22 Die Verderbten

Die Opfer von Sturmwind kamen immer näher. Lucan, Thura und der Major waren umzingelt von den verwahrlosten, schlafwandelnden Gestalten. Jede schrie irgendetwas über eine schreckliche Tat, für die irgendwie die drei verantwortlich sein sollten. Und sie alle bewegten sich trotz geschlossener Augen zielstrebig auf die drei Verteidiger zu.

„Was sollen wir tun?“, fragte Lucan.

„Wir bekämpfen sie!“, knurrte die Orcfrau mit der Axt in der Hand. „Wir bekämpfen sie, oder sie zerfetzen uns, du Narr!“

„Das sind Unschuldige!“, konterte Major Mattingly mahnend. „Würdest du sie auch töten, wenn sie von deinem Volk stammten?“

„Ja... weil es getan werden muss.“

Mattinglys Blick zeigte deutlich, dass er ihre Logik verstand. Dennoch schüttelte er den Kopf.

„Fuchsblut! Nehmt sie mit und seht nach, was mit den Nachtelfen geschehen ist“, befahl Mattingly schließlich.

„Aber dann seid Ihr hier nur noch ganz allein...“

Die beiden Menschen blickten einander einen Moment lang an. Lucan verstand schließlich. Mattingly wollte die unschuldigen Schlafwandler vor Thura bewahren, die sicherlich einen schrecklichen Blutzoll einfordern würde, bevor die Schlafwandler sie schließlich überwältigten. Der Major hoffte zudem offensichtlich auf ein Wunder von Tyrande und Broll.

„Komm!“, befahl der Kartograf der Orcfrau, genauso überrascht über den Befehlston in seiner Stimme wie sie. Thura folgte zögerlich, während der Major mit seinem Schwert über die kleiner werdende Lücke zwischen sich und den schlafwandelnden Einwohnern strich.

Doch kaum hatten sie das Gebäude betreten, als eine stämmige Gestalt Lucan mit seiner Axt angriff.

„Das ist mein Hof!“, rief der Mann. „Ihr werdet ihn nicht abbrennen!“

Die Axt wäre tief in Lucans Brust eingedrungen, hätte Thura nicht eingegriffen. Sie blockte den Schlag mit dem Schaft ihrer Waffe ab. Der Schlafwandler wandte sich ihr zu, seine geschlossenen Augen wirkten unheimlich. Die Wut auf seinem Gesicht war überwältigend.

Er hieb nach der Orckriegerin. Sie parierte den Angriff und schlug dann zurück.

„Nein!“, rief Lucan, doch sie war nicht mehr aufzuhalten.

Ihre magische Axt zog eine rote Linie über die Brust des Mannes, der die eigene Waffe fallen ließ und dann zu Boden stürzte.

Der Kartograf war wütend. „Er konnte nichts dafür!“

Thura wirkte nicht unglücklich über ihre Tat, doch sie fragte: „Was hättest du denn gemacht?“

Darauf wusste Lucan keine Antwort. Von oben erklangen Kampfgeräusche und weitere Schreie. Sie liefen hoch.

Dort trafen sie auf Tyrande, die mit einer wilden Kreatur kämpfte. Das konnte nur die Botschafterin der Nachtelfen sein. Lucan eilte der Priesterin zu Hilfe und wurde von einer Schattenkreatur angegriffen.

„Geh zu ihr“, brüllte Thura. Sie rannte an Lucan vorbei. Obwohl ihre Axt nicht an den Schatten heranreichte, wich er doch zurück.

Der Weg war frei, und der Kartograf gelangte zu Tyrande. Er packte die schreiende Gestalt am Arm, wodurch Tyrande sich besser konzentrieren konnte.

Die Hohepriesterin berührte die Schlafwandlerin an der Brust. Ein schwacher silberner Schein bedeckte die Haut.

Die Schlafwandlerin keuchte und fiel der Hohepriesterin in die Arme. Lucan und Tyrande legten sie sanft ab.

In dem Augenblick stieß die Orcfrau zu. Ihre Axt schnitt durch den Schatten, der zischte... und dann verschwand er.

Während es drinnen einen Moment der Ruhe gab, wurde es draußen immer hektischer. Die Schreie wurden lauter, schrecklicher. Einer erhob sich kurz über den Rest, bevor er abrupt abriss.

„Das war der Major!“, keuchte Lucan. Er versuchte zu einem Fenster zu gehen, doch Tyrande hielt ihn zurück.

„Es ist zu spät für ihn.“ Die Hohepriesterin blickte Lucan in die Augen. „Zu spät für so viele. Doch es gibt immer noch Hoffnung für Azeroth und Hoffnung für uns... wenn Ihr uns von hier fortbringt.“

Er nickte. „Ich kann nicht versprechen, dass wir nicht wieder bei diesem grünen Drachen enden...“

„Eranikus ist unser geringstes Problem – eigentlich ist Eranikus für niemanden ein Problem, außer für sich selbst.“

Lucan konzentrierte sich. Tyrande streckte die Hand nach Thura aus, die sie annahm.

Die Welt wurde plötzlich smaragdgrün.

Und dann noch dunkler. Von Wahnsinn kündende Schreie malträtierten ihre Ohren, und die Landschaft war mit dem vertrauten, abscheulichen Nebel bedeckt, in dem groteske Gestalten herumirrten. Schwindelgefühle überkamen sie, gesteigert von einer wachsenden Furcht und Orientierungslosigkeit, die alles andere als natürlich war.

Sie waren wieder im Albtraum.

„Nein...“, murmelte Lucan. „Lass mich...“

Der Schatten eines riesigen, skelettartigen Baumes erstreckte sich über sie, seine Silhouette war trotz der Dunkelheit gut zu erkennen.

Seid willkommen..., erklang die schreckliche Stimme in ihren Köpfen. Und ein besonderes Willkommen an dich, Tyrande Wisperwind...

Die Hohepriesterin wurde totenbleich. Selbst die Orcfrau erschauderte unter dem Tonfall des Baumes.

„Nein...“ Tyrande schüttelte den Kopf. „Nein...“

Ja... o ja..., antwortete die Stimme.


„Denkt nach, Fandral, denkt nach!“, rief Malfurion. „Ist wirklich alles so, wie Ihr es haben wolltet? Habt Ihr Teldrassil erschaffen, um Euer Volk zu vernichten?“

„Ich zerstöre uns nicht, ich rette uns vor Euch und all denen, die unsere Welt verraten haben!“ Als er sprach, neigte Fandral seinen Kopf dem Schatten zu, den er für seinen Sohn hielt. Der wahnsinnige Erzdruide nickte, dann fügte er, an Malfurion gewandt, hinzu: „Ihr habt Euch gegen Teldrassils Geburt ausgesprochen! Ihr wusstet, dass er unser Volk wieder erstarken lassen, ihm zu dem Ruhm und der Unsterblichkeit verhelfen würde, die uns schon immer zustanden!“

Malfurion wich einer Blume aus, die vor ihm aufblühte. Es war eine schwarze Lilie, und daraus schossen weiße Pollen hervor. Er wusste nicht, was die Pollen anrichten würden, doch jede Pflanze, die vom Albtraum verderbt worden war, stellte eine Gefahr dar.

Die Pollen landeten vor ihm. Der Boden unter Malfurions Füßen brannte und zog sich zusammen.

Ein stechender Schmerz durchfuhr seine linke Hand. Ein einzelnes Korn war auf seinem Daumen gelandet. Und dieses eine Korn reichte aus, dass Malfurion vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen musste. Hätten ihn Tausende getroffen...

Druck baute sich in seiner Brust auf. Malfurion fiel auf die Knie. Der Druck stieg an. Er konnte nicht mehr atmen.

Der Erzdruide überprüfte blitzschnell seinen Körper und suchte nach dem, was ihn angriff. Es war alles bislang viel zu leicht gewesen.

Der Pollen war eine List gewesen, wenngleich eine gefährliche. Zu spät erkannte Malfurion, dass Fandral einen subtileren Druidenangriff gewählt hatte. Während Malfurion der Lilie ausgewichen war, hatte er einige der kleinen Sporen eingeatmet. Sie erfüllten nun seine Lungen.

Doch wie er es auch mit dem Gift gemacht hatte – Gift, dessen Quelle er nun kannte -, zwang Malfurion die Sporen wieder aus seinem Körper heraus. Es war nicht so einfach und nicht etappenweise ausführbar, wie er es in der Gruft gemacht hatte. Diesmal musste er wirklich schnell handeln. Malfurion hustete heftig, schied so die Sporen aus und sandte sie zu ihrem Schöpfer zurück.

Ein kurzer Schwindelanfall überkam ihn, während dem Fandral ihn hätte angreifen können. Doch der musste gleichzeitig die unsichtbaren Sporen abwehren. Fandral vollführte eine Geste, und der Wind blies die Pollen fort.

Doch obwohl Malfurion für den Moment gerettet war, wusste er, dass jede Sekunde, die er gegen Fandral kämpfen musste, nur dem Albtraum in die Hände arbeitete. Fandral war verloren, sein Wahnsinn verzehrte ihn.

Es sei denn...

Mit nach oben geöffneten Handflächen konzentrierte sich Malfurion.

Stille senkte sich über die Enklave. Die Bäume regten sich nicht mehr, und auch die anderen Pflanzen wurden ruhig. Malfurion lächelte grimmig. Die Verderbtheit hatte Teldrassil befallen, doch nicht ganz Teldrassil war von ihr verzehrt worden. Er hatte die letzten noch reinen Überbleibsel angerufen, um den Baum daran zu erinnern, was er in Wirklichkeit war.

Doch kaum einen Atemzug später kehrte der Schrecken zurück. Fandral hielt die Arme ausgestreckt, und die Schatten standen an seiner Seite.

„Ich werde nicht zulassen, dass Ihr mir meinen Sohn wieder nehmt!“, brüllte er.

Malfurion achtete nicht mehr auf Fandrals wirre Worte. Er konzentrierte sich erneut, um die letzten Reste des Guten anzurufen, die noch in Teldrassil steckten. Es war nicht viel, die Verderbtheit war größer. Doch unter seiner Führung hielt das Gute zumindest einen winzigen Moment lang stand.

Und mehr brauchte Malfurion auch nicht.

Mittlerweile wurde jedoch nicht mehr nur die Enklave davon beeinflusse Malfurion strengte sich an, als er seinen Zauber über ganz Darnassus ausdehnte. Von überall dort kamen noch Schreie und Kampfeslärm. Aber stetig wurde der Widerstand geringer, und er spürte, dass sein Plan funktionierte.

Sein Körper und seine innerste Seele schmerzten. Malfurion bekämpfte nicht nur einen Feind, sondern zwei. Irgendwo tief im Weltenbaum steckte ein Teil des Albtraumlords, eine echte physische Präsenz. Er wollte sie suchen, sie bekämpfen. Doch solange war er Fandral wehrlos ausgeliefert.

Er strengte sich weiter an. Malfurion spürte, wie seine Kräfte schwanden. Fandral war zwar nicht stärker als er. Doch Malfurion versuchte gleichzeitig, auch noch die Bürger zu schützen.

Es muss bald geschehen! Sie müssen es verstehen!, dachte er.

Dann spürte er die Gegenwart der anderen Druiden in der Enklave. Und seine Hoffnung und Sorge stiegen gleichermaßen an. Ihre Reaktion würde den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen.

Fandral ließ im Angriff nach, hielt ihn nur aufrecht, um Malfurion weiter zu beschäftigen. Malfurion hatte so etwas vermutet. Er dagegen ließ die Hände sinken und beendete seinen Zauber.

Einen Augenblick lang war Fandral hin- und hergerissen, doch dann stellte auch er seinen Angriff ein. Jetzt war nicht die Zeit, sich als Aggressor zu beweisen. Sie wurden von den anderen Druiden beobachtet.

Die hochrangigen Erzdruiden versammelten sich um sie herum. Die meisten mit vorsichtigem oder unsicherem Blick. Malfurion blickte jeden Einzelnen an, ließ sie in seine Seele blicken. Er hatte nichts zu verbergen, Fandral schon.

So zum Beispiel die Schattengestalt, von der er glaubte, sie wäre Valstann. Der Erzdruide stand mit einem frommen Lächeln im Gesicht vor seinen Brüdern, als hätte er sie hierher gerufen. Doch die Verantwortung lag bei zwei unglaublichen Wesen – eigentlich dreien, erkannte Malfurion plötzlich -, die nun in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückten.

Fandral warf einen Blick hinter sich. Hamuul Runentotem und Shandris Mondfeder waren keine Gefangenen mehr.

Malfurions Angriff hatte gleich mehreren Zwecken gedient. So hatte er den Erzdruiden bekämpft und die Ablenkung durch den Kampf gleichzeitig dazu benutzt, um die düsteren Ranken zu lösen, die die beiden gefesselt hatten.

Malfurion versuchte, Naralex wiederzubeleben, doch der Nachtelf blieb besinnungslos. Bei Hamuul und Shandris hatte er mehr Erfolg gehabt. Er hatte Naralex in Hamuuls Obhut gelassen und sie beide zu dem Portal geschickt. Dabei hatte er gehofft, dass Fandrals Wahnsinn die anderen Nachtelfen davon abhalten würde, mitzubekommen, was gerade geschah.

Malfurion hatte Erfolg gehabt. Doch es war immer noch die Frage, ob die beiden mit Unterstützung zurückgekommen waren – oder mit weiterer Hilfe für Fandral. Das dritte Mitglied der Gruppe schien die letztere Möglichkeit zu bestätigen, denn er knurrte die Druiden an. Malfurion wollte unbedingt wissen, wie Broll Bärenfell hierher gekommen war. Die Antwort auf diese Frage musste aber noch warten.

„Sehr gut!“, verkündete Fandral den Neuankömmlingen. „Die Verräter sind versammelt! Exzellente Arbeit!“

„Sie behaupten aber, dass Ihr der Verräter seid, Meister Fandral“, sagte ein Druide vorsichtig.

Broll ging auf den Sprecher zu. „Und genau das ist er auch! Obwohl es ein Weilchen gedauert hat, bis ich endlich erkannt habe, dass er Euch alle nur dazu benutzt hat, die Befleckung Teldrassils zu fördern, statt den Weltenbaum zu heilen!“ An Malfurion gewandt sagte er: „Als ich die anderen warnen wollte, nahmen mich einige Druiden gefangen! Glücklicherweise erschienen Hamuul und Shandris gerade noch rechtzeitig, um ihnen zumindest ein wenig Vernunft beizubringen...“

„Wir taten, was wir für richtig hielten“, konterte der Druide, der bereits gesprochen hatte. Einige der Druiden schienen zum Kampf mit Broll bereit zu sein. Hamuul Runentotem trat neben den Nachtelfen. Shandris ging auf sie zu, doch dann blickte sie zu Malfurion.

Er nickte ihr zu und sagte zu den versammelten Druiden: „Ihr kennt mich. Die meisten von Euch habe ich selbst ausgebildet. Blickt in Euch selbst und seht, ob ihr meinem Wort immer noch vertraut.“

„Der Albtraum hat ihn verführt!“, unterbrach ihn Fandral. „Ihr wisst, wie lange er verschwunden war. So groß unser Shan’do auch einst gewesen sein mag, so ist er jetzt doch ein Sendbote der Finsternis! Glaubt seinen Worten nicht!“

„Und warum sollten sie E u c h glauben, Fandral?“, erwiderte Broll. „Ihr habt versprochen, dass Teldrassil unser Volk wiederherstellen würde. Doch nun müssen sie nur ihre Sinne einsetzen, um zu erkennen, was daraus geworden ist!“

Malfurion blickte Broll anerkennend an. „Ihr unterschätzt Euch immer noch. Ihr wisst, was in dem Weltenbaum lauert, oder nicht, Broll?“ Er wandte sich an den Tauren. „Und Ihr auch, Hamuul...“

„Ich habe es gespürt, aber ich konnte es nicht glauben, Malfurion Sturmgrimm. Naralex spürte es auch, und gemeinsam trafen wir auf die Generalin, die auch auf der Suche nach der Wahrheit war...“

„Naralex?“ Malfurion schaute sich um. Doch er konnte den Nachtelfen nicht entdecken.

„Er ist immer noch ohnmächtig“, stellte der Tauren grimmig klar. „Er wurde am schwersten verletzt. Ich habe für ihn getan, was ich konnte... aber er braucht noch weitere Hilfe...“

Unter den versammelten Druiden rumorte es. Sie waren bestürzt. Naralex war ein mächtiger Druide, den die meisten mochten. Nun sahen sie Fandral in einem neuen Licht.

Fandral blickte jeden finster an, der sich nun gegen ihn gestellt hatte. „Naralex ist auch ein Verräter. Er ließ mir keine Wahl! Sie alle sind Verräter!“

Seine arroganten Worte nahmen die Menge nur weiter gegen ihn ein. Mehrere der übrig gebliebenen Druiden gingen zu Broll und den anderen, die sich bereits auf Malfurions Seite geschlagen hatten. Malfurion trat vor, entschlossen, die Verantwortung für jede von Fandrals Taten zu übernehmen.

„Wie viele mehr müssen noch leiden und sterben?“, fragte Malfurion. „Ganz Azeroth stirbt, Fandral!“ An die versammelten Druiden gerichtet, erklärte er: „Während er Euch hier festgehalten hat und behauptete, den Weltenbaum zu heilen, wurde der Rest der Welt angegriffen. Blickt in Euch und spürt Azeroths Schmerz...“

Sie taten, was er erbat, und praktisch augenblicklich keuchten mehrere Druiden vor Entsetzen auf.

„Die Mondlichtung!“, stieß einer hervor. „Selbst die Mondlichtung! Doch wo ist Remulos? Er hat sie doch sicherlich nicht verlassen?“

Das war eine gute Frage, deren Beantwortung Malfurion übernahm. Er wusste, dass Fandral weder mächtig noch schlau genug war, um den Hüter der Lichtung zu überwältigen. Doch diese böse Kraft hinter dem wahnsinnigen Nachtelfen war es vielleicht schon. „Nun, Fandral? Wo ist Remulos?“

„Er ist auch ein Verräter! Er bleibt so lange gefangen, bis er die Wahrheit erkennt!“ Der verrückte Erzdruide zeigte auf die versammelten Druiden. „Ihr alle werdet verändert, damit Ihr die Wahrheit erkennt!“

Fandral ließ alle Täuschung fallen und vollführte einige Gesten. Viele der Druiden fassten sich plötzlich an die Brust.

Aus einem entsprang eine lange Ranke, die sich wie eine Schlange vor und zurück wand. Trotz der schrecklichen Wunde packte der Druide sie – nur um zu erkennen, dass ihm weitere grässliche Ranken aus Händen, Armen und dem ganzen Körper wuchsen.

„Ich habe mich auf Euren Verrat vorbereitet“, erklärte Fandral. Seine Augen blinzelten nicht. „Auf die eine oder andere Weise... werdet Ihr alle Teldrassil und seinen Zielen dienen!“

Dem ersten Opfer folgten weitere. Malfurion reagierte augenblicklich und versuchte, das Wachstum von Fandrals böser Saat zu stoppen. Wahrscheinlich hatten die Druiden sie eingeatmet, wie die Sporen, die ihn angegriffen hatten. Fandral war bereit, jeden anderen Druiden für seine Ziele zu opfern.

Aber nicht alle waren von seinem Zauber betroffen. So blieben alle Druiden, die sich Fandral angeschlossen hatten, verschont. Dass sogar einige seiner Brüder bereits verderbt worden waren, machte Malfurion traurig.

Aber er hatte keine Zeit sich zu fragen, warum jemand einen solchen Weg einschlug. Er musste die Betroffenen retten.

Doch weder Fandral noch der Albtraumlord gaben ihm diese Zeit. Die Befleckung in Teldrassil schritt weiter voran. Darnassus wurde erneut angegriffen, als weitere Schattenkreaturen aus den schwarzen Blättern des Weltenbaums wuchsen.

Malfurion musste sich um Fandral und seinen Herrn kümmern. Das bedeutete jedoch, seine Brüder zu opfern. Der erste Druide war bereits verloren. Was von seinem Körper übrig war, wurde von dem explosionsartigen Wachstum der parasitären Ranken verzehrt.

Aber es gab eine Hoffnung, eine die stark genug war – wenn er denn daran glaubte. „Broll! Seht mich an! Begreift, was getan werden muss!“

„Es bedeutet nichts!“, rief Broll verbittert zurück und wies auf sein großes Geweih. „Ich bin nicht wie Ihr, Shan’do!“

„Doch, seid Ihr!“, widersprach Malfurion, die Anstrengung in seiner Stimme wurde hörbarer. „Spürt Eure Verbindung zu Azeroth! Ihr könnt das Böse aufhalten! Oder wollt Ihr zusehen, wie alle einen schrecklichen Tod erleiden?“

Es war eine brutale Frage, und Malfurion hasste sich dafür, sie stellen zu müssen. Doch er konnte nicht länger warten. Der Rest des Nachtelfenvolkes – der Rest von Azeroth – hatte kaum noch mehr Zeit als die Druiden.

Malfurion konzentrierte sich auf Fandral. Als er seinen Rivalen ansah, erblickte er die Schattengestalt hinter ihm, die gleichzeitig auch Teil des wahnsinnigen Erzdruiden war. Sie leitete Fandrals Gedanken für ihren wahren Herrn.

Malfurion erkannte, was er zu tun hatte, auch wenn er dafür viel riskieren musste.

Er stürzte sich auf Fandral und nahm die Raubkatzengestalt an. Fandral reagierte wie erwartet. Er holte eine Handvoll der kleinen Dornen aus einem Beutel und warf sie auf die riesige Katze.

Malfurion wich zurück und wirkte einen weiteren Zauber. Für die meisten Druiden, selbst wenn sie über Fandrals Fähigkeiten verfügt hätten, wären die Aussichten auf Erfolg gering gewesen. Doch Malfurion war der Erste gewesen, der vom Halbgott Cenarius ausgebildet worden war. Er hatte sein Handwerk im Ersten Krieg gegen die Brennende Legion gelernt und seine Fähigkeiten über die letzten zehntausend Jahre noch verbessert.

Der Hurrikan erfasste die Dornen und trieb sie zu Fandral zurück, der einen eigenen Zauber wirkte. Die Ranken, die zuvor Hamuul und Shandris gefesselt hatten, feuerten Hunderte Tröpfchen eines klebrigen Safts auf die Dornen ab und versiegelten so die tödlichen Geschosse.

„Kaum der Aufmerksamkeit wert...“, sagte Fandral.

Die Schattenkreatur hinter Fandral wurde von einem Feuer getroffen, das wie die Sterne leuchtete. Das war Malfurions eigentlicher Angriff gewesen.

Die düstere Gestalt wand sich, als die Flammen sie verzehrten. Sie zischte und heulte. Teile des brennenden Schattens stoben in den Wind.

„Valstann!“ Fandral griff verzweifelt nach dem Schatten. Vergeblich versuchte er, das Feuer zu ersticken. Er wurde nur selbst darin gefangen. Doch auch dann achtete der Erzdruide keinen Moment auf den Schmerz, sondern berührte den Feind, den er für seinen Sohn hielt.

Dann wurde Fandral herumgewirbelt. Bevor er reagieren konnte, schlug Malfurion ihm ins Gesicht. Es war der schwächste Angriff, den er gegen den Erzdruiden führen konnte. Malfurion hatte gute Gründe dafür.

Fandral taumelte zurück.

Von der Schattenkreatur war nicht mehr viel übrig geblieben. Wie Fandral vor ihm griff Malfurion nach den Überresten. Das Feuer verbrannte selbst ihn, doch er wusste, wie man den Schmerz milderte. Es war lebenswichtig, dass er Kontakt mit dem Schatten aufnahm.

Deshalb hatte Malfurion versucht, den Angriff abzuschwächen. Aber dennoch war es fast zu spät für eine Kontaktaufnahme.

Er stieß seine Hand direkt in den Schatten. Augenblicklich erschauderte seine Seele. Malfurion straffte sich und drang mit seinem Geist immer tiefer in den Schatten ein.

Was er spürte, erklärte seine Angst, die stetig in ihm gewachsen war, seit er das erste Mal vom Albtraumlord gefangen genommen wurde.

Der Schatten verbrannte, und damit erstarb das Feuer. Malfurion atmete tief durch, als er sein Gleichgewicht wiedererlangte. Er wandte sich an Fandral, aber der Nachtelf lag ausgestreckt auf dem Boden. Fandrals Augen standen offen, doch sie schienen nichts zu sehen. Der zweite Verlust seines „Sohns“ war zu viel für ihn gewesen.

Malfurion blickte zu Broll – und seine Augen weiteten sich.

Broll Bärenfell stand mitten unter den leidenden Druiden, die Hände über den Kopf erhoben, und die Energien von Azeroth umgaben ihn. Seine ehemals silbernen Augen leuchteten nun so golden wie Malfurions. Von seinen Händen strömte Energie zu jedem einzelnen der Druiden.

Zwei von Wurzeln durchbohrte Leichen lagen auf dem Boden. Das waren Fandrals erste Opfer gewesen. Doch für die anderen Druiden bestand noch Hoffnung. Hamuul Runentotem blieb bei Broll und half, wo er konnte, aber am meisten mühte sich der Nachtelf.

Jetzt habt Ihr Eure Bestimmung erfahren, dachte Malfurion erleichtert und mit Stolz.

Erst jetzt bemerkte er, dass Shandris nirgends zu sehen war. So, wie er sie kannte, war sie bestimmt direkt zu Darnassus’ Verteidigern gegangen.

Malfurion verwandelte sich. Erneut rannte er als große Raubkatze durch die Enklave nach Darnassus hinein. Um ihn herum tobte der Kampf noch immer. Selbst ohne die Bedrohung durch Fandral war Darnassus in schrecklicher Gefahr. Doch Malfurion konnte nur helfen, indem er weitermachte.

Er rannte hinaus in den Wald, der hinter der Hauptstadt lag. Augenblicklich versuchten die Äste und Blätter, ihm den Weg zu versperren. Malfurion wich ihnen geschmeidig aus und kämpfte sich den Weg mit Klauen und Zähnen frei, wenn er sonst nicht weiterkam. Sein dickes Fell bewahrte ihn vor so mancher Verletzung. Dennoch bekam er etliche Kratzer ab, bevor er das Innere von Teldrassils Krone erreichte.

Ein wilder Riese trat hervor, der so sehr selbst Teil des Baumes war, dass der Erzdruide ihn nicht sofort erkannte. Das Urtum versuchte, Malfurions Ausweichmanöver vorauszuahnen. Deshalb sprang Malfurion einfach direkt darauf zu.

Der korrumpierte Waldwächter versuchte zu reagieren, doch Malfurion sprang einfach durch die Beine der Kreatur hindurch. Als Katze war Malfurion schneller und beweglicher und wich so dem Riesen aus.

Die Krone des Weltenbaums war dicht und finster. Überall wuchsen Dornen. Keine echte Katze von der Größe Malfurions hätte dermaßen schnell reagieren können. Der Nachtelf nutzte seine über die Jahrhunderte verfeinerten Reflexe.

Aber gerade als er spürte, wo sein Ziel lag, sprang eine kleine, pelzige Gestalt auf sein Maul und kratzte ihm in die Augen. Es war nur ein Eichhörnchen, einer der vielen Bewohner des Baumes, und selbst dieses Geschöpf war korrumpiert worden.

Das Eichhörnchen war ein leicht zu besiegender Gegner, den er einfach mit dem Kopf abschüttelte. Doch das war nicht die wahre Gefahr.

Malfurion versuchte, sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Als ein kleinerer Ast gegen seine Pfote schlug und er beinahe ins Taumeln geraten wäre, kehrte der Erzdruide augenblicklich in seine normale Gestalt zurück und fing sich wieder, bevor er von weiteren Ästen getroffen werden konnte.

Mehrere Schattenkreaturen stürzten aus den Ästen über ihm herab. Es waren enorm viele, und sie verletzten Malfurions Körper und Seele gleichermaßen.

Er verbrannte die ersten paar mit magischem violettem Feuer, dann wurde er von der schieren Zahl, die folgte, dazu genötigt, sich erneut zu verwandeln.

Er brüllte wild, und die Schatten wichen zurück. Mit seinen mächtigen, leuchtenden Pranken schlug er nach den Kreaturen und zerfetzte einige. In seiner Raubkatzengestalt nutzte Malfurion seine natürlichen Fähigkeiten, um die Zahl der finsteren Angreifer zu dezimieren.

Sie starben unter seinen Klauen wie das Gras unter der Sense. Binnen Sekunden war nur noch Malfurion als Raubkatze übrig. Kurz brüllte er seinen Sieg hinaus. Dann eilte er seinem Ziel entgegen.

Das Böse wuchs auf dem Stamm des Weltenbaums, und obwohl es teilweise wie einer der riesigen Äste geformt war, die überall aus Teldrassil ragten, unterschied es sich farblich doch stark. Mit dieser Farbe verband Malfurion etwas völlig anderes als einen Baum, egal, ob er verderbt sein mochte oder nicht. Er musste sich nur wieder in einen Nachtelfen verwandeln und auf seine Hand blicken, um Haut von derselben Farbe zu sehen.

Auch ohne es zu berühren, konnte der Erzdruide spüren, wie gekonnt das Böse in den damals sicherlich noch nicht ausgewachsenen Teldrassil eingepflanzt worden war. Malfurion erkannte Fandrals Werk und wusste, dass der Erzdruide viele Male hierher zurückgekehrt sein musste, um das Böse in seinem Wachstum zu stärken. Der Ast war jetzt mehr als zweieinhalb Meter hoch, seine eigenen Zweige maßen sicherlich selber schon einen Meter oder mehr und waren mit dunklen, dornigen Blättern bedeckt. Blasse Früchte hingen an dem Ast, sie erinnerten entfernt an Schädel.

Malfurion trat an den verderbten Zweig heran. Die Früchte schimmerten, und eine fiel zu Boden. Sie zerplatzte beim Aufprall. Eine dicke schwarze Flüssigkeit floss heraus, die wie ein ganzes Feld voller verfaulender Leichen stank.

Malfurion wich zurück, obwohl er sich so weiter von dem verderbten Ast entfernte. Er wusste, dass der Albtraumlord genau das wollte, doch er konnte nichts dagegen tun.

Eine weitere Frucht fiel herab. Als sie aufplatzte, verwandelte sich die schwarze Flüssigkeit in Hunderte knochenbleicher Tausendfüßler mit Köpfen, die an die Totenschädel von Nachtelfen erinnerten.

Malfurion Sturmgrimm..., riefen sie, während sie sich um ihn herum zusammenzogen. Malfurion Sturmgrimm... es ist an der Zeit, dass du dich uns anschließt...

Er erkannte diese Stimmen. Jede war anders, doch er kannte jede einzelne davon. So zum Beispiel Lord Rabenkrone, der die Nachtelfen-Streitkräfte befehligt hatte, bis er von Agenten der Königin Azshara ermordet wurde. Oder die Hohepriesterin Dejahna – Tyrandes Vorgängerin. Dann war da noch der dem Bösen verfallene Hauptmann Varo’then – Azsharas ergebener Diener – und so viele, viele andere, die seine und sicherlich auch Tyrandes Gedanken während der Jahrtausende heimgesucht hatten.

Malfurion... wir haben so lange gewartet... komm und schließe dich uns in unserer langen Rast an...

Er schwankte, stand da und unternahm nichts, als die monströsen Tausendfüßler seine Beine erreichten. Der Erste krabbelte auf seinen Fuß, sein skelettartiges Maul öffnete sich weit...

Der Erzdruide griff nach unten und packte das Ungeziefer. Er drückte fest zu.

Der Tausendfüßler heulte wie ein sterbender Nachtelf. Seine geisterhafte Schale platzte auf und offenbarte eine schöne, aufblühende Rose.

Der Rest des Schwanns begann ebenfalls zu heulen. Jeder einzelne Tausendfüßler erlitt dieselben Schmerzen wie der in Malfurions Hand.

„Möge dies ihr Vermächtnis sein“, sprach er zu dem verderbten Ast, als die Rosen überall um ihn herum hervorschossen. „Möge dies all diejenigen ehren, die Azeroth verteidigt und sich nicht für seine Macht verkauft haben...“

Teldrassils Krone erzitterte, als würde ein starker Wind hindurch wehen. Das Rauschen der Blätter wurde in Malfurions Ohren zu einem wütenden Brüllen.

Er nutzte den Moment der Wut des Albtraumlords aus, um seine Gestalt erneut zu wechseln. Doch dieses Mal wurde er zu einem großen Bären, einem schrecklichen Bären. Mit seiner Kraft packte Malfurion den verderbten Ast und riss ihn aus Teldrassil heraus. Er reichte tief in den Stamm hinein, und Malfurion benutzte seine druidischen Fähigkeiten, um selbst die „Wurzeln“ auszumerzen.

Der Weltenbaum erbebte. Einige der großen Äste brachen ab. Malfurion der Bär presste sich gegen den Stamm, als die Erschütterungen stärker wurden. Er konnte nur hoffen, dass die Bewohner von Darnassus sich selbst schützen konnten.

Das Beben ließ nach. Aber obwohl es nur kurz gedauert hatte, war es doch stark genug gewesen, um die Wälder von Teldrassil zu zerstören. Ganze Eichen waren zerborsten. Ein Großteil der Krone war nur noch ein Haufen gefährlicher Schutt.

Darnassus muss geräumt werden, überlegte der Erzdruide. Bevor man nicht das ganze Ausmaß des Schadens am Weltenbaum untersucht hatte, war jedermann in Gefahr.

Plötzlich wurden die massigen umgestürzten Bäume zu schwer für die darunter stehenden. Mit einem Geräusch wie Donnerhall brachen die tragenden Äste, und Holz und Erde stürzten gleich tonnenweise nach unten. Dadurch wurden weitere der riesigen Bäume mitgerissen, und der atemberaubende Vorgang wiederholte sich.

Doch trotz der Leiden des Weltenbaums blickte der Erzdruide zu dem einen Ast, den er aus dem Stamm herausgerissen hatte. Er war viel blasser geworden, und jetzt tropfte etwas daraus hervor. Es war eine dickliche Substanz mit der Konsistenz von Baumsaft, doch von völlig anderer Farbe. Malfurions Bärensinne nahmen den Geruch auf, der eine unglaubliche Wut in ihm entfachte.

Das war die Quelle der Befleckung, die Teldrassil verseucht hatte.

Malfurion stieß ein bestialisches Knurren aus. Er wusste, was es war... und genauso erkannte er, wie es so weit hatte kommen können.

Es war Blut, wenn auch sehr zähflüssig. Doch es war frisch und sah ansonsten exakt so aus, als entstamme es einem Nachtelfen.

Blut... von einem Baum.

Der Druide nahm wieder seine normale Gestalt an, als ihn die Erkenntnis traf. Es gab nur einen solchen Baum. Vor Jahrtausenden hatte Malfurion dafür gesorgt, dass dieser Baum entstand. Er hatte es getan, um dem Bösen ein Ende zu setzen, damit etwas Gutes aus ihm erwuchs... aber ganz offensichtlich hatte er nur eine noch schrecklichere Gefahr geschaffen.

Der Ast stammte von dem Baum, der den Schatten des Albtraumlords warf.

Ein Baum, der einst der schreckliche Ratgeber der verrückten Königin Azshara gewesen war.

Sein Name rann wie Gift über Malfurions Lippen. „Xavius...“

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