16 Der Schatten breitet sich aus

Tyrande spürte, wie eine Hand sanft ihre Wange berührte. Sie blickte sich um und erkannte, dass jemand neben ihr kniete.

Es war Malfurion, der sie anlächelte. Er sah genauso aus wie bei ihrem letzten Treffen. Groß, breitschultrig für einen Nachtelf, doch nicht ganz so kräftig gebaut wie ein erfahrener Krieger, so wie Broll Bärenfell beispielsweise. Seine Augen und das Gesicht zeugten von Jahrhunderten voller Anstrengungen, die er im Dienste der Druiden und ganz Azeroths unternommen hatte. Sein Geweih war lang und stolz, ein Symbol für seine Nähe zur Natur und zu der Welt, die er liebte.

Mit Herzklopfen erhob sich die Hohepriesterin und umarmte den Druiden innig.

„Mal...“, flüsterte Tyrande, dabei klang sie für einen Augenblick um Jahrtausende jünger, als sie tatsächlich war. „Oh, Mal... ich habe Euch endlich gefunden! Gepriesen sei Elune!“

„Ich habe Euch so sehr vermisst“, antwortete er und hielt sie ebenfalls fest. Plötzlich verlor sein Tonfall an Freude. „Aber Ihr solltet nicht hier sein. Ihr solltet gehen. Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr mich als Erste finden würdet...“

„Ich soll gehen?“ Die Hohepriesterin stand auf und blickte ihn ungläubig an. „Ich werde Euch jetzt nicht verlassen!“

Der Druide schaute sich um, als würde ihn etwas beunruhigen. Tyrande spürte seinen Blick, sah aber nur die unberührte, mitreißende Landschaft des Smaragdgrünen Traums. Sie war genau so, wie Malfurion sie immer beschrieben hatte...

Tyrandes Herz pochte. „Etwas ist nicht richtig... irgendetwas stimmt nicht mit uns...“

„Das ist nur ein Bild in Eurem Kopf, antwortete der Erzdruide mit wachsender Vorsicht. „Ich wollte, dass Ihr mich seht und wisst, dass ich es bin.“

„Malfurion...“

„Hört mir zu! Alles läuft genau so, wie es soll. Doch Ihr müsst umkehren. Ihr könnt nur hier sein, weil er es geahnt hat! Ich hätte wissen müssen, dass er so etwas plant. Ich sollte nicht mal mit Euch reden, denn ich befürchte, dass er uns hier aufspürt und die ganze Wahrheit erkennt.“

„Wer? Von wem sprecht Ihr?“

Malfurion verzog das Gesicht. „Wenn der Albtraumlord etwas mit Euch vorhat, dann müsst Ihr so schnell wie möglich fort von hier! Er ist der Grund, warum Ihr überhaupt so weit gekommen seid...“

„Ich bin auf der Suche nach Euch beinahe gestorben!“, antwortete die Hohepriesterin aufgebracht. „Niemand hat mich an der Nase herumgeführt...“

„Er liebt es, Spielchen zu treiben, quält auch diejenigen, die er braucht! Er...“ Der Druide wandte sich plötzlich von ihr ab. Er blickte zu etwas, das Tyrande nicht erkennen konnte und drängte dann: „Wacht auf und geht zurück, Tyrande! Alles ist dann so, wie es sein soll! Wenn Ihr fort seid, wird sein Plan scheitern und meiner gelingen!“

„Welcher Plan? Was...“

Malfurion wandte sich ihr wieder zu und murmelte: „Ich kann ihn spüren! Er weiß viel, doch nicht genug. Ich wage es nicht, mehr zu sagen, selbst Euch nicht, denn Eure Gedanken stehen ihm offen. Nun geht! Das ist Eure einzige Chance!“

Und damit brach er den Kontakt ab. Tyrande kämpfte dagegen an, wollte die Verbindung aufrechterhalten, erfolglos.

Doch sie spürte, dass er noch in der Nähe war. Ein Gefühl, das sie nicht abschütteln konnte.

Tyrande sah sich um. Der verderbte Nebel war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. An seinem Rand krabbelte das schwarze Ungeziefer, bestrebt, wieder dorthin zurückzukehren, wo Tyrande stand.

Die Hohepriesterin wollte es schon ignorieren, doch aus irgendeinem Grund blickte sie nach unten...

Wenige Zentimeter von ihr entfernt befand sich eine kleine, nach oben gedrehte Wurzel. Sie war wie Tausende andere Wurzeln in der Nähe... und doch auch wieder nicht. Etwas nicht Sichtbares erregte Tyrandes Aufmerksamkeit. Sie spürte den Drang, die Wurzel zu berühren.

Aber als sie es gerade tun wollte, spürte Tyrande, wie Elune sie erfüllte. Die Hohepriesterin versteifte sich, als Mutter Mond ihr Verständnis einhauchte.

Die Wurzel... war irgendwie an Malfurion gebunden.

Seine Worte fielen ihr wieder ein. Sein Flehen, sie möge ihn zurücklassen. Doch trotz des Ernstes in seiner Stimme war die Hohepriesterin nicht bereit, aufzugeben. Wenn Malfurion einen Fehler hatte, dann den, dass er glaubte, nur er allein könne die Last der Welt schultern und nur er allein dürfe das auch riskieren. Wahrscheinlich hatte sein Verhalten damit zu tun, dass er im Krieg der Ahnen miterleben musste, wie so viele Leben brutal vernichtet worden waren. Leben, von denen er vermutlich annahm, dass er sie hätte retten können.

Sie hatte die Gleve nicht mehr, doch das war egal. Die Nachtelfe machte sich auf den Weg.

Die Burg war nirgendwo zu erkennen. Die Hohepriesterin sah nur den verderbten Nebel und die kaum sichtbaren Umrisse, die knapp hinter seiner Grenze lauerten.

Sie dachte kurz über Malfurions Warnung nach. Werde ich geführt? Hat er recht?

Doch selbst wenn das stimmen mochte, schenkte ihr schon das bloße Wissen, sich dessen bewusst zu sein, einen Vorteil. Malfurion hatte einiges riskiert und alle Vorsicht fahren lassen, um sie zu warnen. Dabei hatte er darauf geachtet, dass sein Entführer – dieser Albtraumlord – es nicht bemerkte.

Tyrande schüttelte schließlich ihre Besorgnis ab. Alles, was zählte, war, dass sie Malfurion fand.

Die Landschaft änderte sich nicht. Das Licht, das Tyrande beschworen hatte, hielt das Ungeziefer auf Abstand, und auch, was sie sonst noch belauern mochte, wurde dadurch ferngehalten. Zufrieden suchte die Hohepriesterin weiterhin nach Spuren ihres Geliebten. Er war in der Nähe, die Wurzel bewies es.

Sie musste über seine Durchtriebenheit lächeln. Selbst in Gefangenschaft war es ihm in der Traumgestalt geglückt, eine Pflanze für seine Zwecke einzuspannen – einen Baum.

Die Wurzel! Tyrande untersuchte den Winkel, in dem sie wuchs. Daraus leitete sie die Richtung ab.

Nachdem sie sich versichert hatte, dass sie richtig lag, blickte die Hohepriesterin in den Nebel. Und in dem abscheulichen Dunst erspähte sie einen Baum. Obwohl es auch jeder andere der zehntausend Bäume hätte sein können, wusste Tyrande doch, dass sie den richtigen gefunden hatte. Den Baum, der sie zu Malfurion führen würde.

Es war kaum mehr als ein weiterer Schatten, aber was für einer. Er ragte immer höher über ihr auf, obwohl er noch ein gutes Stück entfernt war. Er hatte keine Blätter, die sie erkennen konnte, nur tückisch wirkende Äste, die an eine riesige Knochenhand erinnerten.

Der Schatten waberte. Tyrande konnte den Baum selbst nicht mehr erkennen, doch er musste irgendwo in der Nähe stehen. Trotz seines schrecklichen Aussehens wurde die Nachtelfe von seiner bloßen Existenz ermutigt. Es musste der Ausgangspunkt jener Wurzel sein, die Malfurion benutzt hatte.

Etwas bewegte sich von rechts auf sie zu.

Tyrande wirbelte herum.

Ein kräftiger Schlag traf sie, dann krachte ein muskulöser Körper mit solcher Wucht in die Nachtelfe, dass Tyrande weit zurückgeschleudert wurde. Sie landete rücklings auf dem Ungeziefer und zerquetschte mehrere der kleinen Krabbler. Der Rest stob auseinander, als sich das Licht von Mutter Mond ausbreitete.

Die Hohepriesterin erhob sich – aber nur, um zu erkennen, dass die tödliche Klinge einer Axt gegen ihre Kehle gepresst wurde. Eine Axt, die sie noch nach mehr als zehntausend Jahren erkannte.

„Nachtelfe!“, knurrte das Orcweib, das das Geschenk in Händen hielt, das Brox von Cenarius erhalten hatte. „Du bist seine Gefährtin...“

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Dass die Orcfrau sie nicht augenblicklich getötet hatte, obwohl sie wusste, dass sie Malfurions Partnerin war, ermutigte Tyrande in gleichem Maße, wie es sie verwirrte. Gab es eine Chance, der anderen Frau ins Gewissen zu reden?

„Ich heiße Tyrande...“

Die Axt kam näher. „Namen interessieren mich nicht! Du kennst ihn! Er kennt dich! Er wird zu dir kommen...“

„Malfurion ist nicht Euer Feind...“

„Er ist unser aller Feind! Er wird Azeroth vernichten!“ Die Augen der Orcfrau sprühten vor Hass auf den Druiden. „Und das Blut meiner Familie klebt an seinen Händen. Broxigar wird gerächt werden. Ich, Thura, werde mir den Kopf dieses Feiglings holen – und vielleicht auch deinen!“

Trotz der Gefahr konnte die Hohepriesterin diese Anschuldigung nicht hinnehmen. „Malfurion ist keine Gefahr für Azeroth. Er ist sein Beschützer.“ Tyrandes Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Und Brox war unser Freund! Er starb, als er uns rettete. Wir ehren sein Andenken.“

Ihre Entführerin knurrte wild. Doch plötzlich zog sie die Axt zurück.

Der Gesichtsausdruck der Orcfrau war undeutbar. Offensichtlich war nur, dass Thura nicht viel geschlafen hatte – und dieser Mangel an Erholung nun seinen Tribut forderte.

Möglicherweise, dachte Tyrande, erkannte Thura auch, dass sie zu ihrer Blutrache verleitet worden war.

Aber wieder richtete die Orcfrau ihre Axt gegen Tyrande. „Aufstehen!“

Die Nachtelfe gehorchte. Stehend hatte sie größere Chancen gegen Thura. Doch Tyrande hatte nicht nur Respekt vor den Fähigkeiten der Kriegerin, sondern betrachtete die Orcfrau auch als Wesen, das sich unschuldig in den Machenschaften des Albtraumlords verstrickt hatte.

„Ich dachte, ich hätte ihn“, murmelte Thura, sie sprach halb zu sich selbst. „Habe ihn gesehen und kam nah an den Ort heran, wo er sein sollte... doch er war nicht da...“ Sie blickte Tyrande an. „Druidentricks! Die Tricks deines Gefährten!“ Die muskulöse Orcfrau schwenkte die Axt. „Du bringst mich zu ihm!“

Tyrande blieb stehen. „Um Malfurion zu töten? Nein.“

„Dann töte ich dich!“

„Hätte Brox das getan?“, konterte die Hohepriesterin. „Hätte er jemanden getötet, weil der sich weigert, gegen ihn zu kämpfen?“

Thura blickte sie an, dann wiederholte sie ihre Forderung. „Bring mich zu ihm! Sofort!“

„Das werde ich nicht...“

Sie unterbrach sich, als die Orcfrau plötzlich zur Seite blickte. Tyrande hörte nichts, doch sie vertraute den Instinkten der erfahrenen Jägerin.

Die Orcfrau knurrte erneut. Thura blickte sich um, dann grinste sie, als sie etwas sah. „Der Baum! Der Baum ist wieder erschienen!“

Dem Blick der Orcfrau folgend sah Tyrande, dass der große Schatten zurückgekehrt war. Den Baum selbst konnte sie immer noch nicht erkennen. Doch sie wusste, dass er sich in der Nähe befinden musste.

„Er wird dort sein“, murmelte Thura fröhlich zu sich selbst. „Die Vision verheißt es so...“

Die Hohepriesterin konnte auf keine weiteren Gelegenheiten mehr warten. Als Thuras Aufmerksamkeit abgelenkt war, griff sie an.

Tyrande durfte sich nicht auf Elunes Magie verlassen. Denn das Licht hätte ihre Gegnerin zu früh gewarnt. Sie musste ihre eigenen Nahkampfkünste einsetzen.

Ihre ausgestreckten Finger schossen auf den verwundbaren Hals der Orcfrau zu.

Thura wirbelte zurück. Das stumpfe Ende des Axtstiels sauste schneller auf die Schläfe der Hohepriesterin zu, als Tyrande ausweichen konnte. Sie hatte nur einen Augenblick, um zu erkennen, dass sie ausmanövriert worden war. Dann traf der Stiel sie auch schon.

Doch die über Jahrhunderte im Kampf geschulten Reflexe der Nachtelfe sorgten dafür, dass der Stiel sie nur streifte. Als Thura erneut mit der Axt ausholte, duckte sich Tyrande unter dem Schlag weg und trat zu.

Ihr meisterhaft ausgeführter Tritt traf die Orcfrau unterhalb des Knies. Thura knickte ein und fiel zur Seite. Sie ließ die Waffe fallen. Die Hohepriesterin griff danach.

Tyrande..., rief eine Stimme in ihrem Kopf.

„Malfurion?“ Sie war sich nicht sicher, doch er schien es tatsächlich zu sein. „Malfurion...“

Derart abgelenkt entging ihr Thuras nächster Angriff. Die schwere Faust der Orcfrau traf sie an der Kehle.

Keuchend stürzte sie zu Boden. Verzweifelt nach Luft schnappend wurde Tyrande bewusst, dass Thura sie nun töten würde... und alles nur wegen dieser Stimme.

Die Hohepriesterin kämpfte, rechtzeitig wieder zu Atem zu kommen.

Der todbringende Treffer ließ weiter auf sich warten.

Als Tyrande wieder durchatmen konnte, blickte sie auf.

Thura war fort.

Tyrande kämpfte sich auf die Beine. Sie sah den großen Schatten und wusste, wo die Orcfrau hin war. Es erstaunte sie immer noch, dass Thura nicht versucht hatte, sie zu töten. Die Nachtelfe nahm die Verfolgung auf.

Doch wo der Nebel in der Vergangenheit so bereitwillig dem Licht von Mutter Mond gewichen war, war jetzt sein Ziel, die Nachtelfe aufzuhalten. Tyrande konzentrierte sich und versuchte, sich zu beruhigen. Dabei wurde das silberne Licht stärker, und der Nebel zog sich ein wenig zurück.

Tyrande wusste, dass sie damit zufrieden sein musste und stürmte vorwärts. Sie konzentrierte sich auf den großen Schatten. Er ragte immer höher auf, dennoch konnte sie den Baum, der ihn warf, nicht erkennen.

Aber sie entdeckte etwas anderes. Einen weiteren kleineren Baum. Tyrande verlangsamte bei dem Anblick ihre Schritte. Als Nachtelfe war sie angesichts der verdrehten Gestalt bis ins Mark erschüttert. Sie fühlte sich ob seiner erlittenen Folter gleichzeitig abgestoßen und traurig.

Von Thura gab es kein Zeichen. Tyrande befürchtete, dass sie dem falschen Pfad gefolgt war. Doch als sie sich nach links wandte, lenkte Irgendetwas ihren Blick erneut auf den schrecklichen Baum. Doch der zerstörte sie nicht so sehr wie der Schatten, der darüber aufragte. Der Schatten, der immer noch nicht seinen Ursprung preisgab.

Jemand flüsterte. Tyrande drehte sich um und versuchte herauszubekommen, woher das Geräusch stammte. Dann hörte sie ein zweites aus der entgegengesetzten Richtung. Ein drittes erreichte ihr Ohr, noch bevor die Nachtelfe sich umdrehen konnte.

Der Nebel war plötzlich mit Flüstern erfüllt. Doch es war nicht irgendein Flüstern. Obwohl Tyrande nicht verstehen konnte, was die Stimmen sagten, schienen sie doch zu flehen. Sie brauchten Hilfe. Sie bettelten um Hilfe.

Und trotz der düsteren Falschheit des Nebels wusste die Hohepriesterin, dass das Flehen echt war.

Von Mitleid getrieben wandte sich Tyrande wieder dem gefolterten Baum zu. Sie streckte ihre Hand zu einem der düsteren Schemen aus. Zum ersten Mal kam eins der Wesen auf sie zu, statt zu fliehen.

Etwas zog sie plötzlich am Bein. Sie glaubte, in eine Falle gelaufen zu sein und erhöhte deshalb augenblicklich die Helligkeit ihres Zaubers. Dann bildete sie einen Speer aus reinem Licht. Dieser Zauber war anstrengend, doch ohne die Waffe würde sie keine Chance haben.

Sie führte den Speer gegen den Gegner, der sie am Fuß festhielt. Das Licht durchdrang ihn, als bestünde es aus echtem Stahl.

Was sie zuerst für einen Tentakel gehalten hatte, ließ augenblicklich los. Von ihrem leuchtenden Speer festgehalten wand es sich vor Schmerzen.

Erst da erkannte Tyrande, dass es kein Tentakel war, sondern eine Wurzel.

Als ihr das klar wurde, traf sie das Ausmaß ihrer Tat mit voller Wucht. Die Hohepriesterin ließ augenblicklich den Speer aus Licht verschwinden. Dann kniete sie sich hin, um die Wurzel zu heilen. Sie war keine Druidin, aber sie glaubte fest daran, dass Elune den kleinen Schaden, den ihre Hohepriesterin versehentlich verursacht hatte, beheben würde.

Als sie die Wurzel erneut berührte, spürte Tyrande abermals Malfurions Gegenwart. Sie war so stark, dass die Nachtelfe fast glaubte, er sei tatsächlich dort.

Ihre Augen weiteten sich.

Sie blickte den gepeinigten Baum an und erbleichte. „Malfurion...“


Das Flüstern drohte, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Zumindest hatte Broll diesen Eindruck, als er in der Gestalt einer Raubkatze durch das feuchte Land hetzte. Dummerweise funktionierte sein Gehör in Katzengestalt auch noch besser, was das Flüstern nur verstärkte.

Dafür war ihm sein verbesserter Geruchssinn von Nutzen. Er hatte Tyrande gewittert, und es war keine vom Albtraumlord geschaffene Illusion. Er war ihr tatsächlich nah.

Seine Pranken waren mit einem widerwärtigen Schlamm überzogen, der aus den Innereien des Ungeziefers bestand. Doch selbst das säureartige Brennen konnte den Druiden nicht aufhalten. Mit jedem Schritt zertrat er mehr der widerlichen Kreaturen. Broll tat es nur leid, dass sich hinter ihm gleich wieder neue Insekten aus den zerquetschten Überresten der alten bildeten.

Der Nebel drohte immer noch, ihn zu verschlingen. Aber mit einem beiläufigen Prankenhieb und etwas magischem violetten Feuer hielt sich die Katze sowohl den Nebel als auch alles, was darin lauerte, auf sicherer Distanz.

Plötzlich erschütterte ein starkes Beben Broll und seine Umgebung. Trotz seiner blitzschnellen Reflexe wurde die große Katze herumgeschleudert. Mit Mühe landete Broll wieder auf den Beinen, dann grub er die Krallen in den Boden.

Ein großer Schatten schoss von oben herab. Dem ersten folgte ein zweiter, dann kamen noch einer und noch einer.

Und selbst durch den dichten Nebel konnte der Druide erkennen, dass es sich um Drachen handelte. Drachen von smaragdgrüner Farbe.

Yseras Untertanen verteidigten den Traum noch immer. Der Druide zählte mindestens zehn der riesigen Echsen und betete, dass es noch mehr waren.

Doch als sie Broll passierten, löste sich plötzlich einer aus der Gruppe. Er stieß zu dem Druiden herab, der den Drachen als Weibchen identifizierte.

„Was machst du hier allein, Nachtelf... und in deiner sterblichen Gestalt?“

Er kannte den Drachen nicht, was aber nicht überraschend war. Broll verwandelte sich zurück und berichtete kurz

Der Drache keuchte vor Überraschung. „Eranikus ist wieder im Traum unterwegs! Das...“ Die Echse blickte in die Richtung, wohin ihre Artgenossen verschwunden waren, als würde sie etwas hören. Ihre Augen weiteten sich. Sie knurrte, dann sagte sie: „Nachtelf, klettere auf mich! Ich nehme dich mit mir!“

„Meine Freunde...“

„Klettere auf mich! Ich erkläre es dir, wenn wir in der Luft sind!“

Der Drache behauptete mit keinem Wort, dass es in der Luft momentan sicherer sei, und Broll war klar, dass das auch gar nicht stimmte. Denn wenn überall Korrumpierte wie Lethon lauerten und der Albtraum über Fähigkeiten verfügte, die ihm immer noch ein Rätsel waren, war es gut möglich, dass es derzeit am Himmel noch weit unsicherer zuging als am Boden.

Aber mit dem Drachen als Reittier fühlte sich der Nachtelf zumindest ein wenig sicherer.

Als der Drache aufstieg, sah Broll, dass die Fäulnis des Albtraums sich bereits weit über die bekannte Fläche hinaus ausdehnte. Weit und breit waren nur vom Nebel bedeckte Hügel zu sehen.

Nein, da war noch etwas anderes. Praktisch überall – selbst weiter oben – zuckten Blitze aus magischer Energie, die wie ein fantastischer Sturm wirkten. Wieder bebte die Erde. Die Erschütterung war so stark, dass selbst der grüne Drache einen Augenblick lang in der Luft schwankte.

„Was geschieht da?“, rief Broll.

Der Drache wandte den Kopf und blickte ihm tief in die Augen. „Hast du seinen Ruf nicht gehört? Du gehörst doch zu seinem Volk und suchst ihn doch gerade. Hör nur!“

„Seinen...“ Doch gerade als er zu sprechen begann, hörte der Druide den Ruf tatsächlich. Broll hätte allerdings nie damit gerechnet, ausgerechnet ihn hier zu hören.

Insgeheim hatte er jedoch darauf gehofft.

Es war Malfurions Ruf.

Er wurde nicht aus Worten gebildet, und dennoch rief der Erzdruide allen Kämpfern gegen den Albtraum zu, vorsichtig zu sein. Schon bald würde etwas geschehen, etwas Wichtiges.

Es war eindeutig eine Warnung an sie. Malfurion wollte nicht, dass jemand verletzt wurde oder gar starb. Der Erzdruide – wo immer er auch stecken mochte – wusste offensichtlich, dass diese Gefahr nicht nur in seinem Gefängnis lauerte. Sie bedrohte auch alles andere.

„Aber wie kann das sein?“, fragte der Nachtelf. „Und was sollen wir denn dann tun?“

„Erkennst du es denn nicht?“, rief der grüne Drache und schlug fester mit den Flügeln. „Kannst du die Falschheit nicht spüren? Sieh nach vorn... und blicke hinein!“

Broll gehorchte... und im Nebel vor ihm, kaum erkennbar, bildete sich ein Schatten. Der Schatten eines Baumes. Ein derart verderbter Baum, wie ihn die Natur nie hätte hervorbringen können.

„Mein Shan’do ist dort unten“, knurrte der Nachtelf.

„Und der Grund für den Albtraum“, fügte der Drache hinzu.

Von ihrem Standpunkt aus gesehen war der Albtraum eine riesige grau-grüne Masse, die pulsierte, als würde sie leben. Einige Gestalten bewegten sich darin, beunruhigende Gestalten, die man nicht genau erkennen konnte. Dennoch wirkten sie wie etwas, das Broll hätte erkennen müssen. Er fragte sich, warum sie sich versteckten und was geschehen würde, wenn sie sich irgendwann zeigten. Der Druide erschauderte.

Der Albtraum war mit mächtigen Blitzen von Magie erfüllt, die nicht smaragdgrün leuchteten, sondern von einem unreinen Grün waren, vermischt mit einem blutigen Purpurrot und anderen Farben. Broll konnte spüren, dass die smaragdgrünen Blitze von den Verteidigern kamen... die anderen, das konnte er nur vermuten, stammten aus einer düsteren Quelle.

Broll erkannte, dass erstaunliche Kräfte am Werk waren und wusste, dass alles, was er sah, nur ein Abglanz jenes mächtigen Zaubers war, der hier wirkte. Doch trotz aller Bemühungen wollte der Albtraum offensichtlich nicht weichen. An manchen Stellen, wie der, auf die sie zuflogen, wirkte er sogar noch dunkler.

Alles ist so dunkel... und dennoch wirkt der Schattenwurf deutlicher denn je..., dachte der Nachtelf.

Aber wo befand sich der Baum, der dafür verantwortlich war?

„Das ist eine Frage von großer Bedeutung“, antwortete der Drache, als hätte Broll seinen Gedanken laut ausgesprochen. In besorgterem Tonfall fügte er hinzu: „Wäre Ysera hier, könnte sie uns vielleicht einiges erzählen...“

Der Druide zuckte zusammen, als plötzlich etwas anderes offensichtlich wurde. Das Flüstern war nun selbst hier in der Luft zu vernehmen. Es klang wild und verlangend.

„Etwas stimmt nicht! Wir sollten besser...“

Doch der Drache hatte die Gefahr auch gespürt. Er leitete ein Manöver ein, um der bislang unbekannten Gefahr auszuweichen.

Was bislang reines Flüstern gewesen war, entwickelte sich nun zu Schreien. Es waren so viele, und sie waren so laut, dass Broll sich die Ohren zuhalten musste. Dennoch konnte er immer noch nicht verstehen, was sie sagten. Der Druide zitterte unkontrolliert, und selbst der Drache war während des Fluges angespannt.

Ein großer schwarzer Abgrund öffnete sich vor ihnen.

Der Druide blinzelte. Nein, es war kein Abgrund.

Es war ein riesiges, schreckliches Maul.

Und aus dessen Tiefe stiegen die Schreie auf, die noch kräftiger klangen als zuvor. Obwohl er die Worte nicht verstehen konnte, spürte der Druide die Furcht, die vom Albtraumlord auch als Waffe gegen Broll und den Drachen benutzt wurde.

Der Druide bemerkte, dass der grüne Drache nicht mehr versuchte, sich vorwärtszubewegen. Er schlug fest mit den Flügeln, um zu fliehen. Aber trotz aller Anstrengung bewegten sie sich immer noch auf den fürchterlichen Schlund zu.

„Es... es ist die Macht ihrer Angst – die Angst der schreienden Stimmen – die uns anzieht!“, brüllte der Drache. „Was für eine Kraft!

Es ist, als ob ich gegen Tausende gleichzeitig kämpfen würde. Es ist zu stark. Ich kann nicht fliehen, nur versuchen, so weit wie möglich davon entfernt zu bleiben!“

„Wie wäre es mit einem Zauber?“

„Wenn ich mich darauf konzentriere – sind wir im Schlund verschwunden, bevor ich... ich ihn beenden kann!“

Broll hatte allerdings gar nicht gemeint, dass der Drache einen Zauber wirken sollte. Es war offensichtlich, dass die Flugechse trotz ihrer enormen Fähigkeiten ihre ganze Konzentration brauchte, um sich dem Sog entgegenzustemmen. Genau das war die Absicht hinter diesem Angriff gewesen, erkannte Broll.

Doch dann kam ihm eine Idee, und zwar so plötzlich, dass Broll sich selbst darüber wunderte. Er wusste nicht, ob sie funktionierte, aber er würde es ausprobieren.

Und während seine Begleiterin gegen die physische Wut des kreischenden Schlunds ankämpfte, kanalisierte der Druide seinen ungewöhnlichen Zauber. Eigentlich war es ein Heilzauber, ein Zauber der Stille.

Er konzentrierte sich und versuchte, sich daran zu erinnern, was sein Shan’do ihm beigebracht hatte. Dabei konnte Broll Malfurions Stimme beinahe hören.

Das Geheimnis des Zaubers der Stille ist, den friedvollsten und fürsorglichsten Teil der Natur Azeroths einzusetzen... die Natur des Smaragdgrünen Traums...

Sie waren jetzt beinahe bei dem dunklen Maul angekommen. Broll spürte, dass sie gerade nah genug heran waren, um seinem Plan Aussicht auf Erfolg zu geben. Gleichzeitig durften sie nicht mehr länger warten, sonst würden sie verschlungen werden. Der Druide verinnerlichte sich den Teil des Traums, der noch rein geblieben war.

Er wirkte den Zauber.

Der Spruch war eigentlich nur schwach, verglichen mit der Macht des Bösen und seiner Furcht. Broll glaubte nicht im Entferntesten daran, den düsteren Schlund vernichten zu können.

Er wollte dem Drachen nur eine Chance zur Flucht verschaffen.

„Haltet Euch bereit!“, ermahnte der Druide ihn.

Alles hing davon ab, ob Brolls Annahmen über die Schreie richtig waren. Dabei wies vieles darauf hin, dass der Albtraum einen Großteil seiner Stärke aus den wachsenden Legionen von Unschuldigen zog, die ihm zum Opfer fielen, wenn die Erschöpfung sie schließlich übermannte. Der Albtraum benutzte die dunkelsten Gefühle, um seine furchterregenden Visionen zu erschaffen. Und diese Furcht war das, was Broll und den Drachen gerade angriff.

Der Zauber berührte einen der kaum erkennbaren Schemen – gefolterte Sklaven des Albtraums.

Für einen kurzen Augenblick – einen winzigen Augenblick nur -schwand die Kontrolle ein wenig, die der Albtraum über die schreienden Stimmen hatte.

Der Drache brüllte laut, als er sich selbst von dem Abgrund fortkatapultierte. Broll hielt sich an seinem dicken Hals fest und bemühte sich gleichzeitig, nicht hinunterzufallen. Der smaragdgrüne Riese schlug immer wieder mit den Flügeln, bis das dunkle Maul nur noch ein kleiner Punkt am Horizont war.

Doch so schnell der Zauber gewirkt hatte, so schnell hörte er auch wieder auf. Der schreckliche Schlund wurde wieder größer und zog sie erneut an.

Da erschien eine riesige smaragdgrüne Gestalt zwischen den beiden und dem Albtraum. Sie breitete ihre Flügel aus. Ein wundersames Leuchten ging von ihnen aus. Es erinnerte den Druiden daran, wie dieses Reich einst – vor dem Angriff des Albtraums – gewesen war.

Hinfort mit dir!, rief die Gestalt dem Albtraum entgegen. Hinfort!

Hinter dem riesigen Drachen erschienen weitere Mitglieder der grünen Sippe. Doch so mächtig sie auch gemeinsam wirken mochten, verblassten sie doch vor der unglaublichen Kraft des riesigen Drachen.

Der Abgrund wich ein wenig zurück. Die Schreie verklangen. Obwohl sie nicht besiegt waren, war das Gekreische nun auf ein erträgliches Maß gedämpft.

Ysera, die Herrin des Smaragdgrünen Traums, hatte Malfurions Ruf erhört und war erschienen.

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