19 Erwachen im Albtraum

Es gab keine Hoffnung. In seinem ganzen langen Leben hatte Malfurion eine solche Gefahr nur einmal erlebt. Das war im Krieg der Ahnen gewesen.

Der grüne Drache, den ihnen Ysera geschickt hatte, trug immer noch Malfurion, Tyrande, Broll, Lucan und auch Thura von der Katastrophe weg. Die grünen Drachen befanden sich auf dem Rückzug, und die letzten Verteidiger am Boden waren in völliger Auflösung begriffen, weil sie wussten, was geschehen war. Ihre Moral war so gering wie die von Malfurion, vielleicht sogar noch geringer. Sie wussten, dass sie allmählich verloren. Doch nun erkannten sie zudem, dass all ihre Bemühungen nichts als Lügen gewesen waren. Der Albtraum hatte sie provoziert und auf seine Gelegenheit gewartet.

Da er Ysera in seiner Gewalt hat, kann er alles machen! Warum hat sie das alles für mich riskiert?

Ysera war zwar erst durch Lethons Trickserei gefangen genommen worden. Doch sie wäre gar nicht in Gefahr geraten, wäre da nicht ihr völlig unerklärliches Interesse an Malfurions Flucht gewesen.

„Er holt uns ein!“, brüllte Tyrande.

Sie sprach die schreckliche Wahrheit aus. In seinem Kopf sah Malfurion den leuchtenden Umriss eines anderen Druiden in seiner Traumgestalt, der nicht von den Ranken des Schattenbaums angriffen wurde, sondern von den Opfern des Albtraums. Deren Klauenhände zerrten an der Traumgestalt, als bestünde der Nachtelf aus dünnem Stoff. Er schrie, als sein innerstes Wesen in tausend Stücke gerissen wurde...

Kaum einen Augenblick später sah Malfurion den Druiden in vorderster Reihe der monströsen Horde des Albtraums kämpfen. Seine Traumgestalt war nun dunkler und hagerer. Korrumpiert richtete er seine verderbten Finger auf den nächsten der übrig gebliebenen Verteidiger, damit er sich dem Albtraum anschloss.

Aber so fürchterlich sein Versagen auch war, so verschwindend gering die Chancen, wusste der Erzdruide dennoch, dass er sich dem Unausweichlichen nicht verschließen konnte. Er durfte nicht zulassen, dass der Albtraum noch einen Sieg errang, während er floh.

Doch als er sich in den Kampf stürzen wollte, brüllte ihm der grüne Drache zu: „Jetzt ist nicht die Zeit dafür! Ysera hat sich nicht für dich geopfert, damit du gleich wieder verloren gehst! Meine Königin sagte uns kurz vor dem Angriff, dass du wichtiger für Azeroth bist als sie! Und obwohl wir das kaum glauben konnten, vertrauen wir doch ihrem Wort!“

„Wichtiger?“, fragte Malfurion ungläubig. „Sie hat den Albtraum so lange bekämpft, dass ihr Geist sicherlich darunter gelitten hat!“ Er gab sich mehr Mühe, sich zu befreien und spürte schließlich, wie sich seine Traumgestalt von dem Drachen löste.

Tyrande spürte, was er tat. Sie griff nach dem Erzdruiden. „Malfurion! Nein!“

Ihre Hand glitt durch seine Traumgestalt hindurch. Malfurion bemühte sich, nicht auf sie zu achten. Ein Teil von ihm wollte nichts anderes, als bei Tyrande bleiben, aber seine Pflicht verlangte ihn anderswo.

Zu seiner Bestürzung begann die Umgebung zu verblassen. Zu spät erkannte der Erzdruide, dass er durch seine Anstrengung, sich vom Zauber des grünen Drachen zu befreien, etwas anderes in Gang gesetzt hatte.

„Nein!“ Malfurion versuchte das Unausweichliche aufzuhalten. „Nein!“

Der Erzdruide setzte sich auf. Der Schmerz durchzuckte augenblicklich seinen Körper. Er fasste sich an die Brust und rollte sich herum.

Er war wieder zurück in der Gruft. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen. Das Band zwischen seinem Körper und seiner Traumgestalt war stark.

Doch etwas fühlte sich falsch an. Malfurion bleckte die Zähne und kämpfte gegen den Schmerz an. Lag es daran, dass er so lange fort gewesen war?

Der Erzdruide stieß ein Grunzen aus. Ihm war klar, dass er ohne die Hilfe anderer möglicherweise nicht so lange überlebt hätte.

Sein Körper befand sich in gutem Zustand. Er spürte die Berührung Elunes, eine Kraft, die der Nachtelf noch gut von Tyrande kannte. Malfurion hatte keinen Zweifel, dass seine Geliebte hinter den Rettungsmaßnahmen steckte.

Aber obwohl er so laut stöhnte, kam ihm keine Priesterin zu Hilfe.

Allmählich erholte er sich. Plötzlich spürte Malfurion etwas, das er nur mit den hoch entwickelten Fähigkeiten eines Druiden bemerken konnte.

Die Quelle seines Leidens – die ihn immer noch töten wollte – war die winzige Menge eines Pulvers. Schnell identifizierte er das magisch verstärkte Kraut, das zu seiner Herstellung benutzt worden war. Morgenkorn. Morgenkorn wurde angeblich für einige primitivere Flüche verwendet. Doch obwohl es durchaus wirksam war, hatte irgendjemandem die ihm innewohnende Kraft allein nicht ausgereicht. Dieser schwache Zauber hätte genügen müssen, um Malfurions langsamen, aber sicheren Tod zu garantieren.

Wer immer auch dafür verantwortlich war, hatte jedoch das heilende Licht von Mutter Mond unterschätzt. Damit hatten die Priesterinnen Malfurions Körperhülle am Leben gehalten, obwohl das Gift auf die Dauer vielleicht doch noch gewirkt hätte.

Malfurion konzentrierte sich auf das Pulver und zog es aus seinen Körperzellen heraus. Er bildete eine faulige Kugel daraus...

Plötzlich musste sich der Erzdruide übergeben.

Er konnte die kleine Kugel nicht erkennen, die er ausspuckte. Aber er spürte, wie ihr grässlicher Einfluss schwand. Malfurion schnappte nach Luft, als er sich langsam erneut erhob.

Erst dann erblickte er die beiden Priesterinnen. Beide lagen auf dem Boden seiner Gruft. Sie lebten noch, waren aber ohne Bewusstsein.

Dabei zuckten sie und murmelten immer wieder etwas mit angsterfüllter Stimme.

Auch in der Gruft hatte sich der nur allzu vertraute Nebel ausgebreitet.

Malfurion hatte ursprünglich vorgehabt, erneut zu meditieren, um in seine Traumgestalt zurückzukehren. Doch nun ging er vorsichtig durch den Nebel auf den Eingang zu. Er konnte nichts für die Priesterinnen tun, zumindest nicht im Augenblick. Der Erzdruide musste wissen, wie weit sich die Bedrohung bereits über die Mondlichtung ausgebreitet hatte.

Aber das Bild, das sich ihm draußen bot, zeigte, wie falsch er gelegen hatte. Die Mondlichtung war völlig vom Nebel bedeckt, wodurch sie eher wie ein Friedhof wirkte. Kein Geräusch war zu hören, nicht einmal eine Grille.

Der Nachtelf schlich vorsichtig durch das Gestrüpp und kam zu einer weiteren Gruft. Er schlüpfte hinein.

Er erblickte eine reglose Gestalt in vertrauter Robe. Die Kapuze bedeckte das Gesicht des Schläfers. Malfurion kniete neben dem Druiden nieder und berührte die Handgelenke des Nachtelfen.

Sie fühlten sich kalt an.

Malfurion schob schnell die Kapuze beiseite.

Der offen stehende Mund der Leiche ließ den Erzdruiden erschaudern. Der Bewohner der Gruft hatte offensichtlich seine Traumgestalt ausgeschickt, war aber nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig zurückzukehren. Malfurion fragte sich, ob der arme Kerl zu denen gehört hatte, die den Albtraum bekämpften oder ob er schon vorher fortgegangen war.

Weil Malfurion derzeit nichts für die sterblichen Überreste des Druiden tun konnte, verließ er die Gruft. Er fragte sich, wie viele der anderen irdenen Grüfte solche Leichen enthielten.

Malfurion wusste, dass seine Chancen, den Lebenden zu helfen, größer waren als bei den Toten. Er überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Der Erzdruide dachte nicht länger an Meditation, die Mondlichtung war befleckt worden. Die Rückkehr in seine Traumgestalt war zu riskant. Er musste an einen anderen Ort, andere Verbündete finden.

Doch am wichtigsten war, herauszufinden, was mit Tyrande und den anderen geschehen war. Sie hatten den Smaragdgrünen Traum in ihrer physischen Gestalt betreten. Malfurion war klar, dass sie ein Portal benutzt hatten. Und das nächste befand sich im Eschental.

Kaum hatte er seinen neuen Weg gewählt und begonnen, sich in eine Sturmkrähe zu verwandeln, als Malfurion erkannte, dass er sich auf etwas anderes konzentrieren musste, das ihn fast in die entgegengesetzte Richtung führte. Obwohl er lange eingesperrt gewesen war, wusste Malfurion, dass sein Volk eine neue Siedlung im Westen geplant hatte, einen Ort fern der Küste. Selbst durch den Albtraum hindurch hatte Malfurion die mächtigen Versuche der anderen Druiden gespürt, etwas zu tun. Unglücklicherweise hatte er nicht mitbekommen, wie es ausgegangen war, weil er seine eigenen Aktionen vor dem Albtraum verborgen halten musste. Er hatte allerdings ein paar Hinweise und Vermutungen...

Er schaute sich auf der nebelverhangenen Lichtung um. Es gab kein Anzeichen von Remulos. Sicherlich wäre der Wächter der Mondlichtung erschienen, wenn er gespürt hätte, dass Malfurion erwacht war. Malfurion ließ seine Gedanken weit hinauswandern, konnte den Halbgott aber immer noch nicht finden. Hatte sich Remulos auch den anderen Druiden angeschlossen?

Die Ironie, dass er nun auf Azeroth genauso allein war wie als Gefangener des Albtraumlords, entging dem Erzdruiden nicht. Er dachte darüber nach – und dann fragte er sich, warum er eigentlich noch seine Zeit verschwendete, statt sofort zu handeln.

Malfurion konzentrierte sich. Augenblicklich verschwamm seine Umgebung... und erst da erkannte er die wahre Gefahr.

Er war einem Tagtraum zum Opfer gefallen. Er konnte nichts dafür. Der Albtraum war so mächtig, dass er die Mondlichtung bereits durchdrungen hatte. Gefangen in der Sorge um andere, hatte der Erzdruide nicht bemerkt, wie er in einen halbdämmernden Zustand geglitten war. Wahrscheinlich war den Priesterinnen neben seinem Körper dasselbe passiert.

Aber das hatte dem Albtraum nicht gereicht. Malfurion bewegte sich und stellte fest, dass die Lichtung selbst ihn angriff.

Die Grashalme legten sich um seine Beine, den Körper und die Anne. Die Bäume beugten sich vor, um ihn komplett zu bedecken. Sie alle waren von der vertrauten dunklen Macht berührt worden, die er im Smaragdgrünen Traum kennengelernt hatte... nur dass diese Welt wach war. Der Albtraumlord hatte Yseras große Macht benutzt, um die letzte Grenze zwischen Traum und Realität zu zerstören.

Nur für einen kurzen Moment überlegte Malfurion, ob er sich einfach seinem Untergang hingeben sollte. Er war verantwortlich dafür, dass der Aspekt in Gefangenschaft geraten war und ganz Azeroth Gefahr drohte. Doch dieser Gedanke schwand schnell, als Tyrandes vertrauensseliger Blick in seinen Gedanken erschien.

Der Erzdruide konzentrierte sich. Das ist nicht Eure Natur, ermahnte er das Gras und die Bäume. Dies ist eine Perversion dessen, was doch ein Teil von Euch ist...

Er spürte, wie das Gras losließ. Aber die Bäume antworteten noch nicht. Sie schüttelten ihre Wurzeln, als wollten sie sich selbst befreien, während sie gleichzeitig immer noch Malfurion angriffen. Plötzlich bewegte sich die Borke und bildete das Gesicht des Nachtelfen wie zum Spott nach.

„Das ist nicht Eure Natur“, sagte Malfurion nun laut. Zur gleichen Zeit konzentrierte er sich mit seiner jahrtausendealten Erfahrung auf die Flora. „Dies ist ein Ort des Friedens, der Ruhe... dieser Ort berührt das Herz von Azeroth und wird ebenso von ihm berührt...“

Das Gras ließ ihn los. Die Bäume versteiften sich plötzlich. Die Abbilder seines Gesichts verschwanden von der Borke.

Die Mondlichtung war wieder still, wenn auch immer noch nebelbedeckt.

Malfurion atmete tief durch. Was er getan hatte, war nicht leicht gewesen. Der Albtraumlord hatte sich ganz speziell auf ihn konzentriert. Glücklicherweise hatte das Böse den Erzdruiden unterschätzt.

Dadurch wurde Malfurion eines klar: Er musste in den Smaragdgrünen Traum zurückkehren – oder dem, was noch davon übrig war -, bevor es zu spät war. Der grüne Drache hatte etwas Interessantes gesagt. Ysera schien der Meinung zu sein, dass Malfurion wichtiger war als sie selbst. So wichtig, dass sie ihr Leben dafür riskierte.

Malfurion schrie frustriert auf. Er war sicherlich kaum wichtiger als die Herrin des Smaragdgrünen Traums! Dennoch schuldete er ihr etwas für ihr Opfer. Und auch Azeroth schuldete er etwas. Denn nur durch seine Gefangennahme hatte der Albtraumlord überhaupt zuschlagen können.

Er fragte sich, warum der Albtraum nicht bereits die ganze Welt unterjocht hatte. Sein Gebieter hatte Ysera in seiner Gewalt, worauf wartete er? Hielt ihn irgendetwas davon ab?

Wenn es so etwas gibt, dann werde ich es nicht finden, indem ich hier herumstehe!, ermahnte er sich ärgerlich selbst. Auf jede Frage gibt es eine Antwort...

Ohne zu zögern verwandelte sich der Erzdruide in eine Sturmkrähe. Malfurion stieg von der Mondlichtung auf. Seine Flügel schlugen kräftig, als er immer höher und höher flog...

In den Wolken verweilte er einen Moment. Seine scharfen Augen nahmen den Anblick unter ihm auf. Es entlockte ihm einen Schrei. Vielleicht hatte er Unrecht gehabt. Vielleicht war seine Hoffnung auf den Sieg auch nur ein letzter Albtraum, den ihm sein Feind geschickt hatte, um ihn zu verhöhnen.

Der Nebel bedeckte nicht nur die Mondlichtung. Er bedeckte auch das Land dahinter und jenseits davon.

Eigentlich... bedeckte er ganz Azeroth, so weit Malfurion blicken konnte.


„Malfurion!“, rief Tyrande. Sie blickte zu Broll. „Was ist mit ihm geschehen?“

„Er muss sich selbst zurück in seinen Körper gezaubert haben! Er soll in Ord...“

Der grüne Drache musste plötzlich abdrehen, weil ohne Vorwarnung der Nebel um sie herum aufstieg.

Eine schreckliche geflügelte Gestalt materialisierte darin.

Der Albtraum will diese Sterblichen haben... besonders die Nachtelfe...“, säuselte der verderbte Drache Smariss. Sein verwester und verfaulender Körper verpestete die Luft. „Kommt, akzeptiert das Unausweichliche... Azeroth und der Albtraum sind nun eins...“

„Du wirst sie nicht kriegen!“, entgegnete der grüne Drache. Er stieß seinen Atem aus, der Feuer glich.

Aber es war ein Feuer, das eher geisterhaft denn real wirkte.

Doch als es Smariss traf, heulte der korrumpierte Drache vor Schmerz auf, und sein Körper glitzerte, als wäre er plötzlich von Millionen Glühwürmchen überzogen.

Yseras Diener wartete nicht ab. Er umkreiste den sich wehrenden Feind.

Doch ein wütendes Brüllen deutete darauf hin, dass Smariss die Schmerzen bereits abgeschüttelt hatte. Einen Augenblick später schoss der korrumpierte Drache auf sie zu.

„Sie fliegt zu schnell, und ich kämpfe gegen unsichtbare Kräfte, die mich verlangsamen!“, sagte der grüne Drache zu seinen Schützlingen. „Es gibt nur noch eine Sache, die ich tun kann!“

Die Magie, die die Sterblichen umgab, leuchtete so hell, dass vor allem die Nachtelfen die Augen abschirmen mussten.

„Findet euren Malfurion Sturmgrimm!“, rief ihnen ihr Retter zu. „Meine Herrin würde nicht lügen!“

Und mit diesen Worten zauberte er sie fort.

Der Zauber schützte sie vor weiteren Angriffen. Broll erkannte vor allen anderen, was der grüne Drache vorhatte.

„Das Portal! Er schickt uns da durch...“

Bevor er den Satz beenden konnte, flogen sie hindurch.

Die Magie löste sich in dem Augenblick auf, da sie zurück in Azeroth waren. Doch der grüne Drache hatte dafür gesorgt, dass sie sich bei der Landung nicht verletzten.

Sie verließen das Portal nur wenige Zentimeter vom Boden entfernt, und als der Zauber schwand, plumpsten sie einfach zu Boden.

Alle außer Lucan sprangen sofort auf. Als Broll sich dem Portal näherte, froren die darin wohnenden Energien förmlich ein.

„Das ist nicht möglich...“, murmelte er. Der Druide lief auf das Portal zu und streckte eine Hand durch die magische Lücke.

Es war, als hätte er eine eiserne Tür getroffen. Broll verzog das Gesicht angesichts des heftigen Schmerzes, den ihm sein Ungestüm eingebracht hatte.

Die Hohepriesterin trat zu ihm. „Können wir nicht durch?“

„Nein... Entweder hat der grüne Drache es hinter uns versiegelt... oder etwas anderes tat dies, sodass er uns nicht folgen konnte...“

Tyrande schüttelte den Kopf. „Der grüne Drache hat uns auf seine Kosten in Sicherheit gebracht... und das alles für Malfurion!“

Der Druide blickte über die Schulter. „Es stellt sich die Frage, ob wir überhaupt in Sicherheit sind...“

Sie wandten sich zu Thura um. Die Orckriegerin hielt Brox’ Axt bereits in den Händen. Sie beäugte die anderen vorsichtig.

„Wo ist er? Wo ist Malfurion Sturmgrimm?“, verlangte sie zu wissen.

Tyrande trat auf die kräftige, grünhäutige Kriegerin zu. Als sie sich näherte, leuchteten die Hände der Hohepriesterin im Licht von Elune. „Er ist außerhalb Eurer Reichweite, Attentäterin!“

Thura blickte sie an... und zu jedermanns Überraschung senkte die Orckriegerin die Waffe. Sie wirkte extrem müde.

„Er hat mich verführt, ihn zu jagen... er hat mich ausgetrickst. Warum wollte er sterben?“

Die Nachtelfen blickten einander an. „Er hat den Tod nicht gesucht“, sagte Tyrande. „Eure Axt war nötig, um den Zauber zu brechen, glaube ich...“

Die Orcfrau fiel in sich zusammen. „Also... war meine ganze Suche nur eine Täuschung... Ich bin ein Nichts.“

„Entschuldigt“, unterbrach Lucan. Die anderen blickten ihn an. „Sollte der da mit uns durchs Portal zurückkommen?“

Die anderen blickten in die Richtung, in die Lucan wies. Broll erkannte die Gestalt als Erster.

„Knorre!“, rief er freudig. „Du...“

„Haltet Euch von ihm fern!“ Tyrande riss Broll zurück.

Das Urtum des Krieges stieß ein scheußliches Lachen aus. Als es näher kam, konnte man seinen von Pilzen bedeckten Kopf erkennen. Seine Blätter waren mit Fäule überzogen, und die Augen leuchteten schwarz. „Er will, dass du zurückkehrst...“, krächzte es. Seine Augen waren auf Tyrande gerichtet.

„Bleibt zurück!“ Trotz ihrer Erschöpfung fokussierte sich die Hohepriesterin. Doch ihre Konzentration reichte nicht aus, um das Licht zu beschwören.

Knorres großer Arm schlug nach ihnen. Broll stieß die anderen zur Seite und wurde von dem Schlag gestreift. Die Wucht des Treffers reichte immer noch aus, um ihn in die Knie zu zwingen.

Das Urtum griff nach dem gefallenen Nachtelfen. Tyrande trat vor Broll, ihr Gesichtsausdruck war grimmig. „Es tut mir leid, Knorre...“

Das Licht von Elune traf das korrumpierte Urtum frontal. Knorre taumelte zurück... und richtete sich dann auf.

„Dieses Mal ist er zu stark für dich“, spottete Knorre. „Azeroth gehört ihm schließlich...“

Während er sprach, verdichtete sich der Nebel. Die vier drängten sich enger aneinander. Knorre stieß ein hässliches Lachen aus.

Broll blinzelte. Er stand mitten in einem anderen Gefecht, und in seiner Hand befand sich ein vertrautes Objekt. Das Götzenbild des Remulos. Der Druide schüttelte den Kopf. Das ist wieder ein Traum! Das ist wieder ein Trick!

Doch seine Umgebung änderte sich nicht. Außerdem erklang eine Stimme in seiner Nähe, die ihn um Hilfe anrief. Obwohl er es besser wusste, blickte der ehemalige Gladiator dorthin...


Tyrande kniete neben einem Steinhügel. Sie weinte, doch es dauerte einen Moment, um zu begreifen, warum.

Malfurion lag dort begraben.

Er war tot, obwohl sich die Hohepriesterin nicht an den Grund seines Todes erinnern konnte. Sie wusste nur, dass sie sich nach ihm sehnte. Sie sehnte sich nach einem gemeinsamen Leben, das ihnen beiden stets verwehrt geblieben war.

„Nein!“, schrie Tyrande wütend und erhob sich gleichzeitig. „Ich lasse mich nicht betrügen! Wir lassen uns nicht betrügen!“

Sie blickte zum Himmel, wo der Mond voll und hell stand. Die Hohepriesterin hob die Hände zum Mond empor, zu Elune.

„Gewährt mir einen Wunsch! Erfüllt mich mit Eurem Licht, wie Ihr es noch nie zuvor getan habt...“

Tyrande wusste, dass ihre Hoffnung falsch war – eigentlich war an der gesamten Situation etwas falsch -, doch eine schreckliche Entschlossenheit erfüllte sie. Sie würde Malfurion zurückbekommen! Sie würde es!

Das Licht von Mutter Mond strahlte aus ihr heraus. Sie vollführte einige Gesten in Richtung des Steinhaufens. Das silberne Licht umflutete ihn.

Die Steine bebten. Ein paar oben liegende Bröckchen fielen herunter.

Dann schoss eine skelettartige Hand daraus hervor.

Tyrande versuchte, ihren Zauber aufzuhalten, doch Elunes Licht nährte den Steinhaufen immer weiter. Die Hand schob weitere Steine beiseite. Trotz der silbernen Natur von Mutter Monds Geschenk leuchteten die kadaverhaften Finger in einem düsteren Grün.

Dann brach der Steinhaufen laut rumpelnd auseinander. Steine regneten auf Tyrande herab.

Aus der zerstörten Öffnung erhob sich ein monströser Malfurion...


Die Ahnen in Orgrimmar standen um Thura herum. Sie fühlte sich beschämt, hier vor ihnen zu stehen. Und ganz vorne war der große Thrall persönlich. Er blickte sie enttäuscht an, enttäuscht und wütend.

„Du hast unser Volk beschämt, deinen Klan beschämt“, verkündete Thrall. „Dir wurde eine große Waffe gegeben, und du nahmst eine Blutrache an, um Broxigar zu rächen!“

Sie fiel auf die Knie. „Ich habe versagt, das weiß ich. Doch der Nachtelf...“

„Der lebt und lacht dich aus, während Broxigars Blut noch von seinen widerlichen Händen tropft!“

Thura hatte darauf keine Antwort.

Der Anführer der Orcs streckte ihr die Hand entgegen. „Dir steht es nicht zu, diese ruhmreiche Axt zu führen. Gib sie mir zurück.“

Mit gesenktem Kopf bot Thura Thrall die Waffe an. Ein Gefühl der Schuld durchlief sie, als sie die Axt in seinen Händen zurückließ.

Thrall nahm die Waffe und bewunderte ihr ausbalanciertes Gleichgewicht und die hohe Handwerkskunst, die zu ihrer Fertigstellung nötig gewesen war. Der Kriegshäuptling umfasste die Axt fest und blickte die Orcfrau an. „Und nun wirst du Buße für deinen Fehler tun...“ Er hob die Axt hoch und bereitete sich auf den tödlichen Schlag vor...


Lucan blickte seine Begleiter an. Sie waren reglos wie Statuen, und ihre Augen waren halb geschlossen. Ihre Blicke schienen kein Ziel zu haben.

Sie waren im Albtraum gefangen.

Warum er nicht davon betroffen war, wusste er nicht. Wahrscheinlich, weil er die geringste Bedrohung für den Albtraum darstellte. Selbst jetzt war alles, was der Kartograf tun konnte, sich zu verstecken.

Und in seiner Verzweiflung schien genau das die klügste Entscheidung zu sein.

Der Mensch packte seine drei Begleiter, so gut er konnte, und hoffte, dass seine Berührung allein schon ausreichen würde, um sie zu wecken. Aber auch dann bewegten sie sich noch nicht. Lucan hatte keine Zeit, um sich Sorgen über ihren Zustand zu machen.

Er versuchte etwas zu tun, was in der Vergangenheit stets nur dann funktioniert hatte, wenn er es nicht versucht hatte. Doch in letzter Zeit hatte es einen oder zwei Momente gegeben, in denen er diese einzigartige Fähigkeit bewusst hatte nutzen können.

Die Sklaven des Albtraums fielen über die hilflose Gruppe her...

Gleichzeitig verschwanden Lucan und seine Leute.

Sie materialisierten mitten im Smaragdgrünen Traum, dem letzten Ort, zu dem Lucan zurückkehren wollte. Er war sich sicher, dass der Albtraum sie auch dort verfolgen würde.

Die anderen begannen, aus ihren persönlichen Albträumen zu erwachen. Sie wirkten müde und desorientiert.

Lucan war der Einzige, der den Schatten bemerkte, der plötzlich über ihnen erschien. Er blickte hoch.

„Was willst du denn jetzt schon wieder von mir?“, knurrte Eranikus.

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