9 Wie man einen Drachen jagt

Die Druiden waren müde. Sie hatten gegeben, was man nur geben konnte, und obwohl Fandral ihnen gesagt hatte, dass ihre Bemühungen nicht umsonst waren, fiel es ihnen schwer, das auch zu glauben. Teldrassil sah nach wie vor nicht anders aus... und für Hamuul Runentotem war etwas an dem Weltenbaum, das ihn nur mehr störte.

Seine Sorge wurde noch durch Fandrals plötzliches Interesse an Brolls Abwesenheit verstärkt. Angesichts so vieler Druiden und der drängenden Probleme hätte Brolls Verschwinden eigentlich unbemerkt bleiben müssen. Doch nun schien der erste Erzdruide sich diesem Thema ganz besonders anzunehmen.

Hamuul hatte versprochen, nach Broll zu suchen, doch das war hauptsächlich geschehen, um Fandral zu beschwichtigen. Mehr konnte Hamuul nicht tun, um ein anderes Versprechen einzuhalten, das er voller Schuldbewusstsein wohl nicht würde erfüllen können.

Er hatte versucht, sich so weit wie möglich von der Versammlung fernzuhalten, doch er wusste, dass seine eigene Abwesenheit ebenfalls bemerkt werden könnte. Er hoffte, weitere Fragen zu vermeiden, und hielt sich am Rand der Gruppe auf. Ging hierhin und dorthin, als würde er nach etwas suchen.

Hamuul trat zu Naralex. Obwohl er so erschöpft wie der Rest war, betrachtete der Nachtelf interessiert einen einzelnen Samen in seiner Hand. Als der Tauren näher kam, bewegte Naralex sanft seine Hand über den Samen und murmelte etwas wie zu einem Kind.

Der Samen platzte auf. Eine kleine Ranke stieg daraus hervor. Nachdem sie mehr als zehn Zentimeter gewachsen war, bewegte Naralex die freie Hand nach links. Der Pflanzenspross wölbte sich in diese Richtung.

Der Nachtelf machte eine Bewegung nach rechts. Und die neue Pflanze folgte dieser Geste.

„Das ist unsere eigentliche Aufgabe“, meinte Naralex feierlich zu Hamuul. „Hüter des Lebens, Gärtner des Paradieses...“

„Wenn denn Azeroth perfekt wäre, ja“, stimmte ihm der Tauren zu. „Aber das ist es nicht.“

„Nein... das ist es nicht.“ Naralex setzte den Samen zu Boden. Er zog einen Kreis um den Samen herum.

Der Boden um den Kreis rührte sich. Der Samen sank ein, bis nur noch der Schössling übrig blieb.

Naralex reinigte den Bereich um die Pflanze, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Hamuul zu. „Und habt Ihr unseren Bruder Broll gefunden?“

Der Tauren bemühte sich nicht zu schnauben. „Ich suche immer noch nach ihm.“

Die Augen des Nachtelfen verengten sich. „Wir beide wissen, dass er nie mit uns zurückgekommen ist, Bruder Hamuul.“

Hamuul bestätigte es nicht, aber genauso wenig widersprach er. „Ich habe dem Erzdruiden Fandral Hirschhaupt versprochen, nach Broll zu suchen. Ich muss weiter.“

Naralex streckte die Hand vor, um den Tauren aufzuhalten, was unter anderen Umständen eine gefährliche Aktion gewesen wäre. „Erzdruide Fandral kümmert sich gerade um etwas anderes. Er ist im Augenblick nicht einmal hier, Bruder Hamuul.“

„Nicht hier?“ Erneut versuchte der Tauren, jedes Anzeichen von Vorsicht zu verbergen.

„Während Ihr... anderswo wart... schlug er vor, dass wir alle tun, was wir können, um unsere Gedanken zu reinigen, damit wir nach unserer Rückkehr mit einem neuen Zauber für Teldrassil beginnen können.“

„Und wo ist er in der Zwischenzeit hin?“

Naralex blickte hoch... und noch höher. „Zur Enklave natürlich. Er sagte, dass er in der Abgeschiedenheit seines Sanktums nach Führung sucht.“

Hamuul schnaubte, bevor er es unterdrücken konnte. Er hatte eine Vermutung, wo Broll Bärenfell hingeflogen sein mochte, obwohl er über das genaue Ziel nur spekulieren konnte. Der Tauren konnte sich vorstellen, was Broll dort wollte. Doch er selbst wäre nicht so kühn gewesen... oder doch?

Naralex senkte den Arm. „Ich dachte, Ihr wüsstet es vielleicht gern. Glaubt Ihr, dass unser Bruder Broll vielleicht einen ähnlichen Gedanken gehabt haben könnte... Führung in der Enklave zu suchen, meine ich natürlich?“

Völlig gefasst antwortete Hamuul: „Ich bezweifle, dass Broll Bärenfell dort oben gefunden werden kann.“

Der Nachtelf nickte leicht. „Das bezweifle ich ebenfalls. Ich bin froh, dass wir einer Meinung sind.“

Hamuul verließ Naralex und dachte nach. Naralex hatte versucht, ihn zu warnen, für den Fall, dass Broll oben in der Enklave wäre. Der Nachtelf hatte sich wahrscheinlich gefragt, warum Broll nicht zur Versammlung zurückgekehrt war und war zu dem Schluss gekommen, den er vermutlich für die naheliegendste Antwort hielt.

Und das bedeutete, dass der oberste Erzdruide vielleicht zu dem gleichen Schluss gekommen war.

Stirnrunzelnd lehnte sich der Tauren zurück, um nach Darnassus hinaufzublicken. Er hoffte, dass er mit einer Sache richtig lag. Dass Broll Bärenfell nicht oben in der Enklave war. Denn der Druide hatte dort eigentlich nichts verloren, es sei denn, dass er etwas im Sanktum von Erzdruide Fandral suchte. Hamuul befürchtete, dass es sich dabei um das Götzenbild des Remulos handeln könnte. Der Tauren konnte sich nichts anderes vorstellen. Immerhin war das Götzenbild an den Smaragdgrünen Traum gebunden, in dem Erzdruide Malfurion Sturmgrimms Traumgestalt verloren gegangen war.

Und es war an etwas gebunden, dass jemand so Ungestümes wie Broll hätte nutzen können, um den vermissten Shan’do zu finden.

Das würde er nicht tun... Broll würde das nicht riskieren...

Hamuul blinzelte. Doch. Broll würde.

Ein Schatten glitt über ihn. Er drehte sich und sah, wie eine große Sturmkrähe landete. Das konnte nur Fandral sein, der zurückkehrte. Der oberste Erzdruide zog diesmal die Schnelligkeit der Fluggestalt dem ehrwürdigeren Auftritt vor, den er bei Beginn der Versammlung gewählt hatte.

Als die Sturmkrähe landete, wurden aus Flügeln Arme, die Beine wuchsen, und aus Krallen wurden Füße. Die Federn flogen fort oder wurden zu Haaren und Kleidung. Der Schnabel wich zurück, verwandelte sich in einen Mund und die Nase...

Fandral, der wieder er selbst war, straffte sich. Unter allen versammelten Druiden richtete er seinen Blick auf den entfernt stehenden Hamuul.

Erhebliche Enttäuschung erfüllte den Blick des Erzdruiden. Hamuul erkannte sofort, dass Fandral über alles im Bilde war, was Broll getan hatte.

Der Tauren betete darum, dass sein Freund wusste, was er riskierte.


Sie waren schon wieder gesprungen. Broll wusste es, obwohl er sich wieder einmal nicht lange genug auf den Ort konzentrieren konnte, von dem sie gekommen waren. Er war sicher, dass es der Smaragdgrüne Traum gewesen war... doch warum waren dann seine Erinnerungen an diese Momente so flüchtig wie der Nebel, der Auberdine umgab?

Und wie konnte ein Mensch – ein Mensch! – in der Lage sein, das mystische Reich physisch zu betreten, ohne es zu bemerken?

Doch im Moment hatten sie keine Zeit, solche Antworten von Lucan Fuchsblut zu bekommen. Die drei waren immer noch auf der Flucht, weil Lucans plötzliche Aktion sie nicht von dem Drachen weg befördert hatte... sondern stattdessen darunter.

„Runter!“, flüsterte Tyrande.

Schnell wie der Wind stieß der Schatten hinter ihnen herab. Der Windstoß, den er dabei erzeugte, bestätigte die Vermutung der Hohepriesterin. Die drei wurden in die Knie gezwungen.

Doch... der Drache wendete nicht. Er ging nicht in Schräglage oder stürzte sich auf sie. Stattdessen tauchte er tief in die Hügel hinab, knapp außerhalb ihrer Sichtweite... und stieg nicht wieder auf.

Broll war der Erste, der aussprach, was die anderen sicherlich dachten. „Bei dieser Geschwindigkeit hätte er entweder hochkommen müssen, oder er ist abgestürzt...“

„Was treibt ein schwarzer Drache hier?“, fragte Tyrande. „Wo immer hier auch sein mag...“

„Er war nicht schwarz.“

Die Nachtelfen blickten Lucan an. Mit immer noch wildem Blick wiederholte er seine Behauptung. „Er... er war nicht schwarz... er war grün.“

„Ein farbenblinder Mensch“, grunzte Broll.

„Wenn er farbenblind wäre, hätte er nicht grün statt schwarz gesehen“, meinte die Hohepriesterin. In beruhigendem Tonfall sagte sie zu Lucan: „Erzählt uns, warum Ihr glaubt, dass der Drache grün war.“

Er zuckte mit den Achseln. „Er war nah genug, dass man es erkennen konnte.“

Der Druide schüttelte den Kopf. „Na, das ist mal eine Antwort. Und noch die falsche dazu. Wir waren schließlich auch nah genug um zu beurteilen, dass er schwarz war.“

Tyrande musterte den Menschen. Schließlich sagte sie: „Eine Antwort, die einige Wahrheit enthält. Zumindest so, wie Lucan die Welt sieht.“ Sie überprüfte die Gleve. „Ich glaube, wir sollten diesen Drachen untersuchen, der schwarz sein könnte oder auch grün. Es könnte einen Grund geben, warum wir in seiner Nähe herausgekommen sind.“

„Und wenn sich herausstellt, dass es ein schwarzer Drache ist?“

Sie gingen in die Richtung, in der sie die Bestie zuletzt gesehen hatten. Tyrande hielt die Gleve wurfbereit. „Dann töten wir ihn.“

Lucan blickte zu Broll, als würde er darauf hoffen, dass er ihm sagte, Tyrande hätte es nicht so gemeint. Stattdessen packte der Druide den Kartografen am Arm, zog ihn hinter sich her und sagte: „Bei uns bist du besser aufgehoben als allein...“

Lucan wirkte nicht allzu überzeugt.

Sie machten sich auf den Weg über die Hügel und gingen so schnell, wie Lucan es zuließ. Er war nicht langsam, doch weder war er m optimaler Verfassung noch ein Nachtelf. Dennoch hielt er das Tempo besser durch, als Broll es erwartet hatte nach seiner Erfahrung mit all den Menschen, mit denen er schon zu tun gehabt hatte.

Sie hatten kurz angehalten, als Broll ein Jucken im Nacken verspürte. Er blickte sich um.

„Was ist?“, fragte Tyrande leise.

„Ich dachte, jemand folgt uns... doch ich habe mich geirrt.“

Wenig später blieb die Priesterin erneut stehen. Lucan nutzte den Moment, um zu Atem zu kommen, während die Nachtelfen sich unterhielten.

„Wenn der Drache wirklich gelandet ist... muss er bereits sehr nah sein“, bemerkte Tyrande.

„Stimmt. Wir sind an ein paar Höhlen vorbeigekommen, doch keine war groß genug für ein solch riesiges Wesen... und dieser Drache ist größer als die meisten anderen, egal von welcher Farbe.“

„Dennoch haben wir ihn nicht in der Luft gesehen.“

Broll dachte nach. „Vielleicht ist an dem, was Lucan gesagt hat, doch etwas dran. Wenn der Drache...“

Tyrande blickte sich um. „Wo steckt Lucan?“

Der Druide drehte sich um. Der Mensch war nicht mehr dort, wo er ihn zurückgelassen hatte.

Einen Augenblick lang blickten sich die Nachtelfen an, als würden sie beide dasselbe denken... dass Lucan wieder einmal dorthin verschwunden war, was Broll für einen Teil des Smaragdgrünen Traums hielt. Ein kurzes Klackern von Steinen vor ihnen verriet den beiden dann die simple Wahrheit.

Lucan war nur vorausgegangen.

Oder besser gesagt... er kletterte den Berghang in einem bemerkenswerten Tempo hinauf, wenn man bedachte, wie erschöpft er war.

„Lucan!“, rief der Druide so vorsichtig, wie er konnte. „Lucan!“

Doch der Kartograf ignorierte ihn. Broll folgte ihm schließlich. Tyrande war nur einen Schritt dahinter. In der Nähe einer möglichen Drachenhöhle konnten sie sich so einen Leichtsinn kaum leisten.

Lucan arbeitete sich zur Spitze des Hügels vor. Broll erwischte ihn am Knöchel, kurz bevor der Mensch die andere Seite wieder hinuntergehen konnte. Der Druide zog sich zu Lucan hoch.

„Seid Ihr verrückt geworden...?“ Broll war überzeugt, dass er die Antwort darauf kannte. Denn Lucan starrte ihn an, als hätte er auch noch den Rest von Verstand verloren.

„Er ist dort unten“, murmelte Lucan schließlich. Er wies auf eine Handvoll Höhlen unterhalb ihrer Position. „Die, mit der Spitze über dem Eingang. Dort ist der Drache.“

„Und woher wisst Ihr das?“

Als Antwort konnte Lucan nur mit den Achseln zucken.

Tyrande trat zu den beiden Männern. „Habe ich ihn richtig verstanden? Der Drache ist dort unten?“

„Er scheint sich sicher zu sein.“ Ein Geräusch erregte Brolls Aufmerksamkeit. Er blickte den Weg hinab, den sie gekommen waren. „Da ist etwas oder jemand hinter uns...“

„Kümmert Euch nicht darum. Lucan geht schon weiter!“

Broll wandte sich um und sah, dass der Mann tatsächlich, nachdem der Druide ihn nicht mehr festhielt und beide Nachtelfen abgelenkt waren, die andere Seite des Berges hinabstieg. Obwohl Broll wusste, dass sie einen Verfolger im Nacken hatten, eilte er hinter Lucan her.

Am Fuß des Hügels holte er den Kartografen ein. Broll riss Lucan herum und erkannte den beinahe leeren Blick.

„Wollt Ihr sterben?“, fragte er den Menschen.

„Nein...“ Lucan schien schließlich zu begreifen, wo er war. Sein Gesicht wurde noch bleicher. „Ich bin... ich bin nur dahin gegangen, wo ich hin musste.“

Broll gab die Hoffnung auf, seinen Begleiter verstehen zu wollen und begann, Lucan zurück zu Tyrande zu zerren, die dicht hinter ihnen war.

Ein tiefes, trauriges Reptilienzischen erklang aus der Höhle.

Die drei rührten sich nicht. Schließlich machte die Hohepriesterin einen Schritt auf die Höhle zu.

„Es muss noch einen anderen Eingang geben!“, murmelte sie. „Der ist viel zu klein für einen Drachen...“

Broll verzog bei dem Gedanken das Gesicht. „Dann... ist es ein guter Eingang für uns!“

Tyrande nickte. Lucan schluckte und sagte nichts.

Besorgt um den Menschen, der sicherlich kein so erfahrener Kämpfer war wie Varian Wrynn, sagte Broll: „Dort drüben befinden sich ein paar große Felsen. Ihr könnt Euch dort verstecken. Wenn wir in gut einer Stunde nicht zurück sind, haltet Euch Richtung Osten. Ich glaube, ich weiß ungefähr, wo wir sind. Wir befinden uns schon näher bei Eschental, als ich zunächst dachte.“

Zur Überraschung beider Nachtelfen straffte sich Lucan und antwortete: „Nein. Ich komme mit euch. Ihr habt mir geholfen... und ich habe euch hierher gebracht.“

Sie hatten keine Zeit für Diskussionen. Broll nickte, Tyrande zog einen Dolch aus dem Gürtel und gab ihn Lucan. Er nahm ihn an, obwohl ihm klar sein musste, wie nutzlos er gegen einen Drachen war. Dennoch spendete ihm die Waffe etwas Trost... und möglicherweise wurde dem Menschen bewusst, dass er sie im verzweifeltsten aller Fälle auch gegen sich selbst richten konnte...

Broll wollte die Führung übernehmen, doch Tyrande war bereits vorausgegangen. Sie schien begierig darauf, sich dem Drachen entgegenzustellen. Als könnte das Malfurion zurückbringen.

Oder sie zu ihm bringen, wenn sie beide sterben?, fragte sich der Druide mit plötzlicher Sorge.

Tyrande hielt die Gleve hoch, bereit sie zu werfen, als sie die Höhle betraten. Die Höhle war dunkel. Im Gegensatz zu Lucan störte das die beiden Nachtelfen nicht. Dennoch erzeugte die Hohepriesterin ein kleines Licht, vielleicht für den Menschen oder auch nur, um die Aufmerksamkeit des Drachen zu erregen.

„Bleibt zusammen“, ermahnte Broll vor allem den Kartografen. Er bezweifelte nicht, dass Lucan das auch vorhatte. Doch so wie der Mann für gewöhnlich herumspazierte, war es sicher nicht verkehrt, wenn man ihn daran erinnerte.

Die Höhle zog sich von einer Seite zur anderen und wurde hinter dem Eingang schmaler. Sie war nun so eng, dass sie kaum nebeneinander hergehen konnten. Wenn irgendwo weiter vorne ein Drache lauerte, musste es einfach einen anderen Eingang geben. Das behielten sie im Hinterkopf für den Fall, dass dieser Ausgang vielleicht blockiert wurde.

Natürlich würde der andere Eingang dem Drachen auch erlauben zu fliehen.

Die Höhle wurde kälter. Schwarze Drachen bevorzugten wärmere Orte, was Lucans Vermutung bestätigte, dass Broll falschlag. Dennoch hatten der Druide und die Hohepriesterin beide eine schwarze Kreatur gesehen.

Wenn es kein schwarzer Drache war, warum sollte sich ein Drache von anderer Farbe derart tarnen?

Broll erinnerte sich plötzlich an etwas, das er in ihrer derzeitigen schlimmen Situation bislang verdrängt hatte. Vor langer Zeit hatte er der schrecklichen Tochter des großen schwarzen Drachen Todesschwinge gegenübergestanden. Wie der Vater, so war auch Onyxia ein wahres Monster gewesen. In diesem Zusammenhang fiel Broll ein, dass sie auch eine andere Gestalt hatte annehmen können... selbst das Aussehen deutlich kleinerer Arten.

Er berührte Tyrande an der Schulter. Die Hohepriesterin drehte sich leise um.

„Vorsicht“, flüsterte Broll. „Diese Tunnel sind vielleicht doch groß genug für einen Drachen.“

Ihre Augen verengten sich. Tyrande Wisperwind war sich ebenfalls dieser speziellen Fähigkeit der Drachen bewusst. Sogar mehr noch als Broll, der ihre Verbindung zu dem roten Drachen Korialstrasz nicht kannte. „Ja“, murmelte sie. „Wir müssen sehr vorsichtig...“

Dann erklang ein Geräusch. Es war eine kaum wahrnehmbare Bewegung von irgendwo tiefer drinnen. Die drei versteiften sich augenblicklich. Broll schob Lucan hinter Tyrande und sich selbst. Die Hohepriesterin trat vor, bevor Broll sie zurückhalten konnte.

Nur ein paar Meter weiter in der Höhle kamen sie zu einer größeren Kammer, die mit Löchern durchsetzt war – allesamt groß genug, um durchgehen zu können. Die Kammer war vielleicht zehn Mal so groß wie der Druide, und die rauen Kanten enthüllten Pfade, von denen einige sicherlich gefährlich waren und über die man viele der Durchgänge erreichen konnte.

Doch am wichtigsten waren die Fußabdrücke, die Broll unter den Stalagmiten am Boden der Kammer entdeckte. Er kniete nieder, um sie zu untersuchen.

„Sie sehen aus, als stammten sie von jemandem wie uns“, meinte der Druide zu Tyrande. „Oder vielleicht von Lucans Volk. Sie überlagern sich zudem. Wem auch immer sie gehören, er hat diese Höhle oft betreten.“

„Ich spüre einen Windzug“, bemerkte sie. Sie stieß die Spitze der Gleve auf den Boden. „Es gibt noch mindestens einen weiteren Eingang in der Nähe.“

„Suchen wir danach?“

„Wohin führen die meisten Fußabdrücke?“

Er untersuchte sie genau, schließlich wies er nach rechts. „Da lang...“

Als Broll aufstand, blinzelte Lucan, dann setzte er an, um Tyrande etwas zu sagen. Doch die Hohepriesterin berührte schnell sein Handgelenk und drückte es sanft.

„Der Windhauch kommt exakt aus der Richtung, in die die Spuren führen“, sagte die Hohepriesterin und ließ das Handgelenk des Menschen los. „Wir können ihnen entweder folgen oder...“

Tyrande verstummte. Ihr Gesicht war plötzlich hoch konzentriert.

Das Licht von Elune erhellte die Kammer.

Und in dem Licht wurde eine Gestalt enthüllt, die bis eben noch unsichtbar für sie gewesen war. Doch Lucan hatte sie mit seinem besonderen Talent bereits gespürt. Tyrande hatte das erkannt und ihn verstummen lassen, um ihren Beobachter zu überraschen.

Der war in eine lange Kapuzenrobe gehüllt und wirkte wie eine Mischung aus Magier und Priester. Die Gestalt war ein paar Zentimeter größer als Broll, der mit seinen 2,10 Metern selbst nicht klein war. Doch die Gestalt war zierlicher. Ihre Hände ähnelten denen eines Nachtelfen. Das Gesicht wies auch die Züge von Nachtelfen auf, doch es war viel blasser. So etwas gab es unter den Elfen nicht.

Mehr konnten die drei nicht erkennen, weil die Gestalt augenblicklich ihre Hand in Richtung der vermeintlich größten Bedrohung ausstreckte. Sie richtete den Arm auf die Hohepriesterin.

Das war ein Fehler, den Broll ausnutzte.

Der Druide warf sich auf den mysteriösen Zauberer. Doch nicht in seiner Gestalt als Nachtelf. Broll verwandelte sich in eine riesige pelzige Gestalt, die mehr als den doppelten Umfang von Broll hatte. Der Mund des Druiden und die Nase verlängerten sich, wuchsen zusammen und bildeten ein zähnefletschendes Maul. Mit seinen großen Tatzen riss er an dem Zauberer. Broll war nun ein grimmiger Bär.

Sein Feind taumelte unter dem Ansturm von Körpermasse und dem daraus resultierenden Schwung zurück. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde die Gestalt zu Boden gehen.

Plötzlich wurde Brolls Gegner von einer grünen Aura eingehüllt. Der Druide flog zur Seite und prallte schließlich gegen zwei Stalagmiten, zerschmetterte einen und war für einen Moment benommen.

Tyrande hielt ihre Gleve bereit, doch sie griff nicht an. Die Hohepriesterin blickte den Zauberer an.

Erst als sie seine Augen sah, überkam die Hohepriesterin das Gefühl, dass sie wissen sollte, wem sie da gegenüberstand. Seine Gestalt war ein klein wenig verändert, sonst, da war sich Tyrande sicher, hätte sie ihn schon viel eher erkannt. Sie versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern.

Zum Schrecken aller drei stieß der Mann einen schmerzgeplagten Schrei aus, legte einen Arm vor das Gesicht... und begann, sich zu verwandeln.

„Wartet!“, rief Tyrande. „Wartet! Es sei denn, Ihr gehört zu den schwarzen Drachen, wir suchen Hilfe, keinen Kampf!“

Die Transformation hatte gerade erst begonnen, sodass seine wahre Gestalt sich noch nicht im Geringsten verändert hatte. Der Zauberer unterbrach die Verwandlung, ließ den Arm sinken und starrte sie mit einem Ausdruck an, der an Mitleid erinnerte.

„Es wäre besser für dich, wenn du tatsächlich einem Drachen von Todesschwinges Sippe gegenüberstehen würdest, kleine Nachtelfe! Er wäre weit weniger ein Monster, als ich es bin!“

„Ihr seid ein Monster?“, raunte Broll und kehrte zu seiner wahren Gestalt zurück. Er sah sich um und suchte den Gegenstand, den er in seiner Bärengestalt nicht mit sich herumtragen konnte.

Er lag zu Füßen seines Gegners, der ihn nun vom Boden der Kammer aufhob. „Ah! Dieses verfluchte Ding! Ich habe seine Gegenwart gespürt! Ich wünschte, sie hätte mich niemals gebeten, meine Kraft dort hineinzulegen!“

Der Druide stand auf. „Dann seid Ihr der grüne Drache, der an das Götzenbild des Remulos gebunden ist!“

„Gebunden ist das treffende Wort!“ Die Figur flog auf Broll zu. Als der Nachtelf sie mit einer Hand fing, zischte der Drache. „Daran gebunden mit all meiner Essenz... auch wenn meine Ysera nicht vorhersehen konnte, welch schreckliche Dinge damit ausgelöst werden sollten. Als das Götzenbild ursprünglich erschaffen wurde, wollten wir Remulos und allen, die er für wert befand, eine nützliche Hilfe an die Hand geben.“ Er blickte zu dem Druiden. „Wo wir gerade davon sprechen. Ich erkenne dich an deiner magischen Signatur, wenn auch nicht dem Namen nach. Du hast das Ding vor einiger Zeit benutzt, mit schrecklichen Auswirkungen...“

Broll verzog das Gesicht. „Aye, sehr schrecklichen... und als ich dann dachte, es wäre verloren, stellte sich heraus, dass es befleckt war...“

Die Gestalt in der Kapuze lachte verbittert auf. „Diese Befleckung war gar nichts gegen die wahre Gefahr, Druide... Du hast Glück, dass ich nur noch ein Schatten meiner Selbst bin, sonst hätte diese Verderbtheit vor gar nicht so langer Zeit dein Herz berührt...“

Der Druide machte sich für einen weiteren Angriff bereit, war aber so schlau, noch einen Moment zu warten. Er wollte mehr erfahren... und vielleicht eine Möglichkeit finden, Blutvergießen zu vermeiden. „Was meint Ihr damit?“

Sein Gegner blickte skeptisch. „Bist du blind? Hast du den Albtraum nicht gespürt?“

„Aye, ich habe ihn gespürt, so wie die meisten anderen Druiden auch! Zwar sind wir keine Drachen, doch auch wir haben für den Smaragdgrünen Traum gekämpft...“

„Dummes Geschwätz!“ Der schlaksige Elf wurde größer, seine Worte endeten in einem Brüllen. „Du weißt gar nichts! Du verstehst gar nichts! Nicht einmal ich habe verstanden, ich, der an ihrer Seite stand! Ich habe sie verraten, verriet den Traum und half dem Albtraumlord dabei, nicht nur dieses Reich zu erobern... sondern auch noch die ganze Ebene der Sterblichen!“

Jetzt wusste Broll zumindest, wem sie gegenüberstanden. Als der Drache weniger Elf seiner Gestalt nach wurde und mehr seiner eigenen Art glich, ging der Druide zu Tyrande. Sie würden all ihre Kraft brauchen, wenn sie dem Drachen entfliehen wollten.

„Ich kenne Euch nun“, sagte er ruhig zu dem halb verwandelten Riesen. „Ihr seid einer der korrumpierten Drachen! Ihr seid einer von denen, die der Albtraum gegen Ysera selbst einsetzt...“

Große ledrige Flügel breiteten sich über die gesamte Länge der Kammer aus. Lange scharfe Hörner stießen aus dem Kopf hervor. Der Körperumfang des Drachen nahm mehr als zwei Drittel des Raums ein. Grüne Drachen waren geschmeidiger als die meisten anderen, ätherischer. Doch dieser hier war ein Riese, der seinen langen Hals beugen musste, um stehen zu können. Die Augen blitzten so wild wie die von Lucan in seinen schlimmsten Zeiten. Broll erkannte, dass der Drache sie die ganze Zeit lang mit offenen Augen beobachtet hatte, obwohl die Augen von grünen Drachen normalerweise geschlossen waren, weil sie permanent halb im Traum lebten.

„Einer der korrumpierten Drachen... was für eine Vereinfachung, kleiner Nachtelf... Du kannst kaum verstehen, was das bedeutet! Du verstehst nicht, was es bedeutet, wenn Geist, Herz und Seele -Seele, so wie wir Drachen sie verstehen – entfernt werden, von der Dunkelheit aufgefressen werden und du in deine körperliche Hülle zurückgezwungen wirst!“ Wieder ertönte das bittere Gelächter und erschütterte die Höhle derart, dass einige der Stalaktiten abbrachen. Das Trio konnte den herabstürzenden Steinen ausweichen, doch der Drache ließ sich von den Tonnen Kalkstein und Fels, die gegen seine geschuppte Haut krachten, nicht im Geringsten ablenken.

„Einer der Korrumpierten“, wiederholte der grüne Riese. „Wäre das so, wäre ich nicht nur irgendeiner von ihnen!“ Der Kopf des großen Reptils neigte sich hinab und verharrte nur wenige Zentimeter von den Nachtelfen und dem Menschen entfernt. „Ich war mehr als das, kleine Kreaturen! Ich war ihr engster Vertrauter... und deshalb war mein Verrat so viel schlimmer und in letzter Konsequenz weitaus schrecklicher! Habt ihr die Schläfer gesehen? Habt ihr ihre Schatten gesehen? Das alles begann mit meiner Hilfe...“

Tyrande wagte etwas zu sagen. Ihre Stimme klang gleichmäßig und beruhigend. „Ich erkenne Euch jetzt, obwohl Ihr Euch in einer mir nicht vertrauten Gestalt zeigt. Doch jetzt seid Ihr ganz eindeutig nicht mehr korrumpiert. Ihr habt es überwunden...“

„Mit der Hilfe anderer... doch was ich damals nicht wusste, war, dass er mich erneut rufen würde... jeden Moment... ruft er mich! Er begehrt mich mehr als alle anderen, denn ich bin... war... ihr Geliebter... ihr Gemahl...“

„Gemahl?“ Broll knirschte mit den Zähnen. „Ihr seid...“

Der Drache brüllte und ließ ihn verstummen. Die Augen – diese kalten smaragdgrünen Augen – fixierten den Druiden. „Ja... ich bin Eranikus, erster Gemahl von Ysera...“ Sein Maul öffnete sich weit. „Und da ihr wisst, dass ich hier lebe... müsst ihr alle sterben...“

Загрузка...