Broll Bärenfell hatte mit dem Tod gerechnet. Doch irgendwie war es ihm gelungen, den Angriff auf seinen Körper und die noch heimtückischere Attacke auf seinen Geist abzuwehren. Der Albtraum suchte ihn, denn er war einer von Malfurions wichtigsten Verbündeten. Er hörte Schreie, und in seinen Gedanken entstand erneut das Bild seiner sterbenden Tochter und seiner Schuld an ihrem Tod. Es war ein wohlgezielter Angriff des Albtraums, denn Anessa war schon immer Brolls wunder Punkt gewesen.
Doch das war vorbei. Broll kannte die Schrecken des Albtraums und verfluchte sich dafür, dass er durch ihren Tod fast dem Albtraum zum Opfer gefallen wäre.
Anessa hätte nicht gewollt, dass ihr Vater aus Kummer um sie starb. Er ehrte ihr Andenken besser, wenn er den Kampf aufnahm.
Das war Broll jedoch erst richtig bewusst geworden, als er miterleben musste, wie so viele andere um ihre verlorenen Angehörigen trauerten – und wie sie litten. Der Albtraum war ein Meister darin, die Gedanken seiner Opfer zu verwirren und Liebe in Folter zu verwandeln.
Der Druide warf eine Handvoll Pulver auf seine Feinde. Er hatte es aus Pflanzen gemischt, die für ihre feurigen Eigenschaften bekannt waren. Als es seine finsteren Gegner traf, zischte es. Die Schatten verbrannten und heulten gequält auf. Broll blickte zu Thura und erwartete das Schlimmste. Doch die Orcfrau hockte neben ihm, ihre Augen waren geschlossen, ansonsten ging es ihr gut.
„Ich habe einen Schwur geleistet...“, sagte sie. „Und ich werde ihn erfüllen...“
Broll vertrieb den Nebel, und zum ersten Mal sah er, dass hier nicht nur die Axt lag, sondern auch noch ein anderes, merkwürdigeres Ding. Einst war es lebendig gewesen, und derjenige, der es an diesen Ort gebracht hatte, hatte es mit Sorgfalt eingepflanzt. Trotzdem hatte er nicht damit gerechnet, es erblühen zu sehen.
Es war ein Ast. Ein verderbtes Ding, das Broll augenblicklich erkannte. Er begriff auch, warum es hier platziert worden war. Ihr Plan hatte immer noch eine Chance.
Und während er darüber nachdachte, erreichte ihn der Sturm. Aber Broll spürte keine Furcht, nicht einmal Besorgnis. Er wusste, woher der Wind kam und dass er zu ihrer aller Schutz diente.
Der Druide packte den Ast. Verglichen mit dem Baum, dem er ursprünglich entstammte – um dann in Teldrassil eingepflanzt zu werden -, war er ein Nichts. Tot.
Doch es steckte immer noch die Essenz des Albtraumlords darin. „Thura! Ihr müsst Euch die Axt im selben Moment greifen, wenn ich zuschlage!“
Die Kriegerin verstand ihn sofort. Dann wirkte Broll einen schrecklichen Zauber. Wer stark genug war, konnte aus scheinbar toten Pflanzen, selbst Bäumen, noch etwas Leben herausholen. Für eine echte Pflanze hätte Broll zweifellos alles getan, obwohl er seine Grenzen kannte. Nun jedoch versuchte er, etwas Monströses wiederzubeleben. Sein Shan’do hatte ihm die ganze Wahrheit über den Ast und den Baum mitgeteilt. Alles über seine Herkunft. Broll konnte selbst noch in diesem kleinen Stück die Falschheit spüren, die dämonische Essenz. Der Ast war nichts Natürliches mehr, er war ein an der Natur begangener Gewaltakt.
Doch als er seinen Zauber begann, spürte Broll das andere, ältere Übel, vor dem Malfurion ihn auch gewarnt hatte. Dieses Böse hatte seinen eigenen teuflischen Einfluss in die Erschaffung des Albtraumlords einfließen lassen.
Der Funke, so glaubte Broll, war da. Er machte weiter, auch wenn die Falschheit sich noch verstärkte.
Der Ast bebte, kämpfte gegen seine Umklammerung an.
„Jetzt!“, rief der Druide und hob den Ast hoch.
Thura griff nach der Axt, die immer noch von einem Leuchten erfüllt war, das sowohl ihrer eigenen guten Kraft als auch den finsteren Mächten des Albtraums entsprang.
Die Hand der Orcfrau und der Ast begannen zu leuchten, sobald sie sich berührten. Mehr brauchten die Verteidiger nicht. Der Albtraum hatte keine Kontrolle mehr über die Waffe. Cenarius hatte diese reine Axt erschaffen, und Brox hatte sie durch seine Taten noch verstärkt.
Und die von Malfurion erwählte Thura war eine würdige Nachfolgerin. Sie nahm die Waffe auf. Broll warf den Ast weg, der ohne den Zauber nicht überleben konnte. Der Druide verwandelte sich in eine Raubkatze.
Thura sprang auf seinen Rücken. Er trug sie mit sich. Der Schatten des Baumes streckte sich, um sie einzuholen. Doch der Sturm setzte ihm schwer zu, zerrte an den Ästen und blies den Nebel fort. Blitze verbrannten die Schattenkreaturen und setzten sogar einige der Äste in Brand.
Broll wunderte sich über den Sturm. Er hatte schon miterlebt, wie bei langen Druidenversammlungen Stürme erschaffen worden waren, wenn Regen benötigt wurde. Doch keiner war so gewaltig wie dieser gewesen.
Dafür müssen Malfurion und alle Druiden zusammengearbeitet haben!
Wie auch immer sein Shan’do den Sturm erschaffen hatte, er ermöglichte Broll und Thura, den Schattenbaum zu erreichen. Die feindliche Silhouette erhob sich über ihnen...
Eine große Hand drosch auf sie beide ein. Knorre zerrte an der reglosen Thura, die immer noch die Axt umklammert hielt.
„Der Albtraum wird alles übernehmen!“, brüllte das korrumpierte Urtum.
Broll überschlug sich und blieb liegen. Er verwandelte sich wieder in seine normale Gestalt. Mit vor Schmerzen gefletschten Zähnen sprach er einen Zauber.
Das Urtum war genauso sehr Pflanze wie Tier. Selbst korrumpiert war es mit einem riesigen, wenngleich nun bösartigen Bewuchs überzogen. Und dieser Bewuchs war für einen erfahrenen Druiden beeinflussbar.
Die verkrüppelten Auswüchse wurden dicker, Ranken wanden sich um Knorres Körper und wickelten die Gliedmaßen des Urtums binnen Sekunden ein. Auch die Hand, die Thura umklammerte, wurde davon zusammengezogen, sodass Knorre sie öffnen musste.
Die Orcfrau fiel zu Boden und landete auf den Füßen. Sie wankte, doch dann fing sie sich.
Knorre taumelte. Einige der Ranken, die seine Beine und einen Arm fesselten, zerrissen. Erneut griff er nach Thura...
Grunzend verstärkte Broll den Zauber. Die Ranken wurden stärker und dicker.
Kurz bevor die Klauen die Orcfrau erneut zu fassen bekamen, fesselten die Ranken das korrumpierte Urtum derart nachhaltig, dass es sich nicht mehr bewegen konnte. Broll ließ nicht nach in seinem Bemühen. Die Ranken wuchsen weiter und zogen sich immer enger zusammen.
Das Urtum stürzte zu Boden und konnte sich keinen Deut mehr bewegen. Der Nachtelf wunderte sich über sein eigenes Werk. Er wusste, dass seine Kräfte vor Kurzem noch nicht ausgereicht hätten, jemanden wie Knorre zu besiegen, ohne ihn töten zu müssen.
Thura hatte die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie war fast schon bei dem Schatten und griff sich die Axt.
Der Sturm ließ nach. Der Wind wurde schwächer.
Der Baum bewegte sich.
Ein Schattenast stieß die Orcfrau vor die Brust. Obwohl er keine feste Substanz hatte, wurde sie davon aufgespießt. Thura erstarrte, die Axt hatte sie immer noch erhoben.
Die anderen Äste stürzten sich auf Broll...
Sie sind zu schwach... wir sind zu stark... Du hast versagt, werter Malfurion...
Malfurion weigerte sich, auf solche Worte zu achten, obwohl sie nicht ganz falsch waren. Er wusste, dass er selbst mit Tyrandes Hilfe schnell an seine Grenzen gelangen würde.
Sieh, wie sie nun alle sterben..., sagte der Albtraumlord.
Vor den Augen des Erzdruiden erschienen wieder Visionen all derer, die sich auf ihn verließen. Thura war aufgespießt worden. König Varian führte eine stetig kleiner werdende Armee. Die anderen Druiden taten unter Hamuuls Führung ihr Bestes, um gegen den unaufhaltsamen Feind zu bestehen, der beide Reiche verwandelte...
Doch das war ihm schon zuvor gezeigt worden, er hatte es schon zuvor gespürt. Aber das vernichtende Gefühl, schon so weit gekommen zu sein, nur um wieder zu versagen, war einfach zu viel. Hätte er Hunderte Malfurions gehabt, oder Tausende, dann hätte er vielleicht siegen können... doch er war ganz allein.
Verzweifle... und sei gewiss... dass ich dir nur gezeigt habe, was wirklich geschieht... dieses Mal erkennst du selbst dein Versagen...
Xavius lachte laut.
Der Sturm erstarb fast völlig. Sein Gegner hatte recht. Xavius tat gar nichts, er zeigte Malfurion nur, was er selbst bereits wusste... dass der Erzdruide alle enttäuscht hatte.
Aber als die Finsternis beinahe sein Herz umschloss, berührte ihn ein beruhigendes Licht von innen. Er wusste sofort, woher es kam.
„Malfurion!“, wisperte Tyrande in sein Ohr. Ihre Stimme klang ausgezehrt, doch immer noch unbeugsam. „Bitte! Gebt... nicht auf! Er spielt mit Euren Gedanken...“
Der Erzdruide rührte sich und stellte fest, dass sie beide in den boshaften Ästen gefangen waren. Nur weil Tyrande sich offensichtlich an ihn geklammert hatte, als sie gepackt wurden, waren sie zusammen.
All das ist der Albtraum!, sagte Xavius, der Baum. Du... sie... wir alle... Wie lange habe ich darauf gewartet... so lange war ich gefangen, wartete und wurde unter seiner Führung immer stärker... Ich wuchs, bis die Zeit reif war, und dann erhob ich mich aus den Tiefen, um auf den östlichen Klippen, die mein verlorenes Zin-Azshari überragen, Wurzeln zu schlagen! Hier herrschte einst meine Königin, hier hatte ich Macht. Wie passend ist es, dass du hier sterben wirst und der Albtraum alles vereinnahmen wird... wie passend!
Alles... Das Wort schlug eine Saite in Malfurion an.
Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Er wusste, was er tun musste, um den Albtraum ein für allemal zu beenden. Sieg oder Niederlage hingen nicht von ihm alleine ab, auch nicht von ihm und Tyrande, obwohl sie die Feinde gemeinsam bekämpft hatten. Nein, sie alle mussten so koordiniert zusammenarbeiten wie niemals zuvor.
Gestärkt von dieser letzten Erkenntnis schlugen von Malfurion geführte Blitze in den vordersten Ast ein, der sie festhielt. Die beiden Nachtelfen wurden in die Luft geschleudert. Malfurion verwandelte sich in eine Sturmkrähe und packte Tyrande mit seinen Krallen. Er setzte sie außerhalb der Reichweite der Äste ab, dann nahm er wieder seine normale Gestalt an.
„Ich habe einen Fehler gemacht“, sagte er. „Ich kenne jetzt die Wahrheit.“
Sie nickte. Tyrande wusste, was er von ihr erwartete. Ohne abzuwarten begann die Hohepriesterin, zu Elune zu beten.
Malfurion versuchte, die anderen Druiden zu kontaktieren... jeden Druiden, egal in welchem Reich, außer Broll. Lasst mich euch zeigen, was wir – gemeinsam! – erreichen können...
Damit alles klappte, musste Malfurion die anderen Druiden bitten, auf eine eigene Verteidigung zu verzichten. Er war genauso überrascht wie dankbar, als ein jeder ohne Zögern einwilligte.
Er zeigte ihnen, was sie bereits wussten, aber nicht völlig verstanden. Sie waren Druiden. Sie waren Azeroths Hüter, Azeroths Wächter. Und dasselbe galt auch für den Smaragdgrünen Traum.
Und obwohl sie wussten, dass die Verbindung mit der Natur in beiden Reichen sehr mächtig war, hatten sie doch nicht erkannt, dass ihre Möglichkeiten deutlich weniger begrenzt waren, als sie vermutet hatten.
Die beiden Reiche waren auf eine Art miteinander verwoben, die selbst die Druiden niemals ganz verstanden hatten. Die Verbindung war komplexer und wahrscheinlich mächtiger, als sie geglaubt hatten.
Die anderen wunderten sich über das, was ihnen ihr Shan’do offenbarte. Malfurion jedoch konnte sie nicht länger bei dieser erstaunlichen Entdeckung verweilen lassen. Er leitete sie weiter an, sodass sie ihre Zauber nach seinen Vorstellungen verändern konnten.
Der Sturm war sein Sturm. Die anderen Druiden waren zwar notwendig, um ihn zu erschaffen und damit er anwuchs. Aber seine richtige Größe, das wahre epische Ausmaß, erhielt er von Malfurion. Tyrande half mit Gebeten an Mutter Mond, damit sein Geist währenddessen vom Albtraum verschont blieb.
Ein tiefes Beben erschütterte Azeroth und den Smaragdgrünen Traum. König Varian hielt Ordnung unter seinen Kriegern. Doch er wusste, dass sie nicht darauf hoffen durften, dass dieses Beben ihnen neue Hoffnung brachte. Während der Herr von Sturmwind den Kampf anführte, erschien das Bild des Wolfes auf seinem Gesicht und verlieh den Kriegern, die von der Gunst des Geistes wussten, neuen Mut.
Die Lebensbinderin kämpfte an dem einzigen Tor, das alle Anstrengungen des Albtraums behinderte. Sie lächelte grimmig in Anerkennung dessen, was Malfurion schon geleistet hatte. Dann gab sie das Ihre, um sicherzustellen, dass sie nicht versagte.
Malfurion spürte, wie alles zusammenkam. Die Druiden wurden unter seiner Führung geeint. Er fühlte ein Verständnis für beide Welten, das er sich nie hätte vorstellen können. Aber erst durch seine Verbindung mit Tyrande konnte er dieses Verständnis auch richtig nutzen.
Der Sturm wurde entfesselt.
Er tobte mit einer Wut, wie noch kein Sturm vorher es getan hatte. Azeroth erbebte. Der Smaragdgrüne Traum schimmerte. Sie waren zwei, die eins waren. Allerdings nicht so, wie Xavius es gewollt hatte. Er wollte ein ganzes Reich verderben, es zum Spiegelbild seines eigenen Bösen und der Macht machen, die hinter ihm stand.
Malfurion schenkte ihm stattdessen die Reinheit und die Stärke der Natur.
Der Wind heulte. Er brachte Bewegung in den Nebel. Seine Kraft ließ die albtraumhaften Gestalten und Schattensatyre wie Staub zerstieben. Sturmwind, Orgrimmar... jeder umkämpfte Ort auf Azeroth wurde nun gereinigt.
Der Regen fiel kräftig, Flüsse verteilten sich, wo immer auch das Böse sich ausgebreitet hatte, über die Landschaft. Das reine Wasser spülte weitere Schatten des Albtraums fort, weitere schreckliche Traumkreaturen, und brachte neues Leben und neues Wachstum dorthin, wo der Albtraum es verkrüppelt oder manipuliert hatte.
Das Ungeziefer verging im Regen, seine Fäule konnte dieser Kraft nicht widerstehen. Wer bereits zu stark vom Albtraum korrumpiert war, floh gemeinsam mit dem Nebel.
Doch der Albtraum beherrschte immer noch viele seiner Opfer, und die Macht, die von ihren Ängsten ausging, war enorm. Die Schlafwandler erhoben sich in großer Zahl, getrieben von ihren schrecklichen Träumen, um die Lebenden zu bekämpfen.
Malfurion hatte gewusst, dass es so kommen würde. Er rief den Donner zur Erde herab.
Noch nie hatte es auf Azeroth ein derartiges Geräusch gegeben. Hunderte Vulkane waren nichts im Vergleich dazu. Alle Stürme in Azeroths Geschichte zusammen kamen dieser fantastischen Kraft nicht einmal nahe.
Und keine Kreatur, egal, wie tief sie schlief, wie tief versteckt sie in irgendeiner Höhle lauerte oder hoch in den Bergen oder hinter dicken Steinmauern... hätte es überhören können.
Der Donner ertönte.
Die Schläfer erwachten.
Die Macht des Albtraums zerbarst.
Xavius’ Empörung hallte einen Augenblick später in Malfurions Kopf wider. Ein mitleiderregendes Geräusch im Vergleich zur Majestät des Sturms. Doch der Erzdruide war sich seines Sieges noch nicht sicher. Malfurion streckte die Arme aus, ballte die Hände zu Fäusten und legte seinen ganzen Willen in das, was er und die Druiden erschaffen hatten. Dann schickte er diese Macht dem Albtraumlord entgegen.
Der Sturm wütete weiter.
Wo auch immer die Verderbtheit noch herrschte, zuckten Blitze und ließen die Dunkelheit schwinden. Die Blitze waren nicht wie üblich weiß oder gelb, sondern so leuchtend grün wie saftige Weiden. Wo die Blitze einschlugen, verbrannte der Boden nicht, sondern er erblühte.
Malfurion ließ in keinem der beiden Reiche nach, damit der Albtraum keinen neuen Brückenkopf bilden konnte. Als das Böse jedoch immer weiter zurückgedrängt wurde, wuchs sein Widerstand. Malfurion spürte, wie einige der Drachen erlahmten, und aus Sorge um sie nahm er eine größere Last auf sich. Tyrande stärkte ihn dabei. Ihre Entschlossenheit war so groß wie seine. Alles würde hier enden...
Mitten in seinen Bemühungen spürte Malfurion, wie das Böse hinter Xavius zum ersten Mal selbst Einfluss nahm... und zurückschlug.
Es dauerte einen Augenblick, bis der Erzdruide verstand, warum. Es lag an den Schlafenden. Sie waren nun wach, doch die Schrecken ihrer fürchterlichen Träume waren noch bei ihnen. Ihre Ängste nährten den Albtraum noch immer.
Malfurion und Tyrande spürten zur gleichen Zeit, was getan werden musste. Seine linke Hand beschrieb einen Bogen. Der Regen über Azeroth veränderte sich, wurde feiner, wärmer. Er nahm einen rötlichen Farbton an, einer Rose ähnlich. Gleichzeitig bat Tyrande Elune um Hilfe. Das silberne Licht von Mutter Mond schien auf sie herab und vereinte sich mit dem Regen.
Als der erstaunliche Regen die Opfer des Albtraums berührte, überkam sie augenblicklich ein Gefühl der Ruhe. Sie vergaßen, was sie erlitten oder was sie anderen als Sklaven des Xavius angetan hatten.
Der Widerstand gegen Malfurions Zauber wurde schwächer. Ermutigt drang er immer weiter vor... bis er den Baum und seinen Schatten erreicht hatte.
Bis er Xavius erreichte und nicht weiterkonnte.
Ich werde immer bei dir sein, spottete der Albtraumlord. Ich hin du, Malfurion Sturmgrimm...
Der Erzdruide antwortete nicht. Er rief alle Energien von Azeroth und dem Smaragdgrünen Traum an und schleuderte sie dem großen schrecklichen Baum entgegen.
Nichts geschah.
Malfurion wandte den Blick zum Smaragdgrünen Traum und dem Schatten des Xavius. Dort sah er, was er bereits wusste. Thura war immer noch durchbohrt, und Broll kämpfte darum, nicht von den Ästen eingefangen zu werden.
Die gebündelten Energien trafen den Schatten... und richteten nicht mehr aus als gegen einen gewöhnlichen Baum.
So, das wollt Ihr also von mir, dachte Malfurion. Nun gut.
Er konzentrierte sich und benutzte die aberwitzigen Kräfte, die er aus beiden Reichen gezogen hatte. Er trennte seine Traumgestalt auf eine Art und Weise von seinem physischen Körper, die selbst er nicht für möglich gehalten hätte. Malfurion war nun zwei unterschiedliche Wesen, doch immer noch dieselbe Person. Sein physischer Körper schlief nicht. Er war gleichermaßen im Smaragdgrünen Traum und auf Azeroth vorhanden und konnte dort ebenfalls eingreifen.
Auch das war eigentlich unmöglich, und kein Druide vor ihm hatte es je versucht. Möglich wurde diese einzigartige Tat, weil der Albtraum versucht hatte, die beiden Reiche zu verschmelzen.
Es war der einzige Weg, wie er seinen Angriff exakt zur gleichen Zeit auf den Baum und den Schatten konzentrieren konnte. Erst so wurden sie beide empfänglich für seine Kraft.
Aber genau das Gleiche wollte auch Xavius. Denn Malfurion war während dieses Aktes zweifellos auch doppelt so empfänglich für die Gefahren aus beiden Reichen.
Die schattenhaften Äste griffen seine Traumgestalt an. Der pervertierte Baum attackierte währenddessen mit neuer Stärke seinen physischen Körper.
Doch als der Albtraumlord angriff, nahm Malfurion Kontakt mit dem Geist eines anderen auf. Broll... wir müssen zuschlagen...
Der Druide bestätigte kurz den Kontakt. Da der Albtraum ihn für unbedeutend hielt, bekam er die eine Sekunde, die er brauchte, um seine eigenen Kräfte ins Spiel zu bringen.
Broll verwandelte sich wieder in eine Raubkatze, benutzte das Maul und befreite Thura aus dem Griff des Schattens. Ihre Haut war kalt, doch als der Kontakt mit dem Schatten abbrach, wurde der Körper sofort wärmer.
Die Orcfrau rührte sich. Broll stürzte vorwärts.
Tausend Schattenäste stießen in Malfurions Traumgestalt. Auf Azeroth hielt Tyrande den Erzdruiden fest, als ihn die schlimmsten Schmerzen durchfuhren, die er je verspürt hatte. Selbst als Baum hatte er so etwas nicht erleiden müssen.
Die Hohepriesterin schrie auf, als sie diesen Schmerz annahm und zu ihrem eigenen machte, damit der Erzdruide sich besser auf seinen Angriff konzentrieren konnte.
Malfurion fletschte die Zähne. Der Nachtelf konzentrierte die Wucht des gigantischen Sturms auf zwei Orte – auf Azeroth und den Smaragdgrünen Traum. Der Baum des Albtraumlords und sein Schatten gaben unter dem verstärkten Angriff nach. Die Äste, die sich in die Brust von Malfurions Traumgestalt gebohrt hatten, wurden vom Wind davongetragen. Die des wahren Baumes verbrannte der Blitz. Neue Äste entstanden, als der Albtraumlord im Gegenzug versuchte, seinen Feind zu packen. Doch Malfurions Zauber hielt ihn in Schach.
Und im Smaragdgrünen Traum griff Thura, abgeschirmt von Broll, den schattenhaften Stamm an. Sie hob die Axt, die mit all der Herrlichkeit der innewohnenden Energien leuchtete, die der Halbgott Cenarius vor zehntausend Jahren für Broxigar hineingearbeitet hatte.
Schlagt hier zu!, sagte ihr Malfurion und zeigte ihr in Gedanken ein Bild der verwundbarsten Stelle.
Mit einem verschlagenen Grinsen erwischte die Orcfrau den Schatten an genau diesem Punkt.
Ein Schrei hallte über den Smaragdgrünen Traum, ein Schrei, der auch auf Azeroth erklang. Die Axt versank tief in dem Baum, als würde sie in etwas Festes eindringen.
Der Schatten wankte.
Als Thura zuschlug, verstärkte Malfurion den Angriff auf den physischen Baum tausendfach. Smaragdgrüne Blitze trafen ihn immer wieder und setzten einen Ast nach dem anderen in Brand.
Mylord!, rief Xavius plötzlich. Hört mich an!
Doch Malfurion spürte, wie die uralte Finsternis ihren wertlosen Diener verließ. Obwohl er sich darüber wunderte, wagte der Erzdruide es nicht, seinen Angriff gegen Xavius abzuschwächen. Er wusste nur zu gut, sollte nur irgendein Funke von ihm zurückbleiben, würde Xavius erneut auferstehen... in einer Gestalt, die wahrscheinlich noch schrecklicher war. Die ganze fürchterliche Tortur würde von Neuem beginnen.
Thura traf den Schatten ein zweites Mal, und seine Gestalt begann zu schwinden. Malfurion setzte seinen Angriff auf den realen Baum mit Blitzen fort, die ein Inferno auslösten. Xavius schleuderte diese Flammen auf seine Feinde zurück. Gleichzeitig gab Tyrande ihr Bestes, um Malfurion zu schützen, dennoch wurde ihm die Haut versengt.
Thura traf ein drittes Mal. Die magische Axt drang so tief in den Schattenbaum ein, dass die Klinge vollständig darin verschwand.
Und dann... als sie die Waffe wieder herauszog... verschwand der Schattenbaum und löste sich in Nichts auf.
Der Albtraumlord kreischte.
Auf Azeroth bebte der wahre Baum. Er begann schnell zu vertrocknen. Die Äste fielen ab. Die großen Wurzeln ringelten sich und verkümmerten.
Die bittere, wütende Stimme des Albtraumlords dröhnte in den Gedanken des Erzdruiden. Malfurion Sturmgrimm! Ich werde dich niemals verlassen! Ich werde immer dein Albtraum bleiben! Ich...
Die Krone des schrecklichen Baumes krachte in sich zusammen. Schwarze Asche zeugte von seinem Tod. Die unteren Äste brachen ab, zerfielen zu Staub, als sie auf dem harten Boden auftrafen. Selbst der Stamm kollabierte, große Stücke brachen aus ihm heraus und verteilten sich über die Landschaft. Malfurion wehrte alles ab, was ihn oder Tyrande hätte treffen können. Die geschwärzte Borke verrottete schnell.
Am Ende blieb nur ein toter Stumpf übrig – der bereits mehrere Jahrhunderte alt zu sein schien -, als der Staub sich gelegt hatte.
Xavius, einst Berater von Königin Azshara, einst der Oberste Satyr, einst der Albtraumlord... war schließlich nicht mehr.
Malfurion schwelgte nicht in seinem Sieg. Stattdessen machte er weiter, zerstörte, was vom Albtraum noch übrig war, wollte ihn völlig vernichten.
Die Verwandlung von Xavius’ Baum, die von Fandral in Teldrassil eingebracht worden war, hatte Xavius eine Verbindung in beide Reiche ermöglicht und erlaubte es dem Bösen hinter dem Albtraumlord, Azeroth und den Smaragdgrünen Traum gleichzeitig zu besudeln. Doch Xavius’ physische Gestalt war auf Azeroth am stärksten gewesen, und ohne den Baum, der die Verbindung aufrechterhielt, konnte sich der Überrest des Albtraums nicht mehr halten.
Als Azeroth von der Verderbnis befreit war, konzentrierten sich Malfurion und Tyrande völlig auf den Smaragdgrünen Traum. Sie waren fest entschlossen, auch ihn zu reinigen. Der Albtraum schwand, ging immer weiter zurück...
Doch in einem kleinen Winkel des Smaragdgrünen Traums, in einem tiefen Spalt, den die Druiden als Spalt von Aln kannten, der der Legende nach am Ausgangspunkt des magischen Reiches lag, konnten selbst die vereinten Kräfte des Erzdruiden und der Hohepriesterin den Kampf nicht völlig beenden.
Der Albtraum hielt sich hartnäckig an diesem Ort, von dem die Druiden annahmen, dass er bis in den Wirbelnden Nether und das Dunkle Jenseits hineinreichte.
Malfurion blickte hinein und sah nur einen bodenlosen Spalt, der die urzeitlichen Energien ausstrahlte, die selbst er nicht zu untersuchen wagte. Der Spalt an sich schien halb ein Traum zu sein. Eine surreale Aura umgab ihn, und der Erzdruide meinte, immer wieder eine Verschiebung zu erahnen, als wollte er schwinden oder sich zumindest verwandeln.
Merkwürdigerweise spürte Malfurion erst da, dass das uralte Böse aus den Tiefen von Azeroths Ozeanen heraus agierte. Auch ohne Xavius’ Verbindung zum Traumreich war es noch mächtig genug, diesen Ort unter seiner schrecklichen Herrschaft zu halten.
Schließlich wurde klar, dass es sonst nichts mehr zu tun gab. Malfurion versiegelte die Umgebung um den Spalt. Er traf ein stilles Abkommen mit Tyrande. Sie hatten die Welt gerettet... und dieser andere Krieg würde auf andere, bessere Zeiten warten müssen.
Nachdem die akute Gefahr vorbei war, spürte der Nachtelf, wie ihm die unglaublichen Energien wieder entglitten. Eigentlich störte es ihn nicht, doch er hatte noch einige Dinge zu erledigen, bevor sie völlig verschwanden. Er eilte über beide Reiche und suchte nach überlebenden Korrumpierten. Es waren nur wenige, und davon konnte er nur eine Handvoll erlösen. Knorre gehörte dazu, weil er noch nicht so lange unter dem Einfluss des Bösen gestanden hatte. Remulos war bereits gereinigt worden. Doch viele andere waren bedauernswerterweise wie Lethon und Smariss geworden und konnten nicht ohne den Albtraum überleben. Sie vergingen wie die Schattensatyre. Malfurion trauerte um sie, ganz gleich, was auch immer sie gewesen sein mochten.
Als nächstes stellte er die Körper von Varians Traumgestaltarmee wieder her, egal, von woher sie gerufen worden waren. Nachtelfen, Orcs, Trolle, Draenei, Blutelfen, Tauren, Zwerge, Gnome, Goblins, Menschen... sie alle hatten ihren Teil dazu beigetragen, sogar einige der Untoten waren dabei. Er verweilte nur einen Augenblick, um zuzusehen, wie ein König zu seinem Sohn lief und die beiden sich umarmten. Die Verteidiger, die nicht in eine physische Gestalt zurückkehren konnten, verband der Erzdruide mit dem Smaragdgrünen Traum, damit sie dort leben konnten.
Für seine engsten Verbündeten nahm er sich ein wenig Extrazeit. Thura brachte er zurück zu ihrem Volk und berichtete ihrem Anführer Thrall, wie wichtig sie im Kampf gewesen war. Lucan Fuchsblut, der Mensch mit den besonderen Fähigkeiten, wurde der Schüler von Hamuul Runentotem. Der Tauren fand sich bereit, eine Zeit lang in Darnassus zu bleiben, um dem Kartografen beizubringen, wie er seine einzigartigen Fähigkeiten am besten kontrollieren konnte. Die beiden passten auf eine merkwürdige Weise zueinander, und Malfurion hegte große Hoffnung, dass beide Seiten davon profitieren würden.
Dann spürte er, wie Tyrande die Schwestern der Elune dazu aufrief, hinaus in die von der Allianz besetzten Gebiete zu ziehen, um den Opfern zumindest Ruhe und Ordnung zu bringen. Die Schamanen und Druiden setzten ihre Fähigkeiten auch ein, um den ehemaligen Sklaven des Albtraums zu helfen. Dabei achteten sie darauf, dass jeder sich vornehmlich um das eigene Volk kümmerte, um weitere Spannungen zu vermeiden. Selbst Malfurion war es unmöglich, alle Wunden zu heilen. Es waren viel zu viele gestorben, als dass irgendeine Macht all diese Erinnerungen zu löschen vermocht hätte.
Obwohl das Böse in den Spalt von Aln verbannt worden war – wo es hoffentlich auch bleiben würde -, würde das Erbe des Albtraums die Welt noch über Jahre heimsuchen.
Malfurion wusste noch viele andere Dinge, für die er gern die Gaben von Azeroth und dem Smaragdgrünen Traum verwendet hätte. Doch ihm war klar, dass es für ihn an der Zeit war, dem allen ein Ende zu setzen. Dankbar erlaubte er den Druiden, den Zauber einzustellen. Sie hatten viel mehr gegeben, als er hätte verlangen können. Er war stolz auf sie alle.
Nur widerstrebend trennte sich Malfurion selbst von dem Zauber und gab ihn den beiden Reichen zurück. Der Erzdruide konzentrierte sich wieder auf die reale Welt. Sein Blick blieb auf der Frau liegen, die von Anfang bis Ende bei ihm gewesen war. Trotz der großen Fehler, die letztlich zu seiner Gefangennahme und Folter geführt hatten, und trotz aller Mühen, die sie seinetwegen hatte erleiden müssen. Malfurion erkannte die Liebe in ihr, und obwohl er wusste, dass er ihrer nicht würdig war, wollte er nie wieder von ihr getrennt werden.
Er legte seine Hand sanft auf Tyrandes Wange.
Erschöpfung überkam ihn.
Malfurion brach in ihren Armen zusammen.