Broll Bärenfell mühte sich, Thura davon abzuhalten, vor ihm herzulaufen. Die Orcfrau drängte zur Eile, obwohl sie sich womöglich an einem der übelsten Orte überhaupt befanden.
Der Nachtelf war hier, weil Malfurion ihn hier brauchte. Malfurion hatte ihm nicht erklärt warum, doch Broll traute seinem Shan’do. Er hätte aber gerne gewusst, was die Orckriegerin hier tun sollte. Thura hatte keine nützliche Waffe, und ihre dickköpfige Art würde sie in die Arme des Albtraums treiben.
„Wir müssen da lang!“, zischte sie nicht zum ersten Mal. „Da lang!“
Nichts hatte sie bislang behindert, außer dem schrecklichen Nebel. Broll hielt das für kein gutes Omen. Der Albtraum schätzte sie möglicherweise nicht als große Bedrohung ein, und der Druide war sogar geneigt, ihm darin recht zu geben.
Was habt Ihr vor, Malfurion?, wollte Broll wissen. Was?
Vor ihm machte der Nebel plötzlich etwas völlig Neues und Beunruhigendes. Er zog sich zurück. Nicht vollständig, doch der entstehende Weg reichte aus, dass sie beide nebeneinander hergehen konnten.
Thura stürmte natürlich einfach weiter.
„Wartet!“, rief der Druide.
Aber sie ignorierte ihn. Stattdessen erhöhte sie das Tempo. „Da ist es!“
Broll, der sich um ihr Leben sorgte – und ihre geistige Gesundheit, sollte der Albtraum sie überwältigen – verstand zuerst nicht, was sie wollte. Dann sah er die Axt.
Die magische Axt. Kein Wunder, dass Thura sie haben wollte. Mit der Waffe konnte sie sich den Schatten und dem Albtraum entgegenstellen.
Doch der Druide bezweifelte, dass sie die Axt einfach nur aufheben mussten.
Thura griff danach... und die Axt leuchtete smaragdgrün auf.
Zur gleichen Zeit ertönte ein Wutschrei. Broll wirbelte herum, weil der Laut von überallher zu kommen schien. Zuerst fürchtete er, dass es eine neue Manifestation seiner eigenen alten Wut war. Jener rohen Wut, die er nur mit großer Mühe besiegt hatte, als er das letzte Mal im Smaragdgrünen Traum gewesen war. Doch fast augenblicklich wusste der Druide, dass die Wut eine andere, schrecklichere Quelle hatte.
Der Albtraum war wütend.
Er verstand nicht, warum. Die Orcfrau schien entweder unfähig oder nicht willens zu sein, die Axt zu berühren.
„Was stimmt nicht, Thura?“, murmelte er. „Könnt Ihr sie nicht aufheben?“
Die Orcfrau schüttelte den Kopf. Sie blickte maßlos verwirrt zu dem Nachtelfen. „Ich... ich weiß nicht, Druide... ich weiß nicht... weiß nicht...“
Und gerade als sie das sagte, schloss sich der Nebel um sie. Broll spürte, wie sich die Wut des Albtraums auf sie konzentrierte. Obwohl er Thura die Axt weggenommen hatte, konnte er sie offensichtlich nicht benutzen. Deshalb hatte er auf jemanden gewartet, der es konnte.
„Du wirst sie führen, Orc“, erklang eine Stimme, die den Druiden erschaudern ließ, weil er wusste, wer da sprach. „Und durch dich wird diese Axt zu unserer Waffe werden...“
Eine große Faust erschien aus dem Nebel, von verfaulender Borke bedeckt. Aaskäfer krabbelten darüber. Sie traf Broll fest in die Seite. Er taumelte von der Orcfrau weg.
Knorre trat aus dem Nebel. Das korrumpierte Urtum grinste. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie der Albtraum. Dicke Äste entsprangen seinem Körper, und die boshaften Blätter, die Broll in seinen frühen Visionen gesehen hatte – Malfurions damaliger Versuch, Kontakt aufzunehmen – bedeckten nun die Kreatur.
„Ich benutze diese Waffe nicht für dich!“, brüllte Thura.
„Du wirst es tun...“, antwortete er mit einer Stimme, die genauso dem Albtraumlord gehörte wie auch Knorre.
Das Urtum griff nach ihr. Thura versuchte, sich zu bewegen, doch der Boden war wieder mit Aaskäfern bedeckt, und die Orckriegerin verlor den Halt. Als sie stürzte, platzte etwas aus dem Boden, das auf den ersten Blick wie schwarze Würmer wirkte. Aber es waren keine Würmer, sondern die Schatten der Wurzeln.
Die Wurzeln des Skelettbaums.
Doch selbst wenn sie nur Schatten waren, wollten sie doch die Orcfrau fesseln. Sie kämpfte dagegen an.
Broll stand wieder auf. Er hatte die ganze Zeit einen Angriff erwartet, allerdings nicht von Knorre. Deshalb war er zumindest zum Teil darauf vorbereitet gewesen. Dennoch hatte der Schlag ihm für den Moment die Luft geraubt.
Er sprang auf das Urtum und verwandelte sich dabei in eine Raubkatze. Doch so war er immer noch ein kleiner Gegner gegen Knorre.
Das korrumpierte Urtum wollte ihn wieder schlagen. Aber Broll war jetzt widerstandsfähiger. Er wand sich und duckte sich unter der großen Faust hindurch. Gleichzeitig kratzte er seinen Gegner am Bein.
Knorre schrie vor Schmerz und Wut. Er vergaß Thura und wandte sich der Raubkatze zu.
„Der Traum und Azeroth werden schon bald dem Albtraum gehören...“, knurrte Knorre/der Albtraumlord. „Und für dich, Nachtelf, haben wir eine besonders schreckliche, ewige Vision...“
Schattenhafte Gestalten zogen sich aus allen Richtungen um die Katze zusammen. Broll blickte über seine Feinde hinweg zu Thura. Sie hatte eine Hand frei, eine Hand, die in Reichweite der Axt war. Wenn sie sie nur hätte greifen können...
Nein! Broll hätte die Wahrheit auch erkannt, wenn er nicht gesehen hätte, wie eine Wurzel die freie Hand mied. Der Albtraum will, dass sie die Axt ohne nachzudenken nimmt!
Der Albtraum konnte die Waffe aus irgendwelchen Gründen nicht selbst aufheben. Und ebenso wenig konnte es einer seiner korrumpierten Diener. Doch er glaubte offensichtlich, sie durch Thura benutzen zu können, wenn sie sie erst hatte.
Er versuchte, sie zu warnen, aber die Schatten wurden zu Satyren, die ihn sogleich umschwärmten. Broll wurde unter ihnen begraben. Sein letzter Blick galt Knorre, der sich zu Thura umdrehte.
Shan’do!, rief der Druide in seinen Gedanken. Malfurion!
Doch er bekam keine Antwort.
Malfurion hörte Brolls Warnung und versuchte zu antworten. Aber er spürte nur eine schreckliche Leere. Zuerst fürchtete er, dass Broll tot war... oder etwas noch Schlimmeres... Aber dann erkannte der Erzdruide, dass der Albtraumlord versuchte, den Kontakt zwischen den beiden zu unterbinden. Das konnte nur bedeuten, dass Xavius Malfurions Absichten erkannt hatte, was den Rest des Plans des Nachtelfen gefährdete.
Doch dann zweifelte Malfurion, ob der Plan überhaupt jemals eine Chance gehabt hatte. Er hatte sich darauf verlassen, dass Ysera da wäre, um alles zu koordinieren. Als Schüler der druidischen Lehren und Suchender im Smaragdgrünen Traum war Ysera für Malfurion und seine Brüder die führende Expertin, wenn es um die ineinander verflochtene Natur der beiden Reiche ging.
Ysera war immer noch bewusstlos, und Malfurion wusste, dass es nicht ihre Schuld war.
Tyrande und die Geister-Priesterinnen bildeten immer noch eine undurchdringliche Barriere gegen die Satyre, deren Körper an einigen Orten dreifach übereinandergestapelt lagen. Allerdings leuchteten sie selbst und die Geister jetzt weit weniger, und einige der ätherischen Priesterinnen waren schon ziemlich transparent geworden.
Tyrande verließ sich darauf, dass Malfurion sie rettete. Sie alle verließen sich darauf. Und auch wenn sie es nicht verstanden, verließ er sich auf sie ganz genauso. Sie alle wurden gebraucht, wenn er Erfolg haben wollte. Wenn er Azeroth retten wollte. Malfurion fletschte die Zähne und griff nach einer letzten Hoffnung.
Er berührte Alexstraszas Gedanken, doch jede Zuversicht, dass sie helfen könnte, schwand augenblicklich. Der Drache wurde selbst angegriffen. Furchterregende Energien attackierten das Portal von der anderen Seite aus, und für ein paar Augenblicke war es blockiert, nur um von dem Drachen mühevoll wieder geöffnet zu werden.
Malfurion fragte sich, warum Xavius dieses letzte Portal unbedingt schließen wollte. Es schien so unbedeutend...
Die Lebensbinderin schickte dem Nachtelf ihre Gedanken. Der Angriff hier wird immer wilder! Der Albtraum will das Portal unter allen Umständen versiegeln! Ich brauche meine ganze Kraft, um ihn davon abzuhalten! Ich kann nichts für dich tun!
Er hatte noch nicht einmal gefragt, aber sie hatte gewusst, warum er Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Dieser weitere Rückschlag schwächte Malfurions Entschlossenheit.
Der rote Drache sagte noch etwas, doch nun verlangten andere Stimmen in seinem Kopf Gehör. König Varian und seine Armee waren in schrecklicher Verfassung. Ihre physischen Körper fielen immer häufiger den Sklaven des Albtraums auf Azeroth zum Opfer. Brolls Schicksal war immer noch ein Rätsel, und Hamuul sandte nur eine kurze Bemerkung, dass korrumpierte Diener der Natur – Urtume, Dryaden und einige andere – die Druiden unter Druck setzten und Lucan willig unter der Führung des Tauren kämpfte.
Xavius – und der wahre Herr des Albtraums – standen unmittelbar vor ihrem Triumph.
Die direkten Auswirkungen all dessen konnte man nun bei Tyrande sehen. Sie, die Malfurion nicht nur liebte, sondern ihn auch unabdingbar für Azeroths Überleben hielt, wurde nun gequält wie nie zuvor. Die Hohepriesterin fiel auf die Knie, als sie mit der Mondlichtgleve drei Satyre davon abhielt, sie in Stücke zu reißen. Doch währenddessen schwand zuerst nur eine, dann eine zweite ihrer geisterhaften Mitstreiterinnen, wie so viele von Malfurions Hoffnungen.
Wild und hemmungslos drängten die Satyre vorwärts, um Tyrande und Malfurion zu überrennen.
Die Katastrophe, die Azeroth und den Smaragdgrünen Traum vereinnahmt hatte, war vergessen. Malfurion sah nur, dass Tyrande verloren war, wenn er nicht augenblicklich etwas unternahm. Nichts anderes zählte mehr. In diesem Moment interessierte es ihn nicht, ob Azeroth oder irgendetwas überlebte, wenn das bedeutet hätte, dass seine Geliebte dabei starb.
Er spürte, wie das Schuldgefühl in ihm immer größer wurde. Eine Schuld, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Nicht zum ersten Mal sah Malfurion in seinem Geist all die Strapazen, die er Tyrande zugemutet hatte und wie sie ihn doch immer wieder unterstützt hatte. Er erinnerte sich auch an all die schönen Zeiten, als ihnen Frieden und Abgeschiedenheit vergönnt waren. Malfurion schätzte besonders den Bau der ersten neuen Hauptstadt der Nachtelfen nach dem Krieg der Ahnen. Durch seine druidischen Fähigkeiten und ihre Kräfte hatten sie eine große, lebendige Laube mitten im Zentrum geschaffen, die den Neuanfang ihres Volkes symbolisieren sollte. Insgeheim stand sie aber auch für ihre eigene tiefe Beziehung. Sie hatten die Eichen angeregt, ineinander zu wachsen, und mit Blüten besetzte Ranken verzierten dieses Konstrukt. Dann hatte Elune es durch ihre Hohepriesterin mit einem sanften weißblauen Leuchten versehen, wodurch die Laube ein Gefühl der Ruhe ausstrahlte, das jeder spürte, der sich darunter einfand.
Es war nur eine kleine Sache gewesen, klein, verglichen mit dem Ausmaß ihres titanischen Kampfes durch all die Zeitalter. Doch vielleicht schätzte es Malfurion deshalb so sehr. Es war etwas, das sie gemeinsam aus einfachen, reinen Gründen geschaffen hatten. Sie hätten sehr viel mehr gemeinsam tun können, wenn er es denn gewollt hätte. Sie hätte ihn wegen seiner langen Zeiten der Abwesenheit, während all der Jahrtausende, für immer verstoßen sollen... aber das hatte sie nicht getan. Trotz all ihrer anderen Aufgaben – und die waren außergewöhnlich – war Tyrande immer da gewesen und hatte auf ihn gewartet.
Und nun würde sie sterben, weil wieder einmal seine Aufgaben Vorrang vor ihr gehabt hatten.
„Nicht dieses Mal...“, knurrte der Erzdruide. „Niemals wieder!“
Mit verschränkten Händen rief Malfurion so gut er konnte seine innersten Kräfte an, die er gemeinsam mit Ysera gesammelt hatte, um bei der Flucht zu helfen. Ein Mahlstrom von Energien stieg vom Boden auf, während andere vom verdeckten Himmel herabsanken.
Der Boden hob sich. Ein grüner Wald spross daraus hervor, der die Satyre und Tyrande einschloss. Während die Feinde verschluckt wurden, wurde die Hohepriesterin sanft von dem plötzlichen Wachstum angehoben und von den hervorsprießenden Ästen zu ihrem Geliebten geleitet.
Als Xavius das ganze Land um ihn herum verschlungen hatte, waren die kleinen vertrockneten Samen seiner vielen Opfer zurückgeblieben. Sie waren für ihn so bedeutungslos gewesen, dass der Albtraumlord sie nicht einmal bemerkt hatte. Doch Malfurions druidische Kräfte hatten sie gefunden, wie tief oder lange sie auch vergraben gewesen sein mochten. Der Erzdruide hatte nicht nur ihr Potenzial wiederbelebt, sondern es zudem freigesetzt.
Zu Tyrande war der Wald freundlich gewesen. Doch die Satyre hatten einen schweren Tod erlitten. Dutzende waren aufgespießt worden, weil Malfurion keine Zeit für den Austausch von Freundlichkeiten hatte. Sie waren schnell gestorben, das war das Beste, was er für sie tun konnte.
Dennoch kamen immer mehr, und Malfurion, der befürchtete, sie könnten seine Geliebte immer noch erreichen, erbat von Azeroth mehr Kraft. Er kontaktierte Teldrassil und selbst Nordrassil, und beide gaben ihm zu seiner Erleichterung und großen Dankbarkeit, was er benötigte... auch wenn Nordrassil sich immer noch vom letzten Krieg gegen die Brennende Legion erholen musste.
Der Wind heulte immer lauter und stärker. Eine ganze Reihe Satyre wurde von ihm in den tödlichen Wald geblasen. Schließlich zögerten sie. Tyrande und Malfurion waren nicht das leichte Ziel, das ihnen ihr „Gott“ versprochen hatte. Malfurion war der Verdammte, dessen Stärke sie kaum fassen konnten.
Doch in Malfurions Augen reichte das Zögern nicht aus. Sie hatten Tyrande bedroht. Er warf sie zurück und zog Tyrande näher zu sich heran.
Plötzlich rief ihm die Hohepriesterin zu: „Macht Euch um mich keine Sorgen! Die anderen brauchen Euch mehr!“
Malfurion verminderte seinen Schutz nicht, aber er verstand, was sie meinte. Tatsächlich erfüllte ihn die Tatsache, dass er ihr Leben über alles andere gestellt hatte, mit einem neuen Sinn für sein eigenes Leben. Dabei meinte er nicht das Leben, das er dieser Welt gewidmet hatte. Er hatte seine neue Stärke darin gefunden, das Wertvollste des Nachtelfen Malfurion Sturmgrimm zu schützen, nicht das des großen Erzdruiden aus den Legenden.
So wie er es mit Azeroth getan hatte, schickte der gestärkte Malfurion seinen Willen nun in den Smaragdgrünen Traum und versuchte, mehr von seiner Energie anzuzapfen, um den Albtraum abzuwehren. Als der Smaragdgrüne Traum ihm gab, worum er bat, war er erleichtert. Mit diesen zusätzlichen Energien trieb der Erzdruide den Nebel von Varians Armee aus Traumgestalten fort. Die grünen Felder erstanden neu.
Doch noch bemerkenswerter war, dass nicht nur die Schattenkreaturen gemeinsam mit dem Nebel schwanden, sondern auch die Sklaven des Traums. Die Verteidiger mussten nicht mehr gegen die Abbilder ihrer früheren Kameraden und Geliebten kämpfen. Es war, als hätten sie nie existiert.
Ein Gefühl äußerster Ruhe erfasste Malfurion. Er kannte dessen Quelle, wusste, dass Tyrande zu Elune gebetet hatte, damit die Liebe der Hohepriesterin nicht nur Malfurion schützen sollte, sondern ihm auch weiterhin half. Die Ruhe und die Liebe, mit denen Tyrande sein Herz berührte, gaben Malfurion den Anstoß, noch weiter über seine Grenzen zu gehen. Dieses Mal kontaktierte der Erzdruide Azeroth und den Smaragdgrünen Traum gleichzeitig.
Es funktionierte. Mit Tyrandes Kraft, die ihm von innen her Mut machte, fühlte sich der Nachtelf noch stärker und erfrischter als durch die vereinte Kraft beider Reiche zusammen.
Dann musste er seine Gedanken wieder Ysera zuwenden. Er war sicher, dass sie ein integraler Bestandteil war, der es ihm erst ermöglichte, eine solche Kraft zu meistern. Doch zu seiner Überraschung war der riesige Drache extrem erschöpft und litt Schmerzen. Sie würde ihm sicherlich keine Hilfe sein...
Die Entdeckung schockierte Malfurion. Sie bedeutete, dass nur er und Tyrande den Albtraum in Schach hielten. Das hätte gar nicht sein dürfen...
Der Gedanke erlosch, als der Boden unter seinen Füßen bebte. Die neuen Bäume und die anderen bemerkenswerten Pflanzen, die er zum Blühen animiert hatte, wurden untergraben.
Riesige rote Wurzeln hoben die Bäume und auch die Satyre an. Mehrere Bäume flogen auf den Erzdruiden zu.
Malfurion wechselte in die Gestalt der Raubkatze und bewegte sich flink, um dem tödlichen Regen zu entkommen. Obwohl die Hohepriesterin sehr müde war, benutzte sie weiterhin Elunes Gaben, um Malfurion so gut zu schützen, wie es ging. Das Mondlicht blendete die Satyre, die durch die Lücken strömten, die von den Wurzeln geschaffen worden waren. Dabei hielt es die Wurzeln kurzzeitig in Schach, wenn auch nur für ein paar kritische Augenblicke.
Der Erzdruide brachte Tyrande an einen Ort zeitweiliger Sicherheit, dann kehrte er zurück. „Ihr müsst hier fort!“
„Seid vernünftig! Wo soll ich denn hin? Ganz Azeroth wird angegriffen! Wenn das Ende wirklich kommt, dann, bei Elune, will ich bis zum Schluss bei Euch sein! Wir haben gemeinsam zu viel verloren!“
„Und das ist alles meine Schuld“, stimmte Malfurion ihr zu.
Der Boden bebte erneut. Weitere Wurzeln schossen nahe ihren Füßen hoch. Tyrande warf schnell ihre Gleve und schlitzte dann eine Wurzel auf. Sie keuchte vor Anstrengung, doch sie gab nicht nach.
Malfurion griff in seinen schwindenden Vorrat an Kräutern und Pulvern. Er blies eine feine Wolke von grünen Sporen auf die näher kommenden Wurzeln.
Als die Sporen sie berührten, unterstützte der Erzdruide ihre Wirkung. Kleine, grabende Ranken entstanden. Die Sporen bohrten sich in die Wurzeln.
Die Wurzeln schrumpelten, als Hunderte von kleinen Löcher entstanden. Eine Wurzel fiel um. Aus den Löchern tropfte eine dicke, blutähnliche Flüssigkeit.
Doch dieselbe Flüssigkeit füllte die Löcher der übrig gebliebenen Wurzeln. Die kleinen Parasiten wurden ausgetrieben und starben.
Sinnlos... es ist alles sinnlos..., hallte Xavius’ Stimme in Malfurions Kopf wider. Alles wird zum Albtraum werden...
Es stimmte. Egal, von wo Malfurion auch Hoffnung oder Hilfe beziehen wollte, er fand keine. König Vanans Armee verlor den Kampf. Broll war nicht auffindbar, und mit ihm war auch die Orcfrau verloren. Ysera und der Mensch waren bewusstlos, und Alexstraszas Kontrolle über ihr eigenes Portal schwand. Der Albtraum war überall, sowohl im Smaragdgrünen Traum als auch in Azeroth. Alles war verloren...
Malfurion stieß ein Brüllen aus... Ausdruck seiner Wut, nicht der Verzweiflung.
„Ihr hattet mich beinahe so weit, Xavius!“ rief er seinem Feind zu. Verzweiflung und Angst waren die größten Waffen des Albtraums. Xavius – zweifellos mit der Kraft des alten Bösen versehen, das seinen Willen stärkte – hatte Malfurions Unsicherheit wohl genährt. „Aber das funktioniert nicht mehr!“
Tyrande packte ihn an der Schulter. Ihre Liebe verstärkte Elunes Gaben an ihn. Der Erzdruide blickte zu seinem unsichtbaren Feind und rief die beiden Reiche an, um noch ein wenig mehr von ihrer Stärke zu erbitten.
Er spürte, wie die zusätzlichen Energien in ihn strömten. Malfurion konzentrierte sich.
Der Himmel knisterte vor Blitzen, die in die aufgeworfene Erde schlugen. Die Wurzeln glitten zurück in ihre Löcher...
In Sturmwind, Orgrimmar und den anderen umkämpften Hauptstädten kam Wind auf. Er brauste und griff jeden an, der eine Gefahr darstellte. Aber er ließ die schlafenden, ungeschützten Kämpfer unberührt, deren Traumgestalten im Smaragdgrünen Traum für Malfurion kämpften.
Doch der Erzdruide tat auch etwas für die Opfer des Albtraums, die ihm nun unfreiwillig dienten. Sie lagen eng beieinander, so dicht gepackt, dass sie sich gegenseitig nichts mehr antun konnten.
Die Schattensatyre allerdings, der Nebel und die korrumpierten Gestalten griffen immer noch die schwindenden Verteidiger an. Und obwohl die lebenden Marionetten zurückgeworfen worden waren, hatten ihre Albträume noch genug Substanz im Smaragdgrünen Traum und selbst auf der Ebene der Sterblichen.
Xavius’ Macht war einfach schrecklich geworden.
Schwitzend vor Anstrengung kämpfte Malfurion gegen seinen Feind an. Winde kamen überall auf, sogar im Smaragdgrünen Traum. Egal ob Schatten oder Korrumpierte, die Diener des Albtraums wurden von ihrem weiteren Vorrücken abgehalten.
Es reichte dennoch nicht aus.
„Es wird niemals enden, bevor ich ihn nicht gestellt habe!“, sagte Malfurion zu Tyrande. „Ich muss im Herz der Finsternis zuschlagen... Xavius ist der Schlüssel... Ohne ihn kann selbst das Böse hinter diesem fürchterlichen Werk den Albtraum nicht zusammenhalten...“
Die Hohepriesterin beobachtete die Satyre und die Wurzeln, die immer noch versuchten, sie zu erreichen. Nur Malfurions konstante Bemühungen hielten sie zurück. Tyrande packte ihre Waffe aus Mondlicht. „Sehr gut... lasst uns beginnen...“
„Ihr kommt nicht mit...“
„Ich werde Euch folgen. Ihr könnt das nicht alleine machen, und das wisst Ihr auch. Das ist selbst für Euch zu viel.“
Sie hatte recht. Er musste die Welt nicht alleine retten. Malfurion gab nach und wandte sich den Feinden zu. „Ich verdiene Euch nicht.“
„Nein, tut Ihr nicht“, antwortete sie mit einem bemühten Lachen.
Der Erzdruide atmete ein und streckte seine Hand aus.
Sturm und Blitze griffen ihn an. Jetzt kam auch noch Regen dazu.
Die Satyre zogen sich zurück. Die Wurzeln versuchten vergeblich, die Blitze zu meiden. Drei von ihnen verwandelten sich in brennende Stümpfe.
Ein Weg öffnete sich.
„Jetzt!“ Malfurion wurde wieder zur Raubkatze. Tyrande setzte sich auf ihn. Der Erzdruide rannte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit los, sprang hoch über die zerstörte Landschaft.
Satyre lauerten überall. Doch die erfahrene Hohepriesterin schlug ihnen Klauen, ganze Gliedmaßen und selbst Hände mit der Gleve ab. Malfurion trampelte andere nieder, die ihm den Weg versperrten, schlug mit den Pranken nach allen, die stehen blieben und zerfleischte viele weitere.
Stetig griffen die Wurzeln nach seinen Beinen oder versuchten, Tyrande von seinem Rücken zu stoßen. Malfurion wand sich aus ihrer Reichweite, und Tyrande trennte mehr als eine nach ihr greifende Spitze ab. Der Weg wurde rutschig, doch Malfurion hielt sich mit den Krallen besser als die Satyre mit ihren Hufen. Die Landschaft rauschte an ihnen vorbei.
Und schließlich tauchte etwas Unheilvolles und gleichzeitig Vertrautes aus dem Nebel vor ihnen auf. Es war immer noch weit von den beiden entfernt und doch gigantisch. Tatsächlich erkannte Malfurion, dass es sehr viel größer war als alle normalen Bäume und dass seine Äste, die aus der Ferne leblos wirkten, sich bis zum Horizont erstreckten. Das war weder Teldrassil noch einer der anderen großen Bäume... es war ein Baum von titanischen Ausmaßen.
Und so verdreht der Schatten gewesen war, hatte auch er nicht die schreckliche Majestät des wahren Baumes erahnen lassen. Es waren Hunderte, Tausende von kleineren Ästen, alle genauso boshaft wie die großen. Als Tyrande und Malfurion sich näherten, bemerkten sie, dass es dort tatsächlich Blätter gab. Doch anders als die korrumpierten Blätter des Weltenbaums waren diese lang und gebogen, und von Malfurions erhöhter Warte aus wirkten sie wie messerscharfe Sicheln.
Beim Näherkommen sahen Malfurion und Tyrande, dass die Blätter und der Baum nicht schwarz waren, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte... sondern von derselben tiefroten Farbe wie der „Saft“, der ihn durchfloss.
Das war nicht mehr derselbe Baum, in den ein viel jüngerer Malfurion seinen Gegner vor Tausenden von Jahren verwandelt hatte. Der war ein Symbol der Erneuerung gewesen, etwas, das Leben bringen würde, wo Xavius doch den Tod suchte.
Malfurion hatte nach dem Krieg immer zurückkommen wollen, um zu sehen, wie er wuchs. Andere Dinge waren jedoch stets dringlicher gewesen... und dann hatte er es vergessen.
Aber wie konnte diese Perversion nur vor uns versteckt bleiben?, fragte sich Malfurion. Sicherlich wurde dieser Plan schon vor langer Zeit geschmiedet...
Die dunkle Macht hinter dem Albtraumlord musste Xavius schon kurz, nachdem Malfurion den neuen Baum verlassen hatte, kontaktiert haben. Denn dieser Baum hatte sicherlich viele Jahrtausende gebraucht, um so zu wachsen. Es zeigte die heimtückische Geduld, über die nicht nur Azsharas ehemaliger Berater, sondern auch sein monströser Herr verfügten. Erst als er mächtig genug geworden war, böse genug, hatte es keinen Grund mehr gegeben, seine Anwesenheit zu verschleiern.
Als wäre ein starker Wind aufgekommen, bewegten sich die Äste plötzlich gleichzeitig auf Malfurion und Tyrande zu. Trotz der großen Entfernung, die noch zwischen ihnen und dem Baum lag, kamen die Äste immer näher...
Und sie waren beinahe bei ihnen.
Malfurion spürte, wie der Boden wieder bebte. Er knurrte Tyrande eine Warnung zu und warf sich dann zur Seite. Die Wurzeln brachen dort hervor, wo sie eben noch gewesen waren. Sie schossen so hoch, dass sie beinahe mit den niedrigsten Ästen kollidierten.
Ein düsteres Rascheln erklang. Der Erzdruide drehte sich mitten im Sprung. Mehr als ein Dutzend kleinerer Äste zischten nur Zentimeter von ihnen entfernt vorbei. An jedem hingen die langen sichelförmigen Blätter. Malfurion mühte sich redlich, um ihnen allen auszuweichen, doch zwei erwischten ihn.
Die Blätter schlitzten seine Haut auf, und er hörte Tyrande keuchen.
Die Katze wirbelte herum. Der Weg hinter ihnen füllte kurz seinen Blick aus. Eine Wand aus Wurzeln versperrte ihnen jeden Fluchtweg, und die Satyre eilten begierig durch die einzige verbliebene Lücke.
Xavius hatte gewollt, dass sie zu ihm kamen.
„Vorsicht!“, rief Tyrande. Ihre Gleve durchtrennte drei Äste, bevor die tödlichen Blätter die beiden berühren konnten.
Malfurion traf eine Entscheidung. Er hatte immer noch Kontakt zu den anderen. Versuchte immer noch, sie zu führen. Die Anstrengung war gewaltig, doch der Erzdruide wusste, dass er noch mehr tun musste.
Mit einem Knurren warnte er Tyrande, dass er gleich erneut seine Gestalt wechseln würde. Die Hohepriesterin sprang gekonnt herab, während sie immer noch die Gleve benutzte, um jeden Ast abzuschlagen, der nach ihnen griff.
Malfurion blickte nun nach Azeroth und in den Smaragdgrünen Traum hinein. Er musste dieses Mal tiefer einsinken, das galt für die beiden Reiche wie auch für ihn selbst.
Der Himmel brauste. Er brauste nicht nur über ihnen, sondern überall in Azeroth, überall im Smaragdgrünen Traum/Albtraum. Malfurion strengte sich noch mehr an und achtete nicht darauf.
Doch sein Angriff richtete sich nicht gegen den Feind, zumindest nicht direkt. Stattdessen konzentrierte sich Malfurion auf diejenigen, die er am meisten brauchte.
Broll... Thura...
Dieses Mal konnte er sie spüren. Dieses Mal konnte er fühlen, wie der Druide sich dagegen wehrte, vom Albtraum überwältigt zu werden.
Shan... do..., ertönte die schwache, aber entschlossene Antwort.
Jetzt ist es an der Zeit... Die Werkzeuge sind an Ort und Stelle... der Ast, den ich Euch gegeben habe... Ich verrate Euch die Wahrheit über seinen Ursprung und was wir tun müssen.
Ich bin... bereit...
Mehr musste Malfurion nicht hören. Über das stete Rauschen hinweg rief er Tyrande zu: „Rettet Euch! Ich muss es jetzt beenden! Ich kann nicht versprechen...“
„Nein! Wir leben und sterben gemeinsam!“
Er wollte nicht streiten. Der Erzdruide ging ein letztes Mal in sich.
Und plötzlich... schwoll der Sturm wieder an.