Prolog Blutschuld

„Ich weiß, dass ich die Wahrheit herausfinden muss. Egal, wohin mich dieser Weg auch führen mag... und seihst wenn es mich am Ende das Leben kosten wird...“

Malfurion Sturmgrimm, Die Quelle der Ewigkeit

Thura stand am Ende einer tiefen und zerklüfteten Schlucht. Die kräftige Hand der jungen Orcfrau umfasste die Axt instinktiv fester, als sie vergeblich einen Weg auf die andere Seite suchte. Die Orcfrau war eine geübte Kämpferin von kräftigem, muskulösem Körperbau, obwohl sie kaum das Erwachsenenalter erreicht hatte. Dennoch wirkten ihre groben Gesichtszüge kindlich und verängstigt, als sie erfolglos hin und her lief. Sie verzog ihren breiten, mit Hauern bewehrten Mund.

Thura schüttelte den Kopf, ihre Lippen bewegten sich in stummem Protest. Ihre dichte braune Haarmähne, die normalerweise im Nacken zusammengebunden war, fiel jetzt offen herab und bedeckte die linke Hälfte ihres Gesichts.

Auf der anderen Seite der Schlucht tobte ein fürchterlicher Kampf, in dessen Mittelpunkt ein einzelner bulliger Vertreter ihres Volkes stand. Sie kannte ihn hauptsächlich aus Kindheitserinnerungen und Geschichten, die der große Orcführer Thrall erzählt hatte. Der Kämpfer war ergraut, hatte ein ernstes Gesicht und starke Arme. Wie sie trug er einen ledernen Kilt und die Rüstung eines Kriegers. Sein Körper war mit alten Narben übersät, die anderen Kämpfen entstammten, anderen Kriegen. Obwohl er umzingelt war, brüllte der Mann den monströsen Feinden seine Verachtung entgegen.

Und monströs waren sie wirklich – Dämonen der Brennenden Legion -, teuflische Kreaturen viel größer als der tapfere einsame Streiter. Sie steckten in Rüstungen und loderten von Kopf bis Fuß in einem bösen gelb-grünen Feuer, dessen Intensität mit der grimmigen Entschlossenheit wetteiferte, die in den braunen Augen des Orcs glomm. Immer wieder schlugen sie mit ihren Klingen und anderen fürchterlichen Waffen zu, versuchten, seine Deckung zu durchbrechen. Doch er hielt sie mit seiner Axt auf Abstand. Es war eine überwältigende Waffe, die umso erstaunlicher wirkte, da sie aus Holz, geschnitzt war.

Nein... nicht geschnitzt. Thura erinnerte sich daran, wie ein Schamane sie einst untersucht und herausgefunden hatte, dass die zweischneidige Axt von starker Magie geformt worden war. Eine Magie, die, glaubte man den Gerüchten, vom Halbgott Cenarius stammen sollte. Cenarius war der Hüter der Natur und Beschützer des Waldes.

Doch wie strittig die Herkunft der Axt auch sein mochte, so wohnte ihr doch zweifelsfrei ein höchst ungewöhnlicher, ganz eigener Zauber inne. Sie schnitt mit solcher Leichtigkeit durch stählerne Klingen und gepanzerte Rüstungen, als bestünden sie lediglich aus Luft. Gewaltige Blitze von düsterem gelb-grünem Feuer schossen aus den von ihr geschlagenen Wunden, als die Dämonen, einer nach dem anderen, unter den unerbittlichen Hieben des Orcs fielen.

Eine neblige, smaragdgrüne Aura, die nichts mit den Flammen der Brennenden Legion gemein hatte, hüllte die Szenerie einschließlich des Kämpfers ein. Die Aura selbst war von einer schwach blauen Tönung durchzogen, die dem Ganzen etwas Unwirkliches verlieh. Thura achtete kaum auf diese Aura, obwohl ihre Sorge noch größer wurde, weil sie nach wie vor keinen Weg hinüber fand.

Plötzlich materialisierte eine neue faszinierende Gestalt links hinter dem Orc. Es war ein erstaunliches Wesen, dessen hochgewachsenes violetthäutiges Volk Thura bekannt war – ein Nachtelf. Doch war es kein gewöhnlicher Vertreter seines Volkes, denn auf seinem Kopf prangten zwei mächtige, kunstvoll verschlungene Geweihe. Außerdem wies ihn seine aufwendige Kleidung nicht nur als Druiden aus – einen der geschätzten Hüter der Natur -, sondern zugleich auch als hochstehende Persönlichkeit.

Vielleicht war er sogar ein Erzdruide.

Obwohl er so stattlich wirkte wie die Vertreter der meisten Elfenvölker, hatte dieser Nachtelf ein breiteres, zugleich reiferes Gesicht, das ihm mehr Individualität verlieh. Dazu trug er einen dichten grünen Bart. Seine leuchtenden goldenen Augen waren ebenso faszinierend wie das Geweih und selbst aus der Ferne leicht zu erkennen.

Die Ankunft des Nachtelfen raubte Thura den Atem. Er war völlig unbewaffnet und beugte sich nun tief zu dem männlichen Orc hinab, um ihm etwas zuzuflüstern. Seine bloße Gegenwart schien dem Kämpfer Selbstsicherheit zu verleihen. Der alte Orc hatte bereits zahlreiche Dämonen besiegt, doch gemeinsam mit dem Nachtelf stieg seine Zuversicht, gegen die blutdürstende Horde bestehen zu können.

Plötzlich hielt der Nachtelf einen langen hölzernen Stab in den Händen. Er hob ihn an, und während er das tat, verwandelte sich das Ende in eine gefährliche Spitze. Der Orc zerfetzte derweil einen weiteren ungestümen Dämon. Er trennte ihm den langen, schmalen Kopf samt den gewundenen Hörnern vom Rumpf.

Der Nachtelf berührte von hinten den Hals des Orcs mit der Stabspitze.

Zu spät erkannte Thura den Verrat. Vergeblich rief sie dem Orc eine Warnung zu, ihre Worte waren weiter entfernt kaum zu verstehen und wurden vom Waffenklirren übertönt.

Etwas platzte aus dem Hals des Mannes heraus. Es ähnelte dem Unkraut, über das Thura tausendmal am Tag ihre Schritte lenkte. Binnen eines einzigen Herzschlags wuchs es und breitete sich aus.

Schließlich spürte auch der Orc es. Er griff nach hinten, doch mehrere dunkelgrüne Blätter schlangen sich um sein Handgelenk. Das Unkraut wucherte weiter und erstreckte sich schon bald über den ganzen Körper des Unglückseligen. Gleichzeitig wuchsen aus den Blättern schreckliche Dornen, die alle nach innen gerichtet waren. Sie drangen in den Orc ein, und wo immer das geschah, floss Blut.

Lächelnd trat der verräterische Elf zurück, um sein Werk zu bewundern. Ströme von Rot flossen aus jeder Wunde, die die Dornen gerissen hatten.

Der Orc zitterte. Sein Mund stand offen, und er fiel auf die Knie. Die Ranken des Unkrauts bedeckten seinen Körper und fesselten ihn vollständig. Unaufhörlich floss Blut aus den schrecklichen Wunden, die der Nachtelf zufrieden betrachtete.

Thura brüllte den Namen des Mannes, obwohl es bereits zu spät war, um ihn zu retten. „Broxigar!“

Plötzlich lösten sich die Dämonen in Nebel auf. Nur noch der Nachtelf, sein Opfer und Thura blieben zurück. Der Nachtelf machte ein paar Schritte nach hinten, sein spöttischer Blick wandte sich ihr zu. Die goldenen Augen wurden völlig schwarz, tiefe Klüfte, die kalt nach der Seele der Orcfrau griffen.

Aus diesen dunklen Abgründen krochen monströse schwarze Aasfresser – Käfer, Tausendfüßler, Küchenschaben und anderes Getier. Die Insekten krabbelten von den Augen des Nachtelfen aus in alle Richtungen, während Bäume und andere Gewächse auf ihrem Weg emporsprossen.

Doch die neue Flora war kaum entstanden, da nahm das Ungeziefer sie auch schon ein. Gestrüpp und selbst die höchsten Bäume wurden davon bedeckt. Und dabei vertrockneten sie. Alles vertrocknete. Thuras Welt wurde zu einer grotesken und scheußlichen Vision.

Der Nachtelf lachte. Aus seinem Mund quoll noch mehr teuflisches Ungeziefer.

Dann verschwand er.

Thura rief erneut Broxigars Namen.

Unter gewaltigen Anstrengungen schaffte es der sterbende Krieger, in ihre Richtung zu blicken. Er konnte eine Hand von der ihn fesselnden Ranke befreien, dann streckte er die magische Axt aus.

Sein Mund flüsterte einen Namen...

Thura war völlig aufgewühlt, als sie erwachte. Sie blieb eine Zeitlang liegen, zitterte immer noch, obwohl in dem Wald, in dem sie sich befand, eine angenehme Temperatur herrschte.

Noch einmal lief der Traum in ihrem Kopf ab. Wie immer, wenn die Orcfrau dem Schlaf entrinnen konnte, hallte der darin durchlebte Traum noch eine Weile in ihr nach.

Mit Mühe stand Thura schließlich auf. Das kleine Lagerfeuer, das sie entzündet hatte, war schon lange niedergebrannt. Nur ein letzter Rest von Rauch hing in der Luft.

Sie legte ihre Waffe beiseite und schaufelte lose Erde über die Glutreste, um sie zu ersticken. Dann holte sie ihren ledernen Rucksack, hob die Axt auf und marschierte los.

So war es immer. Laufen, bis die Müdigkeit sie übermannte, etwas essen, dann schlafen... bis der Traum sie wieder aufweckte und derart erschreckte, dass es besser war, weiterzugehen.

Auf eine merkwürdige Art begrüßte die Orcfrau das sogar. Denn neuerdings barg der Schlaf für jedermann Risiken. Davon abgesehen brachte sie jeder Schritt dem erklärten Ziel näher, ihren Blutsverwandten zu rächen.

Ihr war klar geworden, dass sie noch von etwas anderem angetrieben wurde: Sie musste eine Katastrophe verhindern, die nicht nur ihr eigenes Volk bedrohte, sondern die ganze Welt.

Broxigar, der Orc, war der Bruder ihres Vaters gewesen, obwohl ihre Väter nicht dieselben waren. Sie wusste von seinem legendären Kampf mit seinen Kameraden gegen die Brennende Legion. Ein Kampf, den Broxigar – oder Brox – als Einziger überlebt hatte. Selbst als Kind hatte Thura die Schuld spüren können, die ihn umtrieb, weil er lebte und seine Freunde nicht.

Und dann hatte Thrall, der große Führer der Orcs, den erfahrenen Krieger zusammen mit einem anderen Wesen auf eine geheimnisumwobene Mission geschickt. Keiner von beiden war zurückgekehrt, aber irgendwann war das Gerücht aufgekommen, ein alter Schamane habe die wundersame hölzerne Axt aus dem Traum zurückgebracht und sie bei Thrall gelassen.

Der Schamane hatte berichtet, dass Brox ein Held geworden sei. Dank seiner Hilfe waren nicht nur die Orcs, sondern auch alle anderen Völker gerettet worden. Es wurde erzählt, dass dem Schamanen Flügel gewachsen seien und er sich in einen riesigen Vogel oder Drachen verwandelt hätte, der in der Nacht verschwand.

Thura wusste nicht, ob das stimmte. Als sie selbst ins Kriegeralter gekommen war und ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte, hatte ihr Thrall persönlich die sagenhafte Axt übergeben. Schließlich war Thura die einzige Überlebende aus Brox’ Klan, abgesehen von ihrem Onkel Saurfang, der gerade selbst einen Sohn verloren hatte. Die Axt hätte genauso gut ihm zugestanden. Doch Thralls Schamane hatte geträumt, dass sie an Thura gehen sollte. Niemand wusste, warum. Aber Thrall war der Eingebung des Schamanen gefolgt.

Thura fühlte sich geehrt, eine solche Waffe führen zu dürfen. Die Ironie entging ihr dabei nicht. Vor vielen Jahren hatten die Orcs unter dem Kommando des legendären Grom Höllschrei die Wälder des Eschentals gestürmt und Cenarius getötet, der ihnen entgegengetreten war. Damals hatten sie unter dem Bann des Dämonenlords Mannoroth gestanden.

Das war geschehen, bevor Thrall seinem Volk wieder beigebracht hatte, die Natur zu achten. Cenarius’ Tod war bedauerlich... doch Thura hatte nichts damit zu tun gehabt, und mit ihrem orcischen Sinn für das Praktische nahm sie einfach an, dass der Geist des Cenarius das genauso sah.

In dem Moment, da sie die Axt in die Hand genommen hatte, hatte es sich richtig angefühlt. Doch in der Waffe steckte noch etwas anderes. Es war nicht sofort offenbar geworden. Nicht einmal während der ersten Jahre. Nein, ihr Geheimnis hatte sie erst später enthüllt, und zunächst hatte Thura es ignoriert.

Ein Traum war schließlich nur ein Traum...

Oder auch nicht.

Thura hatte keinen Schamanen gebraucht, um schließlich die Wahrheit zu erkennen. Der Geist ihres verschollenen Ahnen hatte Rache verlangt. Der Traum offenbarte ihr die ganze Wahrheit, dessen war sie sich sicher. Sie hatte gesehen, wie Brox wirklich ums Leben gekommen war... verraten von jemandem, den er für einen Freund hielt.

Dem Nachtelf.

Und obwohl sie nicht sagen konnte, woher, wusste Thura dennoch, dass jener Nachtelf immer noch lebte und gefunden werden konnte. Sie musste nur auf ihre Träume achten. Jedes Mal, wenn sie daraus erwachte, ahnte sie die Richtung, in die sie gehen musste. Die Richtung, in der sie den verräterischen Mörder des tapferen Brox finden würde.

Brox hatte ihr dessen Namen genannt, der seit dem allerersten Traum in ihrem Kopf widerhallte, obwohl sie nie gehört hatte, wie er laut ausgesprochen wurde.

Malfurion Sturmgrimm... Malfurion Sturmgrimm...

Sie verstaute ihre Axt – die einst Brox gehört hatte. Die Orcfrau hatte einen Schwur auf ihren toten Onkel geleistet. Sie würde Malfurion Sturmgrimm finden, ganz gleich, wie weit sie reisen musste und ganz gleich, was die Blutrache von ihr dafür verlangte.

Sie würde Malfurion Sturmgrimm finden... und eine seit langem überfällige Gerechtigkeit an ihm üben.

Vielleicht würde Thura sogar Azeroth noch retten können – bevor es dafür für immer zu spät war...

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