13 Am Rande des Albtraums


Die Druiden waren erschöpft. Sie hatten sich derart verausgabt, dass mehrere von ihnen sicherlich tagelang keine Zauber mehr wirken konnten. Ihre vereinte Macht hatte Teldrassil immer mehr genährt, doch es war ohne sichtbaren Erfolg geblieben... zumindest, soweit Hamuul es beurteilen konnte.

Der Tauren war für die meisten der anderen ein Ausgestoßener geworden. Obwohl er offiziell nicht getadelt wurde, es keine Verdammung durch den Erzdruiden gab. Fandral hatte Hamuul nicht einmal verraten, was Broll eigentlich getan hatte. Er hatte den Tauren nur lange missbilligend angeschaut, sodass die anderen mitbekamen, dass Hamuul seine Gunst verloren hatte.

Naralex und ein paar andere machten dabei nicht mit. Doch Hamuul gab sein Bestes, ihnen aus dem Weg zu gehen, aus der Sorge heraus, dass auch sie darunter zu leiden hätten. Der alte Tauren nahm freiwillig die Verantwortung auf sich, wodurch er es Broll ermöglichte, lange unbemerkt zu bleiben. Er vertraute seinem Freund. Fandral hatte allerdings auch jedes Recht verärgert zu sein.

Der Erzdruide hatte darauf bestanden, dass sie alle in der Nähe von Teldrassil blieben, weit weg von Darnassus. Nur er selbst war in die Stadt zurückgekehrt. Jedes Mal, wenn er wieder kam, drängte er die Druiden auf eine andere Art. Er versicherte ihnen, dass sie Fortschritte machen würden, dass der Weltenbaum allmählich gesund wurde.

Hamuul musste zugeben, dass er nicht ausreichend bewandert war, um zu spüren, was Fandral tat.

Der Tauren saß im Schneidersitz ein wenig von den anderen entfernt. Die Druiden meditierten, versuchten, die Stärke für Fandral s nächsten Zauber aufzubauen. Hamuul hatte sich noch nie in seinem Leben so ausgelaugt gefühlt, nicht einmal während der wochenlangen Jagd, die Teil seines Ritus des Übergangs gewesen war, mit der der Eintritt zum Erwachsenensein zelebriert wurde. Während der ganzen Prüfung hatte er fasten müssen.

Ich werde alt..., war sein erster Gedanke. Dennoch schien keiner der Nachtelfen stärker als er zu sein. Bislang hatten die Pläne des obersten Erzdruiden lediglich erreicht, dass jedes Mitglied am Rand der Erschöpfung stand.

Hamuul dachte erneut an Fandral. Doch er konnte ihn nirgendwo finden. Der Tauren vermutete, dass Fandral vielleicht zur Enklave des Cenarius zurückgekehrt war, um einen alten Text zurate zu ziehen. Hamuul hoffte, dass er sie mit mehr greifbaren Resultaten als bislang versorgen würde.

Momentan konnte er nicht mehr meditieren und stand deshalb auf. Als er sah, dass keiner der anderen auf ihn achtete, ging er auf den Weltenbaum zu.

Auch wenn Hamuul nicht zu denen gehört hatte, die solch einen Weltenbaum gewollt hatten, konnte er dessen Majestät nur bewundern. Ebenso Teldrassils Einfluss auf die Welt. Als Tauren glaubte Hamuul sehr an das Gleichgewicht zwischen der Natur und dem Leben der verschiedenen Völker auf Azeroth. Deshalb war er ursprünglich zu Malfurion Sturmgrimm gegangen und hatte darum gebeten, in den druidischen Künsten unterwiesen zu werden. Und auch wenn Hamuul erst seit ein paar Jahren Druide war, hatte er sich gut bewährt. Sonst wäre er wohl kaum zu einem der wenigen Erzdruiden ernannt worden, dem Einzigen seines Volkes.

Der Tauren wünschte sich, dass er mehr für Broll hätte tun können. Er glaubte immer noch, dass Broll die richtige Entscheidung getroffen hatte, wie sehr sie auch Fandrals gute Absichten durchkreuzen mochte. Er stand vor Teldrassil und blickte hoch in die Wolken, wo Darnassus lag. Wenn das Portal sehr nahe gewesen wäre, wäre Hamuul vielleicht versucht gewesen, einfach durchzugehen. Aber so wie es war, hätte er schon dahin fliegen müssen...

Mit einem Grunzen lehnte er sich mit einer Hand gegen Teldrassil. Er musste mehr tun. Wenn Broll...

Jemand flüsterte.

Hamuul trat vom Baum weg und suchte nach dem Sprecher. Doch das Flüstern verstummte augenblicklich.

Gedankenvoll runzelte er seine dichten Brauen und näherte sich wieder dem Stamm.

Das Flüstern begann erneut. Hamuul starrte auf Teldrassil... dann blickte er hinunter zu seinem Fuß. Dort berührte er mit der rechten Seite eine der Wurzeln des Weltenbaums.

Er legte die Hand auf den Stamm.

Das Flüstern erfüllte seinen Kopf. Hamuul konnte es nicht verstehen. Es war keine Sprache, die von den intelligenten Völkern Azeroths gesprochen wurde. Stattdessen erinnerte sie ihn an etwas anderes, etwas, das die Tauren gut kannten...

„Shakuun, leite meinen Speer...“, murmelte er und sprach damit einen Taurenschwur aus. Shakuun war der Vater seines Vaters gewesen, und Tauren riefen ihre verehrten Ahnen an, damit sie über sie wachten. Der Schwur sollte allerdings nicht wörtlich genommen werden. Hamuul bat seinen Großvater um Hilfe, damit er verstand, was er entdeckt hatte.

Der Erzdruide lauschte der Stimme Teldrassils.

Alle Druiden kannten die Sprache der Bäume, obwohl einige sie besser verstanden als andere. Dies war nicht das erste Mal, dass Hamuul dem Weltenbaum zugehört hatte. Doch es war das erste Mal, dass er dieses Flüstern hörte. Die Stimme des Weltenbaums konnte man normalerweise im Rascheln der Äste und der Blätter hören und durch das Fließen des Safts, der wie Blut den großen Stamm durchströmte. Es war ebenfalls ein Flüstern, allerdings eins, das man verstehen konnte.

Doch Hamuul konnte nicht verstehen, was er gerade hörte. Das Flüstern war ohne richtigen Rhythmus, ohne Form. Als der Erzdruide weiter zuhörte, setzte es sich immer weiter fort, als ob...

„Was macht Ihr da, Hamuul Runentotem?“ erklang Fandrals Stimme plötzlich hinter ihm.

Seinen Schrecken unterdrückend wandte sich der Tauren zu dem obersten Erzdruiden um. Er hatte nicht gespürt, wie der Nachtelf sich genähert hatte, was einiges über Hamuuls gegenwärtigen Geisteszustand aussagte. Als Tauren rühmte er sich der Fähigkeit, dass sein Volk sich als Einziges an Fandrals Volk anschleichen konnte.

Hamuul wollte ehrlich sein. Diese Sache war etwas, das Fandral vor allen anderen Druiden erfahren sollte.

Doch wie erklärte man es am besten? „Erzdruide Fandral, wirst du Teldrassil einen Augenblick lang zuhören? Ich fürchte, dass die Dinge schlimmer sind, als wir gedacht haben! Als ich mit meiner Hand den Stamm berührt habe, gerade eben...“

Der Nachtelf wartete nicht darauf, dass der Tauren ausredete. Fandral legte seine flache Handfläche gegen Teldrassil. Er schloss die Augen und konzentrierte sich.

Ein paar Atemstöße später blickte der oberste Erzdruide den Tauren an. „Ich spüre nichts anderes als vorher. Teldrassil geht es nicht gut, doch es gibt Fortschritte.“

„Fortschritte?“ Hamuul starrte ihn mit offenem Mund an. „Erzdruide, ich spürte...“

Fandral unterbrach ihn mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck. „Ihr seid müde, Hamuul, und ich war Euch gegenüber nicht sehr nett. Ihr wart Broll nur ein loyaler Freund, der sich für dessen Rücksichtslosigkeit verantworten musste. Es ist unter meiner Würde, die Enttäuschung an Euch auszulassen, wenn Broll eigentlich schuld ist.“

„Ich...“

Fandral hob eine Hand. „Hört mich an, guter Hamuul. Ich habe gerade einige interessante Dinge erfahren. Wir müssen einen neuen und stärkeren Versuch starten, um Teldrassils Schmerz zu heilen. Ihr, mit Eurem starken Geist, wäret eine große Hilfe dabei, doch Ihr müsst Eure Stärke erst zurückgewinnen. Wenn Ihr befürchtet, dass dem Weltenbaum doch noch mehr fehlt, werdet Ihr mich sicherlich bei dem neuen Versuch unterstützen.“

Der Tauren neigte den Kopf und antwortete: „Wie du befiehlst, Erzdruide Fandral.“

„Ausgezeichnet! Nun kommt mit mir. Ich werde Euch mehr über den nächsten Versuch sagen. Es wird sehr mühevoll werden. Es könnte mehr als einen Tag der Meditation brauchen, um uns davon zu erholen...“

Fandral ging los. Hamuul konnte nichts anderes tun, als ihm zu folgen. Doch selbst als er dem Nachtelfen zuhörte, wie er seinen Plan erläuterte, blickte er auch zu dem Stamm zurück, den er berührt hatte. Er hatte das zusammenhanglose Flüstern gehört, und er wusste, dass es die Stimme des Weltenbaums gewesen war. Hätte nicht der oberste Erzdruide die Sache auch untersucht, wäre der Tauren noch besorgter gewesen, als er es ohnehin schon war. Doch es blieb noch genug Sorge, dass Hamuul sich weiterhin seine eigenen Gedanken machte...

Für Hamuul Runentotem konnte das nur eins bedeuten.

Teldrassil wurde verrückt.


Sie betraten das Portal nicht sofort, obwohl sie das eigentlich geplant hatten. Eranikus und Alexstrasza testeten es vorsichtig. Sie schickten ihre Kräfte weit hinein, um zu überprüfen, ob Lethon oder Smariss ihnen eine Falle gestellt hatten. Erst als sie keine fanden, gaben die Drachen das Portal frei.

„Wurde auch verdammt noch mal Zeit“, murmelte Broll. Tyrande nickte. Sie war derselben Meinung. Beide drängte es, Malfurion zu suchen. Doch eine Sache störte sie noch. Denn Lucan Fuchsblut und die mysteriöse Orckriegerin waren nach wie vor verschwunden. Die Orcfrau war wahrscheinlich nur durch Zufall in die Sache hineingeraten, aber dennoch...

„Ihr versteht immer noch nicht die wahre Gefahr des Albtraums“, antwortete der grüne Drache mit einiger Bitterkeit in der Stimme. „Seid nicht so begierig darauf einzutreten, ohne euch richtig darauf vorzubereiten.“

„Die Zeit drängt.“

Alexstrasza nickte zustimmend. „Genauso ist es, Broll Bärenfell. Doch wenn ich recht habe und Malfurion Sturmgrimm wirklich versucht, uns zu ihm zu führen, dann würde er wollen, dass wir die Dinge richtig überdenken.“ Der Drache lächelte grimmig. „Und das haben wir jetzt getan.“

„Ich bin bereit“, verkündete Eranikus.

„Bist du dir sicher?“, fragte der Aspekt.

Seine Bitterkeit wurde offensichtlicher. „Ja, bin ich. Ich schulde es meiner Ysera.“

Die Lebensbinderin neigte den Kopf. Ein warmes, tröstendes Leuchten ging von Alexstrasza aus. Es berührte die drei. Die Nachtelfen lächelten und selbst Eranikus wirkte dankbar.

„Möge mein Segen euch schützen und eure Jagd zum Erfolg führen“, sagte der Aspekt.

„Wir fühlen uns geehrt und danken Euch“, antwortete Tyrande.

Eranikus atmete ein, breitete die Flügel aus und trat auf das Portal zu. „Ich gehe vor... um euch zu decken.“

Die Energien innerhalb des Portals regten sich, als er näher trat. Ohne zu zögern ging der Drache in das Portal.

Und dann war er fort.

Broll und Tyrande traten auf das Portal zu.

„Ihr solltet hierbleiben“, sagte er zu ihr.

„Ich war schon viel zu lange von Malfurion getrennt“, gab sie zurück.

Bevor er irgendetwas anderes sagen konnte, sprang sie hindurch.

Broll stieß ein verärgertes Schnauben aus, dann folgte er ihr.

Das Gefühl, physisch in das andere Reich einzutreten, war, als würde man einschlafen. Als Lethon sie angegriffen hatte, hatte Broll keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, doch jetzt erkannte er es. Es war völlig anders, wenn er seine Traumgestalt bewusst hierher schickte. Denn dann fühlte er sich, als hätte er eine schwere Bürde abgelegt und war schließlich frei von all seinen weltlichen Problemen.

Doch das war jetzt nicht so. Mehr denn je war er sich bewusst, was in dem Albtraum auf ihn lauern konnte. Doch im Moment sah er außer dem dichten Nebel nichts. Der Albtraum war also noch nicht völlig verschwunden.

„So können wir nicht reisen“, verkündete Eranikus. Der Drache flog direkt über den Nachtelfen. Seine Flügel schlugen langsam. Er wirkte, als würde man ihn durch fließendes Wasser hindurch sehen, ein weiterer Effekt, den Broll ebenfalls während ihres verzweifelten Kampfes nicht bemerkt hatte. Dasselbe galt für Tyrande.

Der Drache beugte sich zurück, dann hauchte er etwas in den Nebel hinein. Eine sanfte Gischt smaragdfarbenen Lichts berührte alles vor ihnen liegende.

„Elune, steht uns bei!“, keuchte die Hohepriesterin, als der Weg geräumt war.

In diesem Moment hätte Broll gern die Hilfe von jedem Gott oder Halbgott angenommen. Selbst die Gesellschaft eines Drachen schien im Moment nicht auszureichen.

Früher war der Smaragdgrüne Traum ein Ort gewesen, der wie ein Azeroth aussah, das niemals von irgendwelchen Völkern wie etwa den Nachtelfen besiedelt worden war. Seine Hügel und Berge waren perfekt gebildet, weil es keine Erosion gab. Hohes Gras und schöne Bäume hatten sich über die Landschaft ausgebreitet. Die Fauna war furchtlos und friedlich. Für Druiden wirkte es wie das Paradies.

Doch jetzt passte kein Name besser als der, den Eranikus benutzt hatte... Albtraum.

Das Land war mit einer feuchten, verfaulenden Substanz überzogen, die vor sich hin blubberte. Die schönen smaragdgrünen Schatten waren der Fäulnis gewichen. Die Bäume waren zu deformierten Parodien ihrer selbst geworden. Die Blätter schwarz, scharfkantig und voller giftiger Flecken. Kleines dunkles Ungeziefer krabbelte über die schorfige Borke und nährte sich an dem dickflüssigen übel riechenden Saft, der aus den Rissen im Stamm sickerte.

„Cenarius, steht uns bei...“, krächzte der Druide. Broll betrachtete seine Umgebung ungläubig und trat dann vor. Ein knirschendes Geräusch unter den Füßen lenkte seine Blicke nach unten.

Der Boden war bedeckt mit kleinen grünen Skorpionen, Tausendfüßlern, fingergroßen Schaben, Spinnen mit Körpern so groß wie eine Faust und anderem Ungeziefer. Ein dichter, klebriger Belag bedeckte die Unterseite von Brolls Sandalen, denn mit jedem Schritt zerquetschte er einige dieser Kreaturen.

„Sie sind überall“, keuchte Tyrande. „Sie bedecken den Boden, so weit das Auge reicht...“

„Nicht mehr lange“, antwortete der grüne Drache entschlossen. Er blies seinen Brodem über den Boden. Es war, als hätte Eranikus Feuer gespuckt. Das Knistern von Tausenden kleinen verbrennenden Körpern erfüllte ihre Ohren, und selbst der Drache erschauderte bei dem Geräusch.

Das Land, das Eranikus versengt hatte, war nun schwarz. Er nickte, zufrieden mit seinem Werk.

Doch plötzlich regte sich etwas innerhalb der gerösteten Insekten. Aus einer verbrannten gepanzerten Schabe platzten mehrere Beine heraus. Eine neue Schabe, so furchtbar anzusehen wie die letzte, schlüpfte aus ihrer Vorgängerin.

Und zum Missfallen der drei wiederholte sich das mit jedem der vernichteten Körper. Was immer Eranikus auch vernichtet hatte, wurde ersetzt...

Nebelranken waberten über die makabre Szenerie, als würden sie die Luft wieder erobern wollen, die Yseras Gemahl gereinigt hatte. Der grüne Drache stieß einen zweiten Atemzug aus, der den Nebel wegwischte... zumindest für den Augenblick,

„Es ist unglaublich...“, sagte die Hohepriesterin und versuchte erfolglos, sich vorwärtszubewegen, ohne auf etwas zu treten. Jeder Schritt wurde von einem Knirschen begleitet, das einen dichten Belag zerquetschter Insekten erzeugte. Und noch während sie weitergingen, setzte bereits die scheußliche Wiedergeburt ihrer Opfer ein.

„Das ist nur der Anfang...“, murmelte Eranikus. Das Leuchten seiner Augen war an diesem Ort schwächer. „Ich spüre, dass der Albtraum stärker geworden ist, schlimmer, als ich je gedacht hatte...“

Während er sprach, bemerkten alle die Bewegung am Rande des Nebels. Bald schon konnte man Umrisse erkennen... aber nur sehr vage.

„Die Schatten-Satyre sind zurückgekehrt“, sagte Tyrande.

Eranikus antwortete nicht. Stattdessen sandte er noch mehr Brodem aus und badete die nächsten der kaum sichtbaren Gestalten förmlich darin. Wie bei den Kreaturen unter ihren Füßen entflammten auch diese Wesen augenblicklich.

Wilde und klagende Schreie betäubten ihre Ohren. Völlig reglos brach der grüne Drache den Angriff schnell ab. Broll und Tyrande hielten sich die Ohren angesichts der schrecklichen Geräusche zu. Das waren nicht die Schreie sterbender Monster.

„Möge Ysera mir vergeben!“, stieß Eranikus aus, als der Nebel wich und seine Opfer enthüllte.

Es waren vernunftbegabte Wesen gewesen – Nachtelfen, Menschen, Orcs, Zwerge... Mitglieder aller sterblichen Völker. Alles, was nach Eranikus’ gnadenlosem Angriff übrig geblieben war, waren verbrannte Leichen, die weiterhin zuckten, als wollten sie die Arme Hilfe suchend ausstrecken oder zumindest ihrem Leiden ein Ende setzen.

Das Ungeziefer ignorierend, lief Broll zum nächsten Opfer. Tyrande war an seiner Seite. Eranikus blieb, wo er war. Der grüne Drache war offensichtlich erschüttert über das Unglück, das er verursacht hatte.

„Die Schläfer...“, erkannte Broll. „Das sind die Schläfer...“

„Vielleicht habe ich sie alle in Azeroth getötet. Es ist, als hätte ich über dem Bett jedes Einzelnen gestanden und sie gleich dort verbrannt!“, knurrte Yseras Gefährte. „Sie konnten ihren Träumen nicht entkommen und hätten dort genauso gelitten, so wie sie es hier getan haben!“

„Das wisst Ihr nicht“, bemerkte der Druide. „Ihr wisst es nicht...“

Die brüchigen Knochen des Nachtelfen, über dem er gerade kniete, bewegten sich.

Eine geschwärzte fleischlose Hand griff nach seinen Handgelenken und ein Totenschädel mit zwei verbrannten Augen hob sich ihm entgegen.

Der zerstörte Körper kreischte seinen Schmerz wieder hinaus. Es streckte seine verzehrten Finger nach ihm aus.

Broll zerrte, so fest er konnte. „Ich kann mich nicht selbst befreien!“

Das Kreischen ließ nach. Das Skelett schwand.

Doch andere Opfer begannen jetzt zu stöhnen. Tyrande setzte ihre Gebete fort, sie benutzte ihre Hand, um die Macht ihrer Herrin über der Landschaft auszubreiten.

Die geschundenen Leichen verschwanden. Erst als der letzte Tote fort war, hörte die Priesterin damit auf. Sie zitterte.

Broll und Eranikus erging es nicht viel besser. „Sie haben gelitten!“, fauchte der Druide. „Sie haben wirklich gelitten!“

„Das konnte ich nicht ahnen!“, antwortete der Drache. „Ich könnte den Unschuldigen nie etwas antun! Das war der Albtraum“, meinte Eranikus. „Er weiß, was euch am meisten schmerzt, was ihr am meisten fürchtet... und er nährt sich davon...“

Tyrande schöpfte etwas Hoffnung. „Dann ist all das nur eine Illusion?“

„Nein... der Albtraum ist deshalb so gefährlich, weil er immer realer, wirklicher wird.“

Broll traf eine Entscheidung. „Wir müssen Malfurion finden, und zwar schnell...“ Er blickte in den Nebel und erkannte zum ersten Mal die Ungeheuerlichkeit seines Vorschlags. „Aber... in welche Richtung müssen wir gehen?“

„Ich werde ihn finden“, erklärte die Hohepriesterin mit äußerster Überzeugung. Sie blickte sich gehetzt um. „Niemand, nicht einmal Ihr als sein folgsamer Druide, kennt ihn so gut wie ich, Broll.“

Er bestritt diese Tatsache nicht. „Doch ich habe auch eine Idee, wie wir ihn finden können. Ich...“

Die Landschaft bewegte sich plötzlich. Die Nachtelfen stürzten auf den mit Unkraut überwucherten Boden. Eranikus stieg in die Luft auf. Doch auch dort wurde er erschüttert.

Schließlich beruhigte sich wieder alles. Tyrande stand auf und wischte schnell all die Tausendfüßler und das andere Aasgetier weg, das noch an ihr klebte. Broll murmelte einen Zauber, doch das Ungeziefer hörte nicht auf ihn. Sie waren nicht wie die Fauna auf Azeroth. Wie die Hohepriesterin zuvor, resignierte er und schüttelte die Tiere einfach ab.

Eranikus landete. Der Hohepriesterin beobachtete ihn tadelnd. Überraschenderweise blickte der grüne Drache schuldbewusst zur Seite.

„Was ist denn da geschehen?“, fragte Broll Eranikus. Sie waren nun in einer hügligeren Region, mit merkwürdigen, schattigen Pfaden, die in dem teuflischen Nebel verschwanden.

„Dies ist der Albtraum. Frag mich nicht, warum das so ist. Ich weiß nur, dass wir es sicher nicht so wollen!“

Tyrande blickte nach vorn. „Da liegt eine Burg oder irgendein Gebäude vor uns. Dort, auf dem dritten Hügel.“

Der grüne Drache und Broll schüttelten beide den Kopf. Der Druide sagte: „Es gibt hier keinerlei Gebäude, außer beim Auge.“

„Dann war das, was auch immer ich gesehen habe, Teil des Albtraums.“ Bevor sie mehr sagen konnte, war wieder Bewegung im Nebel zu sehen. Die Hohepriesterin verschwendete keine Zeit. Sie beleuchtete die Umgebung mit dem Licht von Mutter Mond.

Doch was sie enthüllte war nicht das, was sie erwartet hatten.

Es war Lucan Euchsblut.

„Ihr!“, polterte Broll. Er packte den Menschen, bevor irgendetwas sie wieder trennen konnte. Lucan starrte ihn aus Augen an, die so groß und hohl waren wie der Tod. Der Mensch war aber eindeutig keine Sinnestäuschung.

„Du bist echt...“, flüsterte er. Ein schwaches, wahnsinniges Grinsen flackerte über sein Gesicht. „Du bist es...“ Er blickte zu Tyrande Wisperwind, und sein Grinsen wurde etwas entspannter. „... und du...“ Dann sah er, was hinter dem Nachtelfen aufragte, und seine wachsende Erleichterung verschwand.

„Wir alle sind Eure Freunde“, versicherte ihm Tyrande.

Lucan beruhigte sich. „Ihr seid echt... ihr alle...“ Sein Blick schoss zur Seite. „Ich wollte fort von hier, doch etwas hat mich hier festgehalten... Ich wollte wirklich fort, doch etwas wollte, dass sie weitermacht...“

Der Druide hakte nach. „Sie? Meint Ihr den Orc? Eine Frau?“

„Ja... ja...“

„Im Kampf unterscheiden sich weibliche und männliche Orcs kaum voneinander“, erklärte Tyrande Broll. „Man sollte keinen von beiden je unterschätzen.“

„Das will ich auch nicht bestreiten. Ich frage mich nur, wer sie sein könnte und was sie hier will.“

„Sie heißt Thura“, erklärte Lucan fast tonlos. „Sie kam, um mich zu töten. Sie kam, um Malfurion Sturmgrimm zu töten.“

Der Drache starrte ihn mit offenem Mund an. Tyrande packte Lucan an der Kehle, doch Broll konnte sie beruhigen.

„Lasst ihn ausreden, Mylady! Es ist nicht seine Schuld!“

„Er sagte, dass sie Malfurion töten will! Er brachte sie hierher...“ Doch Tyrande fasste sich schließlich. „Obwohl... es geschah gegen seinen Willen... so viel ist mir klar... Lucan... es tut mir leid.“

Lucan warf ihr ein nervöses Lächeln zu. Es war offensichtlich, dass er die Hohepriesterin mochte.

Broll brachte ihn auf die eigentliche Sache zurück. „Die Orckriegerin! Sie ist hier, um Malfurion zu töten... aber warum? Woher wusste sie, wo sie ihn finden würde? Hat sie etwas darüber gesagt?“

„Die Visionen... sie redete irgendetwas über Visionen... sie sagte, dass... Visionen sie zu mir geführt hätten... dass sie ihr den Weg hierher Stück für Stück gezeigt hätten... die Visionen helfen ihr, ihren Artgenossen zu rächen und gleichzeitig Azeroth zu retten. Das hat sie mir auch verraten...“

„Ein orcischer Blutschwur“, murmelte Tyrande. „Den kenne ich gut. Sie wird nicht ruhen, bis sie entweder tot ist oder Erfolg hatte.“ Die Hohepriesterin schüttelte den Kopf. „Und die Rettung von Azeroth... das ist doch Wahnsinn....“

„Was auch immer der Fall sein mag, jemand möchte, dass sie Erfolg hat“, fügte der Druide hinzu. An Lucan gewandt fragte er: „Doch was noch wichtiger ist... glaubt sie wirklich, dass Malfurion einen ihrer Artgenossen getötet hat? Orcs meinen damit stets den Tod in der Schlacht.“

Der Mensch konzentrierte sich. „Sie sagte – sie sagte, dass er ein feiger Mörder sei. Dass er seinen Freund verriet und ihn tötete, als der ihm den Rücken zuwandte... glaube ich zumindest.“

Das war mehr, als Tyrande ertragen konnte. Sie zog die Gleve, was Lucan besorgt einen Schritt zurückweichen ließ. „Lügen! Alles Lügen! Eine Gefahr für Azeroth? Ha! Was für ein Wahnsinn! Und dann auch noch ein Verrat – Malfurion hat so etwas nie getan! Das wäre auch nur schwerlich möglich gewesen. Denn die Orcs, mit denen er befreundet ist, kann man an einer Hand abzählen!“

„Sie hat den Namen nur einmal erwähnt! Bruxigan... Broxigan...“

Broxigar?“ Die Hohepriesterin taumelte zurück. Sie ließ die Gleve fallen. Tränen traten ihr in die Augen. „Brox!“, rief Tyrande den anderen zu. „Das war ein Orc, der vor dieser Zeit gelebt hat! Ich habe mich mit ihm angefreundet, als ich noch eine Novizin und er der Gefangene meines Volkes war! Er kämpfte mit uns gegen die Brennende Legion und Azsharas Diener.“ Sie schluckte. „Und er starb im Kampf gegen den Schreckenslord Sargeras höchstpersönlich.“

Der Blick des Druiden schärfte sich. „Sie muss ihn meinen.“

„Doch er war Malfurions Freund!“, fuhr die verzweifelte Hohepriesterin fort. „Sie haben nie gegeneinander gekämpft. Und Malfurion ehrte ihn mit mir, als es vorbei war! Unser Volk errichtete ihm eine Statue, es ist der einzige Orc, der je diese Auszeichnung von uns erhielt!“

„Ich erinnere mich daran.“ Broll runzelte die Stirn. „Dann wurde sie ausgetrickst... und der Albtraum scheint dahinterzustecken...“

„Aber aus welchem Grund?“

„Ist das nicht offensichtlich, Herrin? Weil Malfurion eine Gefahr für die Macht ist, die sich dahinter verbirgt... Das gibt uns dann ein wenig Hoffnung, denn es bedeutet, dass Malfurion noch in der Lage sein muss, für sich selbst zu kämpfen...“

Tyrande zehrte von dieser Hoffnung. Sie trocknete die Augen und sagte: „Dann müssen wir zu ihm eilen! Lucan, als Ihr entkommen seid, habt Ihr darauf geachtet, in welche Richtung sie ging? Ich weiß, der Nebel ist überall, doch da ist diese... Burg...“ Die Hohepriesterin wies auf den fernen Umriss. „Kennt Ihr den Weg dahin?“

Er straffte sich und blickte ein wenig zuversichtlicher. „Ja, ja, Mylady! Es... es ist mein Beruf, Orte und Richtungen zu kennen!“ Der Kartograf wies zur Linken. „Hier lang...“

„Wir könnten fliegen“, bot Eranikus an. „Doch ich fürchte, dass Lucan uns von oben den Weg nicht mehr weisen könnte. Der Nebel ist zu dicht, um etwas zu erkennen...“

Tyrande hatte Lucan bereits am Arm gefasst. „Dann gehen wir jetzt. Führt uns!“, befahl sie dem Menschen.

Nickend trat Lucan einen Schritt vor. Tyrande hielt ihre Gleve bereit. Broll nahm die andere Seite des Mannes ein, und der Drache flog über den dreien.

„Dieser Orc beunruhigt mich“, sagte der Druide. „Ich verstehe nicht, wie er eine Gefahr für meinen Shan’do darstellen könnte.“

Der grüne Drache lächelte spöttisch auf ihn hinab. „Und damit hast du recht! Ein Orc ist kaum eine Gefahr an einem Ort wie diesem! Selbst wenn er vom Albtraum geleitet wird, ist doch Malfurion Sturmgrimm schließlich der oberste Druide! Sein Volk rühmt seine Taten! Keine weltliche Waffe wäre eine Gefahr für ihn...“

Lucan schluckte. „Sie hat eine Axt.“

Tyrande blickte ihn an, ihr Gesichtsausdruck war misstrauisch. „Die Orckriegerin hat eine Axt dabei?“ Sie drehte sich um und blickte Lucan an. „Beschreibt sie mir!“

„Es war eine Axt mit zwei Schneiden. Eine Kriegsaxt.“

„Und wie war sie gemacht? War der Kopf aus Eisen oder Stahl? Sagt es mir!“

Broll trat auf Tyrande zu, um die Hohepriesterin zu beruhigen. Doch sie wies ihn fort. Atemlos wartete sie auf Lucans Antwort.

„Weder aus Eisen noch Stahl“, antwortete er schließlich. Sein Gesicht verzog sich vor Konzentration. „Ich glaube... sie sah aus, als wäre sie aus Holz gearbeitet...“ Der Mensch nickte. „Ja, Holz! Ich habe nie zuvor eine aus Holz gefertigte Axt gesehen! Klingt nicht sehr praktisch, es sei denn, sie ist wirklich scharf, und selbst dann könnte sie leicht brechen...“

„Aus Holz gefertigt“, keuchte die Nachtelfe bestürzt. Sie blickte die anderen an. „Ihr wisst es nicht! Ihr wart nicht dabei, als Cenarius die Axt höchstpersönlich für Brox angefertigt hat!“

„Ich habe irgendwann schon mal davon gehört“, antwortete Broll. Er sah jetzt genauso besorgt aus wie sie. „Aus Holz gemacht, von einem Halbgott gesegnet... und so mächtig, dass sie sogar Sargeras verletzen konnte...“

„Und die Orcfrau jagt Malfurion damit“, fügte Tyrande hinzu. Die Hohepriesterin blickte in den Nebel, besonders auf das kaum sichtbare Gebäude... das einzige Gebäude. „Lucan, seid Ihr ihr wirklich entkommen?“

„Nein... sie sagte, dass sie mich nicht mehr brauchen würde. Sie war ihrem Ziel nahe.“

„Nahe...“ Tyrandes Augen weiteten sich, sie griff die Gleve... und plötzlich stürmte sie in den Nebel.

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