnungen nicht gerade klein waren, reichten sie für den riesigen Jäger nicht aus. Mit einem frustrierten Knurren wandte sich Schneesturm um und sprang auf die geschlossene Tür zu.

Die Augen des Schamanen weiteten sich. „Öffnet sie! Schnell!“

Eine der Wachen gehorchte eiligst. Kaum hatte er die Tür aufgerissen, da donnerte Schneesturm in ihn hinein. Wie ein loses Blatt, das von einem wilden Sturm getroffen wurde, flog der kräftige Orc zurück und krachte schließlich gegen die Wand. Die Wölfin rannte unbeeindruckt weiter.

„Folgt ihr!“, befahl der ältliche Schamane. „Sie wittert etwas...“

Verfolgt von den Orcs raste die Wölfin durch die Burg. Sie blieb an zwei Fenstern stehen, die jedoch auch nicht groß genug waren. Schließlich jagte sie auf die großen Tore am Vordereingang zu.

Die Wachen dort versteiften sich bei dem erstaunlichen Anblick, der auf sie zurannte. Bevor der Schamane ihnen etwas zurufen konnte, war einer schlau genug, eine der Türen aufzudrücken. Wenn die Wölfin mit einem derartigen Tempo auf die Außentore zustürmte, dann, so hatte die Wache angenommen, drohte Gefahr.

Schneesturm lief hinaus. Der Wölfin blieb kurz stehen, bestimmte die Richtung neu und rannte dann auf die Stadtmauern von Orgrimmar zu.

Obwohl er weit älter als seine Begleiter war, überraschte der Schamane sie, indem er schneller war. Mit geschmeidigen Bewegungen, die denen der Wölfin ähnelten, hielt er fast mit Schneesturm Schritt. Es gab andere Methoden, mit deren Hilfe er sich noch schneller hätte bewegen können. Doch eine angeborene Vorsicht hielt ihn zurück.

Trolle und Orcs, die allesamt ihren Geschäften nachgingen, sprangen Schneesturm aus dem Weg. Die meisten zogen gleich ihre Waffen. Orgrimmar stand unter Hochalarm, und die Eile der Wölfin schien vielen wie ein Zeichen, dass die Zeit zum Kämpfen gekommen war.

Der Schamane blickte sich um. Trotz ihrer großen Zahl waren weit weniger Verteidiger in Orgrimmar anwesend, als es hätten sein sollen. Und als sie sich der Mauer näherten, erkannte er, dass der Nebel weiter in die Hauptstadt vorgedrungen war. Es war fast unmöglich, die Wachen oben auf der Mauerkrone zu erkennen.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich der alte Orc, dass nicht ausgerechnet die erfahrensten Kämpfer und Schamanen zu den Ersten gehört hatten, die wie Thrall nicht mehr aufwachten.

Schneesturm rannte nicht den ganzen Weg die Stufen zum Wachturm nach oben hinauf. Stattdessen fand die weiße Wölfin Halt auf einer Leiter zu einer der niedrigeren Ebenen. Dort suchte sich das schlaue Tier selbstständig den Weg, bis es schließlich die Spitze der Mauer erreicht hatte.

Das frostige Fell der Wölfin fiel selbst in dem dichten smaragdgrünen Nebel auf. Der Schamane kletterte hinter dem Tier her. Dabei bemerkte er, dass eine der Wachen sich nicht mehr rührte.

„Was quält dich?“, wollte der Orc wissen. Als der Wachtposten nicht antwortete, berührte der Schamane ihn am Arm.

Erst dann fiel der Kopf des Orcs zur Seite.

Der Schamane dachte zuerst, dass der Krieger tot war. Doch als er eine Hand auf seine Brust legte, stellte er fest, dass sein Herz noch schlug. Er blickte ihm ins Gesicht und erkannte, dass die Augen geschlossen waren.

Obwohl er stand, schlief der Wächter.

Der Schamane blickte zum nächsten... und sah dasselbe.

Einige der Wachen, die ihm gefolgt waren, erreichten die Mauerkrone. Sie starrten mit Erstaunen auf ihre Kameraden.

„Schick eine Nachricht!“, befahl der ältere Orc. „Such ein paar Krieger, die die Mauer beschützen...“

Schneesturm heulte wieder klagend. Die Wölfin stand auf den Hinterbeinen, ihre Vorderpfoten waren auf die Mauerkrone gestützt, sodass sie über Orgrimmar hinaussehen konnte.

Die Orcs blickten in dieselbe Richtung, in die Schneesturm schaute.

Im Nebel bewegten sich Gestalten. Es waren Hunderte oder mehr.

Eine der Wachen nahm ein Horn, das an einem hölzernen Aufhänger an der Innenseite der Mauer hing. Doch bevor der Orc es an den Mund heben konnte, erstarrte er, genauso wie der Schamane und die anderen.

Die Gestalten waren an den Rand des Nebels getreten.

Es waren Orcs.

„Grago“, grunzte ein Krieger überrascht. „Mein Bruder schläft... doch ich sehe ihn dort draußen...“

„Hidra... meine Gefährtin marschiert mit ihnen!“, keuchte ein anderer.

„Das ist ein Trick!“, meinte ein weiterer. „Magier-Tricks! Die Allianz...“

„Es ist nicht die Allianz“, stellte der Schamane schlicht fest. Er beugte sich vor. „Es sind die Schlafenden... alle von ihnen...“

Als er das sagte, schien sich seine Angst zu erfüllen. Thrall stand plötzlich dort, doch es war ein Thrall, der eine groteske Parodie des Kriegshäuptlings war. Seine Haut hing an ihm herab, als würde sie verwesen, und die Knochen schauten hervor. Seine Augen leuchteten rot... dasselbe Rot, wie die befleckten Dämonen es trugen.

Jeder der schattenhaften Orcs hatte solche Augen.

„Ein Trick!“, raunte der Krieger ängstlich. „Sie halten uns zum Narren! Illusionen! Ich sage immer noch, dass die Allianz dahintersteckt!“

Der Schamane sagte nichts, studierte die Gestalt Thralls so genau, wie er es wagte. Er versuchte, nicht den düsteren Blick zu treffen... doch schließlich konnte er nicht anders.

Eine große dunkle Leere mit einem unangenehmen grünen Farbton schien sich vor ihm zu öffnen. Nur mit Mühe schaffte es der Schamane, seine Augen davon zu lösen.

Doch in diesem kurzen Moment hatten sich seine schlimmsten Ängste bewahrheitet.

Es war Thrall... oder zumindest einige Essenz von ihm.

Dem alten Orc war in dem kurzen schrecklichen Moment des Kontakts etwas klar geworden. Diese albtraumhaften Versionen der Schläfer warteten auf ein Signal. Wenn das Signal kam, würde die böse Macht, die diese Schatten repräsentierten, über Orgrimmar herfallen. Nicht in einem wahren physischen Kampf natürlich. Die großen Legionen der Kreaturen, die wie die Blutsverwandten der Verteidiger aussahen, dienten nur dazu, sie zu ängstigen. Wenn die Dunkelheit zuschlug... würde es jeden Krieger dort erwischen, wo er sich am wenigsten verteidigen konnte.

In der Seele.

Dass der Angriff noch nicht geschehen war, gab dem Schamanen nicht viel Hoffnung. Das Signal – was immer es auch sein würde – stand kurz bevor. Sehr kurz bevor.

„Wir müssen die anderen alarmieren...“, sagte der Schamane, als er von der Wand zurücktrat. „Wir müssen uns alle bereit machen, jung und alt...“

Doch was er nicht sagte, als er sich zum Gehen umwandte, war, dass es gegen solch einen Feind, der wahrscheinlich nicht von einer Axt gefällt werden konnte, nur sehr wenig gab, was die Verteidiger von Orgrimmar anderes tun konnten, als zu sterben.


Broll dachte, dass er Arei verloren hatte. Doch dann kehrte das Urtum zu ihm zurück.

„Bleib in der Nähe. Wir sind sehr nah dran. Er weiß, dass wir kommen.“

„Er?“

Bevor das Urtum etwas antworten konnte, umgab sie plötzlich eine noch dichtere smaragdgrün gefärbte Finsternis.

Stimmen drangen in Brolls Hirn. Ein Schauder erfasste sein Herz. Es war, als würde ihm die Haut bei lebendigem Leib vom Körper gerissen. Und unter den Stimmen erklangen die Schreie seiner Tochter. Der Druide wurde in einen Abgrund gezerrt, Hände rissen verzweifelt an ihm und zogen ihn immer tiefer hinein... tiefer und tiefer...

Hinfort mit euch!, befahl eine neue, sehr lebhafte Stimme, die dem Nachtelfen Halt gab. Das Stimmengewirr verschwand. Die Hände verschwanden. Der Schauder in seinem Herzen verging...

Die Dunkelheit legte sich wieder über den immer noch bedrohlichen Nebel. Broll bemerkte, dass er keuchend auf den Knien lag. Eine Hand hatte er an die Brust gepresst.

Ein sanftes Licht umgab den Druiden. Broll hob den Blick.

„Remulos?“, stieß er hervor.

Doch obwohl die leuchtende Gestalt dem Wächter der Mondlichtung ähnlich sah, erkannte Broll schnell, dass er es nicht war. Anders als er oder das Urtum war dieses Wesen nicht von fester Gestalt.

Der Nachtelf schluckte schwer, als er schließlich erkannte, wer dort vor ihm stand – nein, schwebte.

Der Grund für die Ähnlichkeit zu Remulos war offensichtlich, es war der Bruder des Halbgottes... Zaetar.

Doch Zaetar war tot.

Broll sprang auf. Zaetar hatte sich in Theradras verliebt, einen weiblichen Erdelementar. Mit ihr, so die Legende, hatte er den ersten Zentauren gezeugt. Doch Zaetars gewalttätige Kinder hatten ihm ihre Existenz wenig gedankt und den Hüter des Waldlandes getötet. Die Legende besagte, dass Theradras, von Gram zerfressen, ihn nicht gehen lassen konnte und deshalb seine Überreste versteckt hatte.

Bleib ganz ruhig!, sagte der Riese, der ebenfalls ein Geweih trug. Sein Mund bewegte sich nicht, doch Broll verstand die Worte klar und deutlich. Deine Sorge ist verständlich, doch die Wahrheit hat sich geändert...

Zaetar war von grünerer Farbe als sein noch lebender jüngerer Bruder, was selbst in dieser Umgebung und trotz der Tatsache, dass er nicht aus Fleisch bestand, offensichtlich war. Ansonsten waren die beiden titanischen Gestalten ganz eindeutig die Söhne des Cenarius. Zaetars Gesicht war ein wenig länger, und darin lag eine stete Traurigkeit – wenig verwunderlich angesichts seiner derzeitigen Lage.

Der Druide blickte Arei an, der ihm zunickte. Das Urtum des Krieges schien hagerer zu sein al s kurz vor dem Angriff auf Broll, weshalb der Nachtelf sich fragte, ob Arei ebenfalls gelitten hatte.

Ihr wurdet beide vom Albtraum berührt, obwohl Arei besser darauf vorbereitet war, sagte Zaetar. Offensichtlich hatte er Brolls Gedanken gelesen. Broll wurde noch vorsichtiger...

Wir sind Verbündete, Broll Bärenfell, erklärte der Geist und zeigte dem Nachtelf die offenen Handflächen. Als er „sprach“, schien Zaetars Gestalt zu wabern, als wäre sie ein Teil des Nebels.

„Er hat uns durch diese Prüfung geführt“, fügte Arei hinzu, „und er ist einer der Gründe, warum wir noch leben...“

Obwohl es fraglich ist, ob wir noch länger als die paar Wochen durchhalten können, die wir haben...

„Ein paar Wochen?“, platzte Broll heraus. „Ihr kämpft hier schon seit ein paar Wochen?“

Der Gesichtsausdruck des Geistes verfinsterte sich. Er blickte weg.

„Als wir hier eintrafen, hatten Zaetar und seine Kampfgefährten geglaubt, sie wären schon länger als ein Jahr hier. Dabei waren doch nur ein paar Wochen verstrichen“, antwortete das Urtum des Krieges. Es runzelte die raue Stirn. „Was für ein Tag war, als du hier eingetreten bist, Broll Bärenfell?“

Der Nachtelf sagte es ihm.

Areis Schock war offensichtlich. „Nur elf Tage? Ich war mir sicher, dass wir schon eine ganze Jahreszeit lang hier sind...“

Der Albtraum verdreht die Zeit auch an diesem Ort, sagte Zaetar wütend. Alles hier ist bedeutungslos, mit Ausnahme des Kampfes...

„Ihr habt von anderen berichtet, die ebenfalls gegen den Albtraum kämpften“, sagte Broll und überlegte, ob nicht zumindest einer von ihnen Tyrande gefunden haben konnte. „Ich hoffe, dass sie mir bei der Suche nach meiner Begleiterin helfen können! Wo sind sie?“

Jetzt machte der Geist ein grimmiges Gesicht. Er wies in den dunklen Nebel hinein. Druide, sie sind um uns herum...

Als Zaetar das sagte, schien seine Hand den verderbten Nebel um sie herum zurückzudrängen. Die Luft klärte sich zwar nicht gerade, doch Broll konnte nun ein wenig in die Ferne blicken.

Und was er sah, schockierte ihn.

Die anderen standen allein oder in kleinen Gruppen. Sie waren so weit verteilt, wie er durch den Nebel blicken konnte, und er hatte keinen Zweifel daran, dass weiter draußen noch weitere waren. Es waren Druiden, Urtume des Krieges, Dryaden und einige andere Wesen mit Bindungen an Azeroth und den Smaragdgrünen Traum. Einige waren von fester Gestalt, andere existierten in ihrer Traumgestalt. Ein paar waren wie Zaetar.

Broll erkannte einige der Traumgestalten, und der Schrecken überwältigte ihn beinahe. Es waren Druiden, die auf Azeroth schon lange als verschollen galten. Ihre Körper brauchten dringend Nahrung und Wasser. Einige waren schon seit Monaten tot, doch ihre Traumgestalt schien nicht zu erkennen, dass es für sie keine Rückkehr mehr gab.

Vielleicht war es ihnen doch bewusst, denn viele von ihnen kämpften in den vordersten Reihen und wagten viel, um den Albtraum aufzuhalten.

Der Albtraum selbst kam in Gestalt derselben grässlichen Finsternis, die Broll erst kürzlich überwältigt hatte. Sie ähnelte am ehesten einer heimtückischen Wolke oder vielleicht einem riesigen Schwarm von schwarzen Ameisen. Der Albtraum bewegte sich vor und zurück, waberte, und wo immer ein Gegner wankte, drängte er mit offensichtlichem Eifer vorwärts. Lange Ranken schossen weit an Zaetars Kameraden vorbei wie als Beweis, dass all ihre Anstrengungen nicht ausreichten, den Albtraum zu besiegen.

Die Verteidiger bekämpften ihn mit einer großen Zahl von unterschiedlichen Zaubern, der einzigen echten Verteidigungsmöglichkeit gegen einen derartigen Gegner. Weil die meisten der magiebegabten Wesen Druiden waren, kämpften sie, wie es bei ihnen üblich war. Riesige Bären standen Seite an Seite neben geschmeidigen Raubkatzen. Jeder Biss, jeder Schlag mit den Klauen wurde von mächtigen Blitzen begleitet. So konnten sie zwar die Finsternis unter Kontrolle halten. Doch Broll wurde das Gefühl nicht los, dass sie den Albtraum nicht wirklich verletzten.

Über ihnen näherte sich eine Sturmkrähe dem Albtraum. Es zeugte von einiger Verzweiflung, dass die Druiden selbst in Traumgestalt in ihre Tierkörper wechseln mussten, um für den Kampf gewappnet zu sein. Der Smaragdgrüne Traum war stets ein Ort gewesen, an dem die Druiden keine Fesseln gekannt hatten. Doch das hatte sich nun geändert.

Andere Druiden behielten ihre eigentliche Gestalt bei. Sie versuchten, den Traum gegen den Albtraum einzusetzen. Unter der Leitung einiger von Brolls Brüdern schoss plötzlich saftig grünes Gras in die Höhe, dessen Halme größer als die Bäume waren. Und als würde ein mächtiger Windhauch wehen, zerschnitten sie die herannahenden Schatten förmlich, die augenblicklich zerfielen.

Dann ertönte der Schrei eines Vogels. Die Sturmkrähe in Traumgestalt hatte sich so sehr auf den Kampf konzentriert, dass ihr einige Ranken, die sie selbst vom Albtraum abgetrennt hatte, entgangen waren. Jetzt hatten ein paar dieser losen Enden ihre Flügel gefesselt.

Als die Krähe auf die düstere Masse des Albtraums zustürzte, regte sich Zaetars Geist, um ihr zu helfen. Mit der Kraft seiner Gedanken näherte er sich dem angeschlagenen Druiden.

Doch noch bevor Zaetar etwas ausrichten konnte, schoss etwas Düsteres, das dem Kopf eines gewaltigen Drachen glich, aus dem Albtraum heraus und verschlang die Sturmkrähe in einem Stück. Mit Schrecken sahen die Verteidiger, wie der Vogel durch die „Kehle“ des dunstigen Feinds hindurchglitt. Verzweifelt versuchte der Druide, wieder seine normale Gestalt anzunehmen. Doch weil er noch in seiner Traumgestalt war, konnte er das monströse Gefängnis nicht durchbrechen.

Der Kopf verschwand wieder im Albtraum.

Die Druiden und ihre Verbündeten setzten die normalen Angriffe fort. Doch Broll konnte spüren, wie die Moral seiner Gefährten sank. Dies war wohl nicht der erste Verlust dieser Art und würde sicherlich auch nicht der letzte gewesen sein.

Einst waren wir mehr als doppelt so viele, sagte der Geist traurig zu ihm. Zaetar ballte die Hände zu Fäusten. Doch auf die eine oder andere Art wurden sie uns genommen... und jetzt sind sie alle korrumpiert und dienen ihm...

„Lethon...“, murmelte der Nachtelf. Der Schatten hatte ihn an den verderbten grünen Drachen erinnert.

Es gibt selbst Schlimmeres als Drachen. Doch Lethon und Smariss haben dem Albtraum stets gut gedient.

Broll hatte genug gesehen... oder zu viel. „Ich muss Tyrande finden. Sie wollte Malfurion suchen! Hier läuft ein Orc herum, und der hat eine Waffe dabei, die Malfurion töten könnte...“

Ich habe den anderen bereits Bescheid gegeben, dass sie nach ihr Ausschau halten sollen, antwortete der flackernde Zaetar. Offensichtlich konnte er Brolls Gedanken lesen. Keiner von ihnen hat etwas gesehen.

„Sie wollte etwas untersuchen, das sie für eine Burg hielt.“

So etwas gibt es hier nicht.

„Ich habe sie selbst gesehen! Ich folgte ihr...“ Broll blickte zu Arei, doch das Urtum schüttelte das gewaltige Haupt. „Wir haben sie gesehen...“

Der Nebel legte sich erneut um sie. Einer nach dem anderen verschwanden die fernen Verteidiger aus der Sicht des besorgten Nachtelfen. Irgendwo dort draußen waren sein Shan’do und die Hohepriesterin.

Und ein mörderischer Orc.

Zaetar wirkte verstört. Ich weiß, was du vorhast... es ist närrisch! Du spielst nur dem Albtraum in die Hände.

„Wenn das geschehen soll, geschieht es sowieso auf die eine oder andere Weise“, erwiderte Broll zischend. Er dachte angestrengt nach. „Wo wirkt der Albtraum am schlimmsten?“

Resigniert wies der Geist weit nach links. Der Nebel wurde gerade so licht, dass Broll Hügel in der smaragdgrünen Finsternis erkennen konnte. Das ist nur ein Hauch dessen, was sich drinnen befindet. Bleib hier und kämpfe mit uns, Broll Bärenfell...

Als Antwort nahm der Druide seine Raubkatzengestalt an und rannte auf das Ziel zu. Arei wollte ihm folgen, doch Zaetar schüttelte den Kopf. Lass ihn seine Suche beenden. Vielleicht hat er ja Erfolg und befreit Malfurion Sturmgrimm.

„Ist das möglich?“, fragte das Urtum.

Der Geist wandte sich wieder dem Kampf zu. Obwohl er weit von der Front entfernt war, griff er mit seinen Kräften doch das stetig wachsende Böse an. Nein... aber genauso, wie wir bereits zum Versagen verdammt sind und dennoch kämpfen... so werden auch Broll Bärenfell und Malfurion Sturmgrimms Freundin weiter nach ihm suchen. Selbst wenn der Albtraum sie am Ende alle verzehren wird...


Sie war fast am Ziel. Thura konnte ihre Beute regelrecht wittern – zumindest glaubte sie das. Der Druide versteckte sich irgendwo in dieser schattenhaften Burg.

Die Orcfrau kannte das neblige Land nicht. Doch das Unbehagen, das sie beim Durchqueren dieser Gegend verspürte, war nichts, verglichen mit dem Drang, dem feigen Mörder endlich nahe zu kommen. Schon bald, sehr bald, würde sie ihre Familie rächen.

Etwas bewegte sich im Nebel. Thura wusste schon seit einiger Zeit, dass sich auch noch andere in ihrer Nähe befanden. Es waren keine Tiere, und sie ähnelten auch keinem Feind, den sie kannte. Wahrscheinlich dienten diese Wesen Malfurion Sturmgrimm. Natürlich ließ er sich von anderen beschützen.

Sie umfasste die Axt. Seit sie den Smaragdgrünen Traum betreten hatte, hatte die Axt einen goldenen Schimmer angenommen. Thura wertete das als ein weiteres Zeichen für die mystischen Eigenschaften der Waffe.

Etwas bewegte sich vom linken Rand ihres Gesichtsfeldes auf sie zu.

Die Orcfrau schlug zu. Die Axt traf auf keinen Widerstand, aber Thura hörte ein Zischen, gefolgt von einem Heulen. Sie erblickte ein Wesen, das sich auf zwei Hufen bewegte und augenblicklich verging, als bestünde es in Wahrheit nur aus Schatten.

Doch als die Axt durch die Gestalt hindurch schnitt, erschien eine weitere von der anderen Seite. Die Orcfrau wirbelte herum. Die Axt fühlte sich gut an in ihrer Hand, als sie auf eine weitere der schattenhaften Gestalten traf.

Wieder ertönte das Zischen, gefolgt von Geheul.

Der gefallene Gegner hinterließ ebenso wenig wie seine Vorgänger irgendwelche Spuren. Die anderen Schatten im Nebel hatten sich in größere Entfernung zurückgezogen, ein Zeichen dafür, dass sie Thura und die Axt wahrlich fürchteten.

Thura lachte höhnisch in die Finsternis hinein und wandte sich wieder ihrem ursprünglichen Weg zu.

Die Burg war nicht mehr da.

Thura fluchte, schaute noch einmal hin. Die Burg war tatsächlich nicht mehr da, doch etwas anderes war an ihre Stelle getreten.

Ein Baum.

Orcs waren an ein Leben in unwirtlichen Gebieten gewöhnt. Deshalb störte sie der verwachsene, fast schon aberwitzig verdrehte Baum nur wenig – zumal er irgendwie an einen düsteren Ort wie diesen passte.

Doch die Burg war ihr Ziel gewesen, kein wie auch immer geformter Baum. Frustriert wollte sich die Orcfrau abwenden. Die Feste musste woanders liegen.

Kurz bevor sie den Baum aus den Augen verlor, bemerkte die Orcfrau eine Veränderung. Thura konzentrierte sich augenblicklich darauf.

Der Baum hatte sich in die düstere Silhouette einer großen vermummten Gestalt verwandelt.

Fast so schnell wie Thura die Gestalt wahrgenommen hatte, legte sich der Nebel darüber. Was von der Silhouette blieb, erinnerte erneut an einen Baum, der aussah, als hätte man ihm Gewalt angetan – als wäre er von unbekannten Kräften wider die Natur zu dem geformt worden, was er nun darstellte.

Doch der zielstrebigen Orcfrau reichte der flüchtige Anblick einer Gestalt, um sie darauf zustürmen zu lassen. Sie erkannte den Umriss sofort, den sie schon so oft in ihren Träumen gesehen hatte. Eine große Gestalt, wie ein Nachtelf gebaut und auf dem Kopf ein Geweih tragend.

Sie hielt Brox’ Axt fest umklammert und verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln.

Endlich hatte sie Malfurion Sturmgrimm gefunden.

Загрузка...