Broll erwachte aus der Bewusstlosigkeit. Er konnte sich nicht genau erinnern, wann er dem Albtraum zum Opfer gefallen war. Er stand bei Tyrande, Lucan und der Orckriegerin... und blickte auf einen sehr bedrückt wirkenden Eranikus.
Sie waren wieder im Smaragdgrünen Traum – oder dem, was davon übrig geblieben war. Die Gruppe befand sich in einem tiefen Tal, das immer noch den schwindenden Glanz des einst sagenhaften Reiches ausstrahlte. Hohe Hügel umgaben sie, und obwohl sie wie starke aufmerksame Wächter wirkten, wusste der Druide ganz genau, wie wenig Schutz sie tatsächlich boten.
Der grüne Drache blickte Lucan an, als wäre er eine Seuche, die man am besten vernichtete. Doch der Kartograf stand dem riesigen Drachen ohne zu zittern gegenüber.
„Zum ersten und letzten Mal, nimm deine Freunde und verschwindet von hier! Es wäre am besten, wenn du das, was auch immer uns beide verbinden mag, entfernen würdest, Mensch!“
„Ich wollte uns nur woanders hinbringen“, antwortete Lucan verbittert. „Ich wusste nicht, dass ich damit zu dir zurückkehre!“
Der Drache zischte. „Wenn ich gewusst hätte, dass du mir so viel Ärger bereitest, hätte ich dich als Baby im Smaragdgrünen Traum zurückgelassen! Unfassbar, dass ein Mensch solche gefährlichen und willkürlichen Fähigkeiten besitzen kann, nur weil er hier geboren ist! Ich hätte dich besser den Launen des Schicksals überlassen...“
Trotz seines Protests erkannte Broll an Eranikus’ Tonfall, dass sein Ärger nicht wirklich Lucan galt. Die Wut des Drachen richtete sich eigentlich gegen ihn selbst.
Doch damit musste Eranikus allein klarkommen. Etwas anderes bereitete Broll viel mehr Sorgen. Etwas, das Tyrande für ihn ansprach.
„Könnt Ihr uns zu Malfurion bringen?“, fragte sie den Drachen. „Wir müssen ihn finden. Ich muss ihn finden!“
„Aus welchem Grund?“, spottete Eranikus. „Alles läuft sowieso auf ein schreckliches Ende hinaus. Der Albtraum hat meine Königin gefangen, meine Gefährtin! Es gibt keine Hoffnung mehr. Ich habe sie erneut enttäuscht...“
Die Hohepriesterin maß ihn mit einem verächtlichen Blick. „Und so suhlt Ihr Euch in Selbstmitleid! Nun gut, wir tun das nicht!“
Eranikus breitete die Flügel aus. Er blickte sich um, fast als hätte er Angst, dass der Albtraum ihn spüren konnte. Dann wurde die Wut stärker als seine Furcht. Er zischte. „Du kannst gehen, wohin du willst und tun, welche Narretei dir auch immer gefällt. Wenn ich nur nie wieder daran erinnert werde, was geschehen ist!“
Er wischte mit seinem Flügel über die kleinen Gestalten hinweg. Broll schubste Tyrande auf Lucan zu und sah, dass auch Thura seine Absicht erkannte.
Lucan tat das, was Eranikus offensichtlich gewollt hatte. Instinktiv... verschwand der Mensch aus dem Smaragdgrünen Traum.
Die anderen verschwanden mit ihm. In einem Moment schwebte noch der grüne Drache über ihnen, im nächsten standen sie auf den Zinnen einer großen Burg.
Sie befanden sich inmitten einer wild tobenden Schlacht.
Die schrecklichen Traumgestalten der Opfer des Albtraums überrannten die Verteidigungsanlagen und zogen sich rund um die Burg zusammen. Ihre grotesken, leidenden Gestalten, ihre kreischenden Münder... alles an ihnen rührte an den tiefsten Ängsten selbst der tapfersten Kämpfer. Die leeren Augen der Angreifer suchten nach jemandem, mit dem sie ihre Folter teilen konnten.
Eine schwindende Gruppe von Verteidigern in vertraut wirkender Rüstung versuchte, sich dem Ansturm entgegenzustemmen, was ganz offensichtlich nicht zu schaffen war. Ihr Mut war groß, denn niemand floh, obwohl sie weit in der Unterzahl waren. Auch als der leichenblasse Feind sich näherte, blieben die Kämpfer allesamt standhaft.
Mit Schrecken stellte Broll fest, dass er diesen Ort kannte. „Das ist Sturmwind – die königliche Burg!“
Ein Soldat erblickte sie. Er brauchte einen Moment, um ihr merkwürdiges Auftauchen zu verdauen, dann rief er eine Gruppe von Kameraden zu sich. Die drei Männer bewegten sich ängstlich auf die Neuankömmlinge zu und schwenkten dabei Fackeln und Schwerter.
Die Orckriegerin nahm Kampfhaltung ein, doch Tyrande hielt Thura zurück. „Die Männer halten uns für einen Teil des Albtraums!“, rief die Hohepriesterin Broll zu. „Wir müssen sie vom Gegenteil überzeugen!“
Bevor die anderen ihn davon abhalten konnten, trat Lucan vor. Er hielt die Hände ausgestreckt, seine Handflächen waren offen, und rief: „Wartet! Wir sind Freunde! Ich bin Lucan Fuchsblut, dritter Assistent des königlichen Kartografen! Wir müssen Seine Majestät sehen!“
Die Soldaten zögerten. Misstrauisch beäugten sie die Orcfrau. Broll überlegte, was sie wohl dachten. Welche Art Albtraum nahm schon eine so merkwürdige Gestalt an?
Einer der Soldaten signalisierte seinen Kameraden, zurückzubleiben und trat in Waffenreichweite vor Lucan. Er richtete sein Schwert auf den Kartografen, der sich nicht rührte.
Die Spitze berührte seine Haut. Der Soldat wirkte dabei erleichterter als Lucan. Dennoch blickte er wieder zu Thura.
Die Hohepriesterin trat neben Lucan und verstellte so die Sicht auf die Orcfrau. „Ich bin Tyrande Wisperwind, Herrscherin der Nachtelfen, und bei mir ist Broll Bärenfell, ein Kampfgefährte von König Varian! Die Orcfrau gehört zu uns. Sie ist keine Bedrohung...“
„Broll Bärenfell...“ Der Name schien dem Soldaten etwas zu sagen. Er nickte beiden Nachtelfen respektvoll zu. „Mylady... wir sind sehr geehrt...“
„Der König...“, erinnerte ihn Lucan. „Wir müssen sofort mit König Varian sprechen!“
„Kommt am besten mit mir“, antwortete der Kämpfer. „Wir müssen hier sowieso weg!“
Kaum hatte er das gesagt, als ein Schrei in der Nähe erklang. Sie wandten sich um und erblickten einen weiteren Verteidiger ein paar Meter hinter ihnen entfernt, der sich durch den Nebel kämpfte. Hände bildeten sich darin und zerrten an ihm, und die grauenhaften Gesichter der Sklaven des Albtraums bedeckten begierig den unglückseligen Soldaten, als wollten sie ihn verschlingen.
Bevor ihm jemand helfen konnte, verschwand der Mann. Sein Schrei hallte nach und wurde selbst zum Teil des Albtraums.
„Schneller!“, befahl der Kämpfer, der Broll zuerst gegenübergetreten war.
Mit großer Eile wurden sie eine lange Abfolge von Steinstufen hinabgeführt, und dann ging es über einen Hof zu einem anderen Teil der Mauer. Als sie den erreichten, fragte ßroll ihren Führer: „Wie steht es um die Stadt?“
„Die liegt in Trümmern! Der Handelsdistrikt, der Hafen, das Tai der Helden... die Finsternis ist überall!“, rief der Mann zurück. „Ab und zu hören wir Kampfeslärm aus der Altstadt und dem Zwergendistrikt. Und das Magierviertel ist immer noch nicht gefallen!“ Er wies nach rechts, wo der Druide ein sich stetig veränderndes Spektrum von Farben aufleuchten sah, was auf den massiven Einsatz von Zauberei hinwies. Es gab ein paar Bereiche, wo ebenfalls noch ein wenig Licht zu herrschen schien.
„Vor einer Stunde war es noch heller“, fuhr der Soldat fort. „Wir halten es nicht auf. Niemand hält es auf...“
„Es ist schon erstaunlich, dass Ihr überhaupt noch hier seid“, unterbrach ihn Tyrande. „Was meint Ihr, Broll?“
Der Druide nickte. „So tapfer und stark Sturmwinds Verteidiger auch sein mögen – egal, ob Krieger oder Magier -, eigentlich hätten sie schon lange verloren haben müssen...“ Er überlegte, und ein wenig Hoffnung stieg in ihm auf. „Es könnte Malfurions Werk sein. Doch ich glaube eher, dass Ysera dahintersteckt.“
„Aber Ysera wurde gefangen genommen!“
Broll war ein wenig stolz auf das, was er als Nächstes sagte. „Sie ist ein Aspekt, einer der großen Drachen! Außerdem ist sie der Smaragdgrüne Traum! Selbst als Gefangene des Albtraums kämpft sie weiter...“
Thura dachte an die trüben Aussichten, die sich ihnen unausweichlich boten. „Sie kämpft für uns, aber diese Stadt wird fallen... und vielleicht auch Orgrimmar.“
Sie eilten eine weitere Treppenflucht hinab. Mehr als einmal hörten sie Schreie des Schreckens und der Bestürzung.
„Ysera hat sich selbst geopfert, damit Malfurion fliehen konnte!“, fügte der Druide hinzu. „Offensichtlich ist sie der Meinung, dass mein Shan’do noch etwas bewirken kann!“
„Und was ist mit uns?“, fragte Tyrande.
Darauf hatte Broll keine Antwort. Er konnte ihr einfach nicht sagen, was stetig an ihm nagte. Der letzte Albtraum, in dem seine Tochter vorgekommen war, hatte ihm sein Versagen mit voller Wucht in Erinnerung gebracht. Er war nicht Malfurion Sturmgrimm, er war nicht einmal ein Erzdruide.
Er war nur ein rebellischer ehemaliger Gladiator und Sklave.
Doch das trieb Broll auch an. Der Soldat führte sie schließlich zu einer vertrauten Gestalt. Selbst unter der Rüstung war die Körperhaltung des Mannes einzigartig.
„Lo’Gosh!“, brüllte Broll.
Die gerüstete Gestalt wirbelte herum. Durch die Helmschlitze blickten ihn Varians geweitete Augen an.
Unglücklicherweise fiel der Blick des Königs auf Thura. „Ein Orc in Sturmwind!“
Varian stürmte augenblicklich vor, sein legendäres Schwert Shalamayne hoch erhoben. Shalamaynes großartige Klinge mit der einzigartigen Spitze und der dickeren, abgewinkelten Kante weiter unten wirkte, als könnte sie Thura in zwei Teile schneiden. Der Edelstein am unteren Ende der Klinge strahlte wie eine wütende Sonne.
Thura begann sich selbst zu verteidigen, was Varian nur als Bestätigung seines Verdachts ansah. Er umfasste entschlossen den langen schmalen Griff des Schwertes, die gebogene Parierstange schützte seine steifen Finger. „Möge dein Blut das erste von Tausenden Orcs sein, die in dieser Nacht sterben werden. Ich...“
Doch Broll stellte sich vor Thura. „Habt Ihr was an den Augen, Lo’Gosh? Das ist nicht gut für einen König und erbärmlich für einen Gladiator!“
„Broll Bärenfell!“ Obwohl der König seinen Freund bemerkte, senkte er das Schwert nicht. „Geh von dem verdammten grünen Ungeheuer weg! Ich werde es erschlagen...“
„Sie gehört zu uns! Sie hat nichts damit zu tun, genauso wenig wie Thrall!“
Varian konnte es nicht fassen. Doch dem Herrn von Sturmwind war klar, dass sein alter Kamerad tatsächlich zwischen Thura und ihm stand.
„Ich weiß noch nicht einmal, ob das hier wirklich real ist!“, knurrte Varian. „Sag mir, dass du echt bist, Broll...“
Der Druide streckte die Hand aus. Nach einer zögerlichen Pause ergriff sie der Herr von Sturmwind. Sein Blick wurde milder, als er dem Druiden die Hand schüttelte.
„Du bist es wirklich! Wahrlich... glaube ich zumindest!“
„Wenn Ihr spüren könnt, wie meine Knochen gerade brechen, dann wisst Ihr auch, dass ich echt bin!“ Broll und der König ließen einander los. Die Freude über ihr Wiedersehen wurde von dem schrecklichen Anlass getrübt. „Was ist mit Valeera? Ist sie nicht auch dabei?“
„Ich habe deine Blutelfenschurkin schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Du weißt, wie eigensinnig sie sein kann!“ Varian verzog das Gesicht. „Glaub mir, so eine Kämpferin könnten wir hier gut gebrauchen, Broll. Ich hoffe, sie wurde nicht wieder beim Stehlen erwischt. Nicht, dass sie wieder für jemanden wie Rehgar Erdenwut kämpfen muss“, schloss Varian und bezog sich auf den orcischen Schamanen, für den sie als Gladiatoren und Sklaven im Purpurroten Ring gekämpft hatten. Alle Kämpfe dort gingen bis zum Tod, und selbst Valeera hatte einige Gegner getötet.
Der Druide verbarg seine Enttäuschung nicht. Er konnte nur hoffen, dass die Blutelfe in Sicherheit war, wo auch immer sie gerade stecken mochte.
Doch wo genau sollte ein sicherer Ort liegen?
„Ich kenne dich“, sagte Varian und blickte an dem Nachtelfen vorbei zu Lucan. „Fuchsblut. Wir glaubten dich schon verloren.“
Der Kartograf erwiderte: „Das war ich auch.“
Varian nickte Tyrande kurz, aber sehr freundlich zu. Sie hatte den König kennengelernt, kurz nachdem er den Thron wiedererhalten hatte. „Euer Majestät...“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Thura. Er hob das Schwert erneut an und zielte damit auf die Orcfrau. „Aber warum bringst du solchen Abschaum mit nach Sturmwind, Broll? Was hast du dir dabei nur gedacht? Ihr Kriegshäuptling nutzte einst den Nebel, um sich an unsere Mauern heranzuschleichen, wie ein ehrloser Meuchelmörder. Statt sich uns offen entgegenzustellen, nutzte er eine Seuche, um uns zu schwächen. So eine verderbte Waffe würde kein wahrer Krieger je einsetzen...“
„Thrall ist weder ein Meuchelmörder, der durch den Nebel streicht, noch ein ehrloser Krieger!“, antwortete Thura. „So darfst du nicht über ihn sprechen...“
Bevor die Lage eskalieren konnte sagte Broll: „Ruhig, Lo’Gosh! Wir haben keine Zeit für Streitereien! Sie gehört zu uns. Ich bürge für sie mit meinem Leben! Mit meinem Leben!“
„Dann scheinst du dein Leben nicht sehr hoch zu achten, Broll...“
„Aufhören! Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen! Sagt mir ehrlich, wie lange hält Sturmwind noch durch?“
„Eigentlich haben wir bereits verloren. Doch obwohl der Feind stetig weiter vorrückt, geschieht das nur sehr langsam. Unsere Waffen sind zum größten Teil nutzlos, und alle Bezirke, bis auf ein paar, sind gefallen. Morgen schon könnte nur noch ein Rest der Burg Widerstand leisten, wenn es denn ein Morgen gibt. Wenn du irgendeine Idee hast, wie du uns retten kannst, dann unterstütze ich dich dabei, so gut ich kann. Das weißt du.“
„Freut mich, das zu hören. Ich hoffe, dass Ihr das immer noch meint, wenn ich Euch gesagt habe, was wir vorhaben.“ Der Druide erklärte schnell seine Absichten.
Varian runzelte die Stirn, als er dem Plan zu folgen versuchte. „Ich nehme dich beim Wort, Broll“, sagte der Monarch schließlich. „Die Frage bleibt, was sollen wir dagegen tun?“
„Mein Shan’do ist der Schlüssel... irgendwie. Ich glaube, dass er der Schlüssel zur Lösung all unserer Probleme ist.“ Broll wies auf Lucan. „Euer Mann hat ein sehr bemerkenswertes Talent... doch gelegentlich führt es uns auf einen anderen Weg. Wir müssen schnell nach Darnassus reisen... schneller, als selbst ich es könnte, wenn ich allein wäre...“
„Wir haben noch fliegende Reittiere in der Burg“, meinte Varian. „Ein paar davon könnten wir euch geben...“
Tyrande trat vor. „König Varian. Gestattet mir eine Frage, denn ich glaube, dass es einen anderen Weg geben könnte, wie zumindest einer von uns Darnassus noch schneller erreichen kann. Schneller als selbst das schnellste Reittier.“
„Wenn ich Euch dienlich sein kann, dann fragt...“
„Wisst Ihr, wo sich unsere Botschafterin gerade aufhält?“
Varian blickte finster. „Sie ist wie so viele andere im Schlaf gefangen... in ihrer Kammer, wenn ich mich recht erinnere.“
„Wir brauchen jemanden, der uns zu ihr bringt“, meinte die Hohepriesterin.
„Ich kann die Burg nicht verlassen.“ Der König blickte von Tyrande zu Broll. „Major Mattingly!“
Ein grauhaariger Veteran in rotgoldener Rüstung mit königsblauem Umhang, auf dem der stolze Löwe von Sturmwind prangte, eilte herbei. Sein Gesicht war gezeichnet von langer Erfahrung, und er trug einen kurz geschnittenen Bart. In seiner rechten Hand hielt er ein langes Schwert.
„Der Druide!“, krächzte der Major, als er Broll sah. „Ich kenne dich...“
„Und ich Euch“, antwortete Broll. „Ihr habt unter General Marcus Jonathan gedient...“ Der Nachtelf erinnerte sich an die Worte des Soldaten, der sie hergebracht hatte. Das Tal der Helden, wo der General und Mattingly postiert waren, war bereits gefallen.
Der Blick des Majors bestätigte Brolls Bedenken. „Als der Nebel unsere Männer zu verschlingen begann, schickte der General nach Unterstützung. Er sandte mich aus. Doch bevor ich zurückkehren konnte... bedeckte der Nebel das ganze Tal...“
„Und dieser verdammte Narr wäre beinahe selbst wieder hineingeritten“, fügte Varian ohne Wut hinzu. „Doch Mattingly wusste, dass wir jeden Mann brauchten und befahl seine gerade zusammengerufene Streitmacht hierher zurück...“ An den Major gewandt sagte der König von Sturmwind: „Ihr wisst, wo die Botschafterin der Nachtelfen lebte – lebt. Ich brauche einen vertrauenswürdigen Mann, der vorsichtig genug ist, um dorthin zu gelangen... obwohl man mir nicht sagt, worum es dabei genau geht.“
Tyrande zögerte nicht. „Sie hat einen Ruhestein.“
Varian riss nicht als Einziger die Augen weit auf. Broll wusste, wovon die Hohepriesterin sprach, obwohl selbst er nur zweimal einen solchen Gegenstand gesehen hatte. Ein Ruhestein war ein handflächengroßer, oval geformter Kristall, der durch arkane Magie an seinen Träger und einen bestimmten Ort gebunden war. Meistens waren es wichtige Städte, wie Sturmwind oder in diesem Fall Darnassus. Die Entfernung spielte dabei keine Rolle.
„Ich habe sie immer für eine Legende gehalten“, sagte Varian vorsichtig. „So etwas gibt es doch nur in Geschichten von Magiern... oder Elfen.“
„Oder Elfen“, wiederholte die Hohepriesterin mit einem kurzen grimmigen Lächeln.
„Interessant, dass Eure Botschafterin einen besitzt.“
„Aber gut für uns“, antwortete Tyrande ruhig.
Der König nickte und sagte nichts mehr. Er blickte zu dem Major, der salutierte. Mattingly bedeutete den anderen, ihm zu folgen.
Varian unternahm keinen Versuch, die Orckriegerin davon abzuhalten, sich den Nachtelfen anzuschließen. Und weder Broll noch Tyrande wollten Thura bei den Menschen zurücklassen. Thura schien auch nur wenig Neigung zu verspüren hierzubleiben.
Doch ein Mitglied der Gruppe sorgte für eine Überraschung. Statt bei seinem König zu bleiben, folgte Lucan Fuchsblut ihnen ebenso.
„Ihr seid zu Hause“, murmelte Broll. „Bleibt hier!“
„Ich werde vielleicht gebraucht“, erwiderte Lucan. Er blickte ihn entschlossen an. „Meine Fähigkeiten mögen unzuverlässig und gefährlich sein, doch sie sind nützlich... falls wir mal wieder fliehen müssen...“
Der Druide sagte nichts weiter. Sie waren bereits an den Toren der Burg angekommen.
Ein gebrühter Befehl des Majors öffnete den Weg, auch wenn die Wachen den Eingang hinter ihnen eiligst wieder schlossen. Als sie die Burg verließen, bemerkte Tyrande etwas, das augenblicklich auch allen anderen auffiel.
„Der Nebel ist hier dichter. Doch von den armen Seelen ist nichts zu sehen...“
„Warum sollten sie hier sein?“, antwortete Broll grimmig. „Dieser Teil von Sturmwind befindet sich bereits unter der Kontrolle ihres Herrn!“
Tatsächlich erklang kein Geräusch aus der Nähe, obwohl sie in der Ferne Rufe, Schreie und Explosionen hören konnten – letzte Zeichen der schwindenden Verteidigung. Die unheimliche Stille erinnerte sie daran, wie der größte Teil von Azeroth derzeit aussah.
„Sie muss durchhalten“, knurrte der Druide und bezog sich auf Ysera. „Sie muss...“
„Und wir müssen beten, dass es Malfurion gut geht und er uns helfen kann“, fügte Tyrande hinzu. Sie sagte nicht, was aus ihrem Tonfall sowieso klar herauszuhören war – dass sie aus Liebe um sein Leben fürchtete.
„Eure Botschafterin wohnt im Handelsbezirk“, erklärte der Major. „Dabei habe ich nie verstanden, warum sie diesen Ort dem Park vorgezogen hat, wo Euer Volk normalerweise zusammenkommt.“ Als die Hohepriesterin es nicht erklärte, zupfte sich Mattingly am Bart und wechselte das Thema. „Am besten meiden wir den Platz vor der Kathedrale. Dort wird noch gekämpft, und wir könnten irrtümlich von einem Zauber getroffen werden. Wir sollten auch die Kanäle meiden... dort ist der Nebel besonders stark... eine Menge Leute hat es dort unten völlig unvorbereitet erwischt, als er das erste Mal in die Stadt kroch.“
Lucan verzog das Gesicht. „Aber das bedeutet, dass wir durch die Altstadt müssen.“
Mattingly lachte heiser auf. „Dort sieht es mittlerweile auch nicht mehr anders als im Rest der Hauptstadt aus, Fuchsblut!“
Sie rannten eine gepflasterte Straße hinunter, an deren nördlichem Ende der Eingang zum Zwergendistrikt lag. Von dort erklangen Geräusche des verzweifelten Kampfes. Die Zwerge zumindest kämpften noch.
Vorsichtig führte der Major sie über eine Straße in die Altstadt. Trotz Mattinglys Bemerkung erkannten sie, dass Lucan zu Recht besorgt gewesen war. Die Altstadt war nicht allzu stark von den Orcs beschädigt worden, und deshalb hatte man sie nie renoviert. Obwohl es noch recht ordentlich aussah, war der Stadtteil bei Weitem nicht so makellos wie der Rest der Stadt. Zwar standen die Halle der Champions und ebenfalls die Kasernen der Armee hier, doch gab es auch Bettler, Diebe und anderes Elend. Die Straßen waren weit schmutziger als alle anderen, über die die Gruppe bislang gereist war. Und der Geruch nach Verwesung stammte nicht vom Albtraum.
„Achtung, da liegt jemand...“ warnte sie Mattingly.
Drei zerlumpte Menschen lagen vor ihnen am Boden. Der Erste hatte eine Hand zur Faust geballt. Sein Mund stand offen. Die anderen beiden sahen aus, als ob sie einander beim Gehen hatten helfen wollen, jeder hatte den Arm um den anderen gelegt. Der Major ließ den Anblick lange genug wirken, um die Gruppe anzuspornen.
„Der Erste ist tot – vor Angst, so erscheint es mir -, aber die beiden daneben schlafen lediglich, wie alle anderen auch“, berichtete er. „Wir gehen weiter.“
Schon bald wurde offensichtlich, dass sie sich ohne ihren Führer leicht verlaufen hätten. Selbst Lucan der Kartenmacher schien diesen Teil von Sturmwind nicht gut zu kennen.
Doch ihr Fortkommen wurde nicht nur vom Nebel behindert. Die Straßen schlängelten sich oft derart merkwürdig, dass die Furcht der Gruppe davon noch geschürt wurde.
Sie kamen an weiteren am Boden liegenden Menschen vorbei, doch Major Mattingly blieb nicht wieder stehen, um sie zu untersuchen. Es war klar, dass sie alle Opfer des Albtraums waren, egal, ob tot oder lebendig.
Zu seiner Erleichterung stellte Broll schließlich fest, dass sie den Kanaleingang zum Handelsbezirk erreicht hatten. Der Nebel war dort so dicht wie in der Altstadt. Doch es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf, der nach wie vor um Burg und Kathedrale tobte. Niemand glaubte allerdings, dass sie vom Albtraum unbehelligt bleiben würden.
„Wir wenden uns nach links, wenn wir aus dem Durchgang heraus sind“, informierte der Offizier sie.
Broll beugte sich zu Tyrande hinüber und flüsterte: „Warum lebt denn die Botschafterin in diesem Teil der Stadt statt am Park?“
Kaum hörbar antwortete die Hohepriesterin: „Weil wir uns hier heimlich mit Leuten treffen, die im Park viel zu auffällig wären.“ Als Broll die Stirn runzelte, fügte Tyrande hinzu: „Das ist nicht gegen Varian und Sturmwind gerichtet. Ganz im Gegenteil, Broll. Und fragt mich jetzt bitte nicht weiter.“
Er respektierte ihren Wunsch. Immerhin war sie als Herrscherin seines Volkes zu politischen Handlungen gezwungen, von denen selbst ihre Vertraute Shandris nichts wusste. So etwas geschah nicht nur zum Wohle der Nachtelfen, obwohl deren Belange natürlich vorrangig behandelt wurden. Doch letztlich nützten diese Dinge ganz Azeroth.
Der Handelsbezirk war ein gepflegteres, vielschichtigeres Viertel als die Altstadt gewesen. Broll war stets gern über die mit Kopfstein gepflasterten Straßen geschlendert. Der Trubel des Viertels, die verschiedenen Völker und Berufsklassen... das alles hatte für die Vielfalt gestanden, die es auf Azeroth einst gab.
Doch jetzt glich der Handelsbezirk viel zu sehr der Altstadt. Der Nebel hing über Läden, Tavernen und den anderen Gebäuden, als befände man sich in einer großen und komplex aufgebauten Totenstadt. Überall lagen Leichen und Schlafende herum, als wären viele der Bewohner einfach mitten in ihrer Beschäftigung umgefallen.
„Sind sie tot oder schlafen sie?“, fragte Thura plötzlich. Die Orc-frau war bislang auffallend still gewesen. Ihr Tonfall deutete ihre Unsicherheit an, die sie wahrscheinlich verbergen wollte. Für solche Gefahren wurden Krieger nicht ausgebildet.
„Wir haben keine Zeit, um das zu überprüfen oder uns darum zu kümmern“, antwortete Mattingly. Er wies auf ein schattenhaftes Gebäude zur Rechten. „Wir müssen zu diesem Haus dort.“
Sie erreichten den Bau – ein Gasthaus – ohne Probleme. Broll und Tyrande tauschten besorgte Blicke aus. Sie hatten bislang schon zu viel Glück gehabt.
„Am besten bewachen ein paar von uns die Straße“, schlug der Major vor und beobachtete die wie ausgestorben wirkende Gasse. Der Kampfeslärm war stark gedämpft, als hätten Sturmwinds letzte Verteidiger bereits verloren.
„Ich suche den Raum“, entschied Tyrande.
„Und ich gehe mit Euch“, erklärte Broll. „Mein Shan’do würde mir etwas anderes nie verzeihen, und ich auch nicht.“
Thura grunzte: „Ich bleibe hier, wo eine Axt gebraucht wird.“
„Ich bleibe auch.“ Lucan blickte nacheinander den Major und die Orcfrau an und stellte sich dann zwischen sie. Mattingly gab ihm einen langen Dolch.
„Wir beeilen uns“, versprach die Hohepriesterin. Eigentlich konnten die drei zurückbleibenden Gruppenmitglieder nur wenig zur Verteidigung beitragen. Sie dienten am besten als Beobachter.
Das Innere des Gasthauses wurde vom Körper eines kräftigen Mannes dominiert, der entweder der Besitzer oder ein Diener des Hauses war. Er saß in einem Stuhl, seine Arme hingen schlaff zur Seite. Sein Gesichtsausdruck war dermaßen vor Schreck verzerrt, dass die Nachtelfen stehen blieben.
Broll beugte sich zu ihm hinab. Der Mensch murmelte etwas. Seine Stirn runzelte sich.
„Wir müssen weiter.“ Tyrande nahm jeweils zwei der hölzernen Stufen auf einmal.
Broll blickte den Mann noch einen Augenblick länger an. Aus irgendeinem Grund fand er dieses Opfer des Albtraums interessant. Immer noch unzufrieden folgte der Druide Tyrande.
Er erreichte den oberen Stock und sah, dass einige Türen bereits offen standen. Weit hinten öffnete Tyrande die letzte Tür am Ende des Ganges.
„Hier ist es...“, sagte die Hohepriesterin.
Doch als Broll zu ihr trat, sah er nichts außer einer fast leeren Kammer mit mehreren blühenden Pflanzen, die immer noch frisch und gepflegt wirkten, und ein Bett, das mit einem grünen Laken bedeckt war.
„Sie ist fort...“, sagte der Druide. „Varian hat gemeint, sie würde schlafen, so wie die anderen.“
Tyrande trat wortlos in die Kammer und suchte den Kleiderschrank am anderen Ende. Sie riss eine der beiden Türen auf, das knackende Geräusch hallte bedrohlich von den Wänden wider.
Die Hohepriesterin betete. Das Licht von Elune leuchtete und ließ den Raum erstrahlen... doch dann konzentrierte sie sich auf eine leere Ecke. Tyrande berührte sie.
Sie berührte etwas Unsichtbares. Als die Hohepriesterin aufstand, konnte man den Gegenstand gut im Licht erkennen.
Es war der Ruhestein.
„Er wirkt alt“, meinte Broll.
„Einer der Überlebenden aus Zin-Azshari hat ihn mitgebracht“, sagte Tyrande widerwillig. „Ich hätte ihn aufgrund seiner Bindungen an diesen verfluchten Ort vernichten sollen. Doch einen neuen Ruhestein zu erschaffen, ist noch anstrengender, als das Zaubermuster eines alten Steins zu ändern...“
Lang, oval und von kristalliner Beschaffenheit, war er mit schwach leuchtenden blauen Runen bedeckt. Diese Runen symbolisierten den Ort, an den der Stein gebunden war und das Wesen, dem der Stein gehörte. Damit konnte diese Person augenblicklich von überall her an den Bestimmungspunkt des Ruhesteins gelangen... in diesem Fall, Darnassus.
„Warum hatte die Botschafterin so etwas?“, fragte der Druide.
„Um von hier zu fliehen, falls es notwendig werden sollte.“
„Hmm. Hat aber nicht so toll geklappt, oder?“
Die Hohepriesterin sagte nichts. Stattdessen vertiefte sie sich in das Artefakt. Einst war es von arkanen Kräften erschaffen worden. Doch Mutter Mond hatte Tyrande schon einmal die Kraft gegeben, es zu verändern. Sie nahm den Stein in beide Hände und begann zu beten. Sie hoffte, dass die Göttin ihr diese Gabe ein zweites Mal gewährte.
„Etwas stimmt hier nicht“, flüsterte Broll. „Etwas stimmt ganz und gar nicht...“
Tyrande achtete nicht darauf. „Der Ruhestein widersetzt sich. Die Botschafterin lebt also noch, wo immer sie auch...“
Aus dem Kleiderschrank ertönte ein schreckliches Geheul.
Tyrande wandte sich um, konnte aber nicht mehr verhindern, dass eine skelettartige Gestalt sie packte, die sich irgendwie dort versteckt gehalten hatte, wo selbst das Licht von Elune nicht hinreichte. Das Wesen warf die Hohepriesterin zu Boden. Der Ruhestein fiel ihr aus den Händen.
Eine wahnsinnig wirkende Kreatur stürzte sich auf Broll. Sie trug die zerfetzten Kleider einer hochstehenden Elfe. Doch erst durch den Anhänger um ihren Hals wurde deutlich, dass es sich dabei um die verschwundene Botschafterin handelte.
„Ihr werdet meine Kinder nicht bekommen, ihr Dämonen!“, schrie sie. „Ihr werdet sie nicht kriegen!“
Ihre Augen erregten Brolls Aufmerksamkeit, weil man sie nicht sehen konnte. Die Lider der Botschafterin waren fest zusammen-gepresst.
„Sie träumt!“, rief er.
In diesem Moment erklang von draußen ein Warnruf des Majors. Dann ertönten Schreie, die die Nachtelfen nur allzu deutlich an ihre Angreifer erinnerten.
Tyrande betete. Silbernes Licht ergoss sich über den Körper der rasenden Frau vor ihr. Die Botschafterin schien sich zu beruhigen...
Doch dann glitt ein Schatten über ihr Gesicht. Ihr Mund verformte sich, und sie begann von Neuem zu schreien.
Links und rechts von ihr entstanden Schattenkreaturen, wie sie die Hohepriesterin bereits in ihrem Zelt angegriffen hatten. Sie lauerten Tyrande auf und hätten sie gepackt, wäre das Mondlicht nicht gewesen. Das Licht reagierte wie ein lebendiges Wesen und stellte sich zwischen Elunes Dienerin und die Angreifer. Die beiden Schatten wichen zurück.
Tyrande stieß die Botschafterin fort und rief: „Broll! Der Ruhestein! Nehmt ihn!“
Er tat, wie sie befahl. Doch als er ihr das Artefakt zuwerfen wollte, schüttelte sie den Kopf. „Ihr könnt den Stein nun auch selbst benutzen! Er sollte Euch direkt nach Darnassus bringen!“
„Ihr wollt, dass ich Euch zurücklasse?“
„Nein! Ich will, dass Ihr uns allen dabei helft, Malfurion zu finden! Geht! Ich befehle es Euch!“
Sie hatte dem Druiden noch nie einen richtigen Befehl erteilt, und er wusste, dass das eigentlich auch nicht ihre Art war. Doch Broll verstand die Notwendigkeit ihres Wunsches, obwohl es ihm gar nicht gefiel, die anderen hier zurückzulassen.
„Ich werde ihn finden! Wir halten das Böse auf!“
Er umfasste den Ruhestein und konzentrierte sich. Der Stein begann zu leuchten.
Die Schattenkreaturen konzentrierten sich auf ihn. Die Grenze zwischen Albtraum und Realität wurde immer dünner, und der Druide hatte keinen Zweifel daran, dass diese Feinde ihn nun töten konnten. Broll wusste, dass er sich auf den Ruhestein und den Ort, an den er gebunden war, konzentrieren musste.
Silbernes Licht verschlang den Nächsten der Angreifer. Der Schatten stieß ein gequältes Zischen aus und wand sich, bevor er schwand.
Der Zweite wandte sich Tyrande zu, die mit der unglückseligen Botschafterin kämpfte. Broll hätte beinahe die Kreatur verfolgt, doch Tyrande blickte den Druiden an.
Der Ruhestein leuchtete.
Broll verschwand aus dem Raum...
... und materialisierte in Darnassus.
In einem Darnassus, das mitten in seinem eigenen Schrecken steckte. Broll wurde durchgeschüttelt. Er verlor den Ruhestein aus der Hand, der außer Sichtweite rollte.
Zuerst dachte der Druide, dass in Darnassus ein Erdbeben getobt hatte. Aber das war auf Teldrassils Spitze eigentlich nicht möglich. Dann spürten seine geschärften Sinne die schreckliche Wahrheit. Es war Teldrassil selbst, der die Nachtelfen attackierte. Seine Zweige griffen jedes Gebäude an. Die großen Äste, auf denen die Stadt ruhte, bebten, sie waren der Grund für die Erschütterung. Überall stürzten sich schwarze dornige Blätter auf die Bürger, durchdrangen ihre Haut und hinterließen lange, bösartige Schnitte. Mehrere Leichen lagen auf der einst schönen Landschaft.
Doch die Bewohner der Hauptstadt waren nicht ohne Schutz. Die Schwestern der Elune standen an vorderster Front und beschützten alles um sie herum, so gut sie konnten. Ihr Licht behinderte das Böse oder hielt es sogar zurück.
Aber selbst das Gras unter ihren Füßen war ein ähnlich verschlagener Feind wie die dunklen Blätter oder die Schattenkreaturen, die sich aus diesen Blättern gebildet hatten. Alles, was ein Teil von Teldrassil gewesen war, hatte sich nun gegen Brolls Volk gewandt.
Und erst jetzt konnte Broll spüren, wie schrecklich verderbt der Weltenbaum war. Ähnlich bestürzt war er über die unglaubliche Macht, die nicht nur Teldrassil, sondern die ganze Verderbtheit nährte.
Ausgerechnet die Druiden unterstützten diesen Terror. Ihre Zauber stärkten den Weltenbaum auf eine Weise, von der Broll nicht glauben konnte, dass sie sie wirklich verstanden.
Broll lief in Richtung des Portals, das ihn zu den Druiden bringen würde. Sie mussten gewarnt werden, und zwar schnell.
Doch die Blätter attackierten ihn. Broll verbrannte das Laub mit einem hellvioletten Feuer, bevor es ihn berühren konnte. Nachdem der Weg zumindest zeitweise frei war, verwandelte er sich in eine Raubkatze, weil er so einfach schneller war.
Das Portal kam in Sicht. Broll zögerte nicht, hindurchzuspringen. Wenn er erst bei seinen Brüdern war, konnten sie ihm dabei helfen, diesen schrecklichen Angriff aufzuhalten.
Die Welt um ihn herum drehte sich. Es war ein völlig anderes Gefühl als mit dem Ruhestein. Der Druide fühlte sich, als würde er vorwärtsgestoßen.
Einen Atemzug später sprang Broll aus dem Portal am Fuß von Teldrassil. Die große Katze untersuchte die Umgebung und war nicht überrascht, dass niemand in der Nähe war. Die Druiden waren immer noch am Versammlungsort.
Auf seinen vier starken Beinen lief Broll entlang der Grenze von Teldrassil und suchte die Versammlung. Wie konnten sie nur dermaßen unvorsichtig sein?, fragte er sich. Zumindest Fandral und die anderen Erzdruiden hätten spüren müssen, was geschah...
Fandral.
Eine böse Vorahnung überkam Broll. Er erinnerte sich daran, wie nah Fandral Teldrassil stand. Der Weltenbaum war für den obersten Erzdruiden wie ein Kind. Fandral hätte wirklich spüren müssen, was vorging.
Es sei denn...
Ein Dornenregen traf die große Katze. Broll brüllte vor Schmerz, verlor den Halt und stürzte vorwärts. Er fühlte sich benommen, und es war eine beunruhigende Benommenheit, die nicht normal sein konnte.
Die Dornen waren mit Drogen präpariert gewesen. Sein erfahrener Geist überlegte schnell, welche Kräuter verwendet worden waren. Zu seiner Erleichterung waren keine davon tödlich. Sie sollten ihn nur kampfunfähig machen.
Broll spürte, wie seine Muskeln allmählich erschlafften. Er war halb bewusstlos, unfähig sich zu bewegen. Der Nachtelf nahm wieder seine wahre Gestalt an. Das brachte ihm jedoch keine Erleichterung.
Eine Hand packte ihn grob am Arm. Broll wurde auf den Rücken gewälzt. Durch seine verschwommenen Augen sah er mindestens vier Druiden, die sich über ihn beugten. Aber er konnte sie nicht genau erkennen.
„Jemand sollte Fandral Bescheid geben“, sprach einer von ihnen. „Jemand sollte ihm mitteilen, dass wir den Verräter geschnappt haben...“