6 Drachen und Täuschung

Malfurion spürte, wie der Schatten drohend über ihm aufragte, und wusste, was es bedeutete. Eine neue Folter stand bevor.

Die dunklen smaragdgrünen Linien breiteten sich weiter über ihn aus. Zuerst schienen sie schartige knochige Finger zu bilden, die sich dann aber als die Umrisse eines großen Baumes herausstellten, der selbst den Erzdruiden – oder das, was aus ihm geworden war – überragte. Doch obwohl sein Sichtfeld stark eingeengt war, wusste der Nachtelf, dass dem Schatten zum Trotz... kein anderer Baum erkennbar war.

Kannst du ihre Träume kosten?, säuselte der Albtraumlord. Kannst du ihre Ängste kosten? Seihst deine Liebsten sind nicht immun dagegen...

Malfurion antwortete nicht, obwohl er wusste, dass der Entführer immer noch seine Gefühle spüren konnte. Deshalb versuchte der Erzdruide fortwährend, sich auf sein Innerstes zu konzentrieren. Je ruhiger er blieb, desto größer waren die Hoffnungen für die anderen.

Und desto besser standen die Chancen, dass der Albtraumlord nichts von seinen wahren Bemühungen ahnte. Sein Entführer glaubte, dass die Zauber, die den Nachtelf umgaben, Malfurion daran hinderten, Kontakt über jemand anderen mit seiner geliebten Tyrande aufzunehmen. Und größtenteils stimmte das auch. Doch der Erzdruide konnte auf seine zehntausendjährige Erfahrung zurückgreifen. Dennoch wagte er es nicht, Tyrande oder andere Verbündete direkt zu kontaktieren.

Doch es gab noch andere Wege der Kommunikation, die wegen ihrer komplizierten Natur allerdings ein wenig Feingefühl erforderten. Wenn der Albtraumlord etwas davon mitbekam, war Malfurion ganz sicher verloren. Und mit ihm auch alles andere.

Der Schatten wuchs und wand sich, als ob der düstere Baum seine Beute besser erkennen wollte. Malfurion selbst wurde auch plötzlich verdreht. Der Baum der Qual, zu dem er geworden war, nahm einen neuen, finsteren Blickwinkel ein. Aus seinen Blättern entsprangen schwarze Blüten. Jede neu entstandene Blüte war wie eine Nadel, die man dem Nachtelfen ins Auge stach. Es waren Hunderte, die schon bald den größten Teil seines Oberkörpers bedeckten.

Auf jeder Blüte wuchs plötzlich ein smaragdgrünes Ei. Malfurion wollte schreien, konnte es aber natürlich nicht.

Aus einem der Eier platzte ein Ding mit Tentakeln und Flügeln heraus. Als es sich bewegte, triefte es nur so vor purem Schrecken.

Ein zweiter Gegner schlüpfte, gefolgt von einem dritten und immer weiteren. Sie krabbelten über Malfurion, kratzten und bissen.

Schließlich verließ die schreckliche Schar den Erzdruiden. Sie huschten um ihn herum, als würden sie auf Befehle warten.

Der Schatten kam näher, als wollte er sie liebkosen.

Geschaffen aus deinen eigenen Ängsten, angetrieben durch mein Verlangen... sie sind schön anzusehen, nicht wahr?

Wie auf ein unhörbares Signal hin breitete sich der Schwarm in verschiedene Richtungen aus. Die Krabbler verschwanden schnell in der Tiefe. Feuchter grüner Nebel umgab alles außer Malfurions unmittelbarer Umgebung.

Es gibt immer mehr Schläfer, mein Freund, immer mehr, die empfänglich sind für diese Tiere... ihre Albträume nähren mich durch dich und die anderen...

Malfurion bemühte sich zu verdrängen, dass seine eigenen Fähigkeiten dabei halfen, diesen Albtraum über den Smaragdgrünen Traum hinaus zu verbreiten. Doch die Sorge drang tief in ihn hinein. Eine Sorge, die sein Entführer unglücklicherweise spüren konnte.

Ja, mein Freund, du hast dein Volk verraten, deine Welt und deine Geliebten...du kennst die Wahrheit...

Der Körper des Erzdruiden wurde weiter verdreht. Ein neuer stummer Schrei hallte durch seinen Geist, aber er reichte nicht aus, um all den Schmerz zu lindern. Trotz seiner Ausbildung, trotz seiner Fähigkeiten konnte Malfurion den Schmerz der Folter nicht völlig unterdrücken.

Verfalle dem Wahnsinn, Malfurion Sturmgrimm... verfalle dem Wahnsinn... aber wisse, dass selbst der Wahn keine Zuflucht ist... ich weiß es... denn ich werde dort auf dich warten... es gibt keinen Ort, an dem du dich verstecken kannst...

Der Schatten des monströsen Baums verschwand aus Malfurions Sicht. Doch der Erzdruide konnte immer noch seine Gegenwart spüren. Als neue knorrige Zweige aus ihm heraussprossen, wo einst seine Arme gewesen waren, wurde Malfurion bewusst, dass der Albtraumlord gerade erst begonnen hatte, ihn zu benutzen. Der Nachtelf war der Schlüssel für den Plan dieser Kreatur. Weil Malfurion gleichermaßen eine mächtige Verbindung zu seinem Reich und nach Azeroth hatte.

Doch er war nicht der einzige Schlüssel. Malfurion wusste das nur allzu gut. Das Böse, der Albtraum, hatte noch andere, mächtigere Wesen als ihn gefangen... und wenn schon der Nachtelf ein furchtbares Schicksal erlitt, so dienten die anderen dem Albtraumlord auf noch verderbtere Weise. Sie waren nun willige Jünger der Finsternis, die sie eifrig verbreiteten. Sie wollten sehen, wie die ganze Ebene der Sterblichen davon verschlungen wurde.

Der Albtraumlord hatte Drachen, die ihm dienten. Grüne Drachen...


Etwas Unaussprechliches versucht, die Herrschaft über die Welt an sich zu reißen, dachte die von einer Kapuze bedeckte Gestalt, als sie die schwebenden Kugeln vor sich betrachtete. Auf einem Stuhl sitzend, der aus einem Stalagmiten gefertigt war, betrachtete die hagere, fast elfengleiche Gestalt die Bilder in jeder Kugel. Auf ihren Befehl hin zeigten sie Szenen von Orten überall in Azeroth.

Der Mann trug die violetten Gewänder der Kirin Tor, obwohl er nichts mehr mit ihnen zu tun hatte. Daran änderte selbst die Tatsache nichts, dass der Anführer dieser Magier sein ehemaliger Schüler war.

Bis auf Weiteres zumindest hatte Krasus mit den Zauberern gebrochen, sein eigener Weg verlangte es so. Er, der über die jüngeren Völker gewacht hatte, musste sich wieder einmal auf die Drachen konzentrieren. Denn nach vielen Jahrhunderten der Kontinuität veränderten sich die großen geflügelten Kreaturen plötzlich. Diese Entwicklung war Krasus ganz besonders wichtig.

Immerhin war er selbst einer von ihnen.

Vom Aussehen her war er schlaksig, mit raubvogelhaften Gesichtszügen und drei langen Narben, die seine rechte Wange hinunterliefen. Sein Haar war zum größten Teil silbern, mit vereinzelten schwarzen und roten Strähnen, obwohl man auch anhand des Silbers sein wahres Alter kaum erraten konnte. Dazu musste man in seine leuchtend schwarzen Augen blicken – Augen, wie sie kein Sterblicher hatte. Die Augen und die Narben waren die einzigen Hinweise auf seine Identität als großer Drache Korialstrasz.

In seiner wahren Gestalt war er der Hauptgemahl der Königin der roten Drachen und des Aspekts des Lebens, der herrlichen Alexstrasza. Und als solcher war er ihr wichtigster Agent, wenn es um den Schutz von Azeroth ging.

Und so war es auch nun wieder. Denn es war eine Situation entstanden, die seine beiden großen Sorgenkinder betraf – Azeroth und sein eigenes Volk. Das Böse breitete sich nicht nur auf der Welt der Sterblichen aus, sondern es berührte auch den Smaragdgrünen Traum. Er hatte versucht, Ysera zu kontaktieren, doch er konnte sie nicht finden. Tatsächlich konnte er keinen der grünen Drachen aufspüren außer einem... und mit dem wollte Krasus nichts zu tun haben.

Er musste nicht erst danach fragen, wer wirklich dafür verantwortlich war. Für jeden anderen hätte es keine definitive Antwort gegeben, doch Krasus kannte sie genau. Er kannte das Böse dahinter aus tiefster Seele.

„Ich kenne dich, Zerstörer“, flüsterte er, als er eine andere Kugel betrachtete. „Ich kenne deinen Namen, Todesschwinge...“

Nur der schwarze Drache konnte dahinterstecken. Der verrückte Aspekt, der einst Neltharion genannt wurde, der Erdenwächter. Krasus stand auf. Er würde sofort handeln müssen...

Vertrautes Gelächter schallte durch seine Bergfeste, ein verstecktes Refugium, nicht weit entfernt von dem Ort, wo einst das fantastische Dalaran, die Stadt der Magier, gelegen hatte. Doch jetzt markierte ein klaffender Krater, was selbst Krasus hatte eingestehen müssen: Dass einer der erstaunlichsten – wenn auch potenziell katastrophalsten – Zauber, die je gewirkt wurden, dafür verantwortlich war. Dalarans Fehlen bedeutete, dass nur wenige einen Grund hatten, zu diesem trostlosen Ort zu kommen... es sei denn, sie suchten den Drachenmagier selbst.

Krasus ließ instinktiv die Bilder auf den Kugeln mit einem Handzeichen verschwinden – dann sah er mit Schrecken, dass sie alle nur eine einzige Vision zeigten. Es war ein Auge, das brennende Auge des Zerstörers...

„Todesschwinge...“

Gerade als er den Namen des schwarzen Drachen aussprach, explodierten die Kugeln. Scharfe Splitter flogen durch die Kammer und schlugen in die Steinwände und Kalksteinfelsen ein. Die meisten trafen aber Krasus. Der Zauber, den er wirkte, erwies sich als nutzlos, und der Angriff warf Krasus gegen den steinernen Stuhl.

Obwohl er gebrechlich wirkte, war sein Körper immer noch geschmeidiger als der jedes Elfen oder Menschen. Der Stein knackte, und Krasus und der Stuhl wurden umgeworfen. Doch der Magier achtete wenig auf die Kollision. Der Schmerz von den vielen Scherben, die in ihm steckten, war viel schlimmer.

Aber er kam wieder auf die Füße und bereitete den Gegenangriff vor. Obwohl er nicht so mächtig wie ein Aspekt war, gehörte Krasus zu den vielseitigsten und gerissensten seiner Art. Außerdem hatte Todesschwinge es gewagt, ihn in seinem Privatgemach anzugreifen, wo es jede Menge Dinge gab, die Alexstraszas Gemahl nützlich sein konnten.

Doch als er die Energien herbeirief, die er für seinen Zauber benötigte, leuchteten die Scherben grell auf. Ein Schock lief durch seinen Körper.

Die Scherben, die überall in seinem Privatgemach eingeschlagen waren, lösten sich von ihren Plätzen. Der schmerzgeplagte Krasus beugte sich vornüber. Sein Körper begann zu wachsen, die Arme und Beine bogen sich, wurden reptilienartiger. Aus seinem Rücken entsprossen zwei ledrige Flügel, die augenblicklich größer wurden.

Todesschwinges Gelächter erfüllte die Privatgemächer. Wieder leuchteten die Scherben. Krasus, mitten in seiner Verwandlung zu Korialstrasz, dem roten Drachen, wankte.

Die anderen Scherben erreichten ihn. Doch statt in Krasus einzuschlagen wie die vorhergehenden, blieben sie an seinem Körper haften. Krasus wollte sie wegbrennen, sie sogar abschütteln, doch es misslang.

Fest umschlossen sie seine Haut. Der Drachenmagier konnte sich nicht mehr bewegen. Zu seinem Schrecken stellte er fest, dass die Scherben von außen her drückten. Sie pressten ihn immer weiter zusammen, als hätte er keine Knochen, keine Substanz.

Und als die Scherben ihn völlig eingeschlossen hatten, wurde Krasus klar, dass er gefangen war. Nicht in einer Kugel, sondern in einer goldenen Scheibe.

Seine Augen weiteten sich. „Nein...“

Eine monströse Fratze glotzte ihn von draußen an. Es war das vernarbte und verbrannte Antlitz von Todesschwinge. „Korialstrasz...“

Als Antwort griff der Drachenmagier sein Gefängnis mit all seiner magischen Macht an. Doch statt die Scheibe zu schwächen, ließen seine Anstrengungen sie nur heller leuchten.

„Ja“, spottete Todesschwinge. „Nähre meine Schöpfung... das ist nur fair – die Letzte hast du ja zerstört...“

Krasus schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich...“

„O doch“, antwortete der schwarze Riese, sein Grinsen wurde breiter. „Du wirst meine Schöpfung für immer nähren, denn du wirst das Herz meiner neuen Dämonenseele sein...“

Die schreckliche Scheibe leuchtete. Krasus brüllte vor Schmerz.

Und dann, nur einen kurzen Augenblick lang, sah er sich selbst -oder eher sein wahres Ich, Korialstrasz – wie er in der Zuflucht im Berg schlief. Einen Augenblick später war die Vision schon wieder verschwunden, zu stark war der Schmerz. Doch Krasus hatte eine Idee. Er hatte sich gefragt, wie er von Todesschwinges Angriff derart hatte überrascht werden können. Er bezweifelte, dass der schwarze Drache das abscheuliche Artefakt wirklich neu erschaffen konnte.

Krasus kannte die Wahrheit.

Er träumte.

Sein wahres Ich war der schlafende Drache. Er war in einem Albtraum gefangen, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte.

Mit diesem Wissen kämpfte Krasus gegen den Traum an. Sein Gefängnis war nicht echt. Todesschwinge war nicht echt. Es war alles nur eine Illusion.

Doch nichts geschah.

Todesschwinge lachte, sein Gesicht wurde durch die Scheibe verzerrt. „Ich werde deine Königin erobern und sie zu meiner Gefährtin machen! Meine Kinder werden die Lüfte beherrschen, und Azeroth wird zu Asche verbrannt. Das kurzlebige Ungeziefer, das du so sehr liebst, wird vernichtet!“

Das ist nur ein Traum, ein Albtraum!, widersprach Krasus. Ein Albtraum!

Doch obwohl er das wusste, obwohl er die Gründe dafür zu verstehen begann, vermochte Krasus nicht aufzuwachen...


Die Hippogryphen warteten unruhig nahe der Küste. Die geflügelten Tiere waren mit dem Terrain hier nicht vertraut. Sie kannten zwar den Weg nach Auberdine, doch der Ernst der Lage hatte es erfordert, dass sie nahe der Mondlichtung landen mussten.

Eins der Männchen – ein Fransenfeder-Hippogryph mit einem schönen blauen und türkisenen Federkleid – richtete sich auf seinen pferdeähnlichen Hinterbeinen auf. Die Priesterin, die die Reittiere unter Kontrolle halten sollte, murmelte schnell beruhigende Worte. Das Männchen fiel wieder zurück, die Krallen am Ende der vogelartigen Vorderbeine gruben sich in den Boden. Der mit einem Geweih geschmückte Kopf des Raubvogels senkte sich. Er wollte gestreichelt werden.

Die Schwestern von Elune waren allein. Die Druiden waren schon vorausgeflogen, wozu sie ihre wundersamen gestaltwandlerischen Fähigkeiten genutzt hatten. Tyrande hatte sie nicht gedrängt zu warten, sie wusste, dass Fandral es eilig hatte. Das kam ihr sehr zupass.

Sie beobachtete die Mondlichtung einen Moment lang, dann sagte sie zu ihren stets treuen Wachen: „Ich möchte für einen Moment allein sein. Wartet bitte hier.“

Der Vorschlag gefiel den Kriegerinnen offensichtlich nicht, doch sie gehorchten. Tyrande wandte sich von ihnen ab und ging zurück zu dem Wäldchen, aus dem sie gerade erst gekommen waren. Sie trat hinein und genoss das Mondlicht und die Stille.

Trotz der Ruhe der Umgebung stellte die Hohepriesterin fest, dass sie sich immer noch nach dem Frieden des Tempels sehnte. Sie hatte sich als Herrscherin ihres Volkes nie wohlgefühlt. Besonders dann nicht, wenn sie die Leben anderer in Gefahr bringen musste. Jedes Leben war ihr wertvoll. Sie erinnerte sich daran, wie die vorherige Herrscherin der Nachtelfen willentlich ihr Volk zu ihrem eigenen Ruhm abschlachten ließ. Für Azshara war das Volk dazu da, um nach ihrem Willen zu leben oder zu sterben.

„Aber ich bin n ich t Azshara. Ich werde niemals Azshara sein...“, sagte die Hohepriesterin nicht zum ersten Mal.

„Ihr könntet nie wie sie sein, Herrin... Ihr seid eine weitaus würdigere Herrscherin...“

Tyrande wandte sich um, und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. „Würdiger? Ihre ergebensten Anhänger lobten Azshara vielleicht auf genau die gleiche Weise, Shandris...“

Die Kriegerin trug eine Rüstung, die vom Hals hinab reichte. Sie bestand aus einer hautengen Brustplatte, Schulterpolstern und metallenen und ledernen Beinschützern, die von ihrer Hüfte bis zu den dazu passenden Stiefeln reichten. Der größte Teil der Rüstung war von grünlicher Farbe und mit einem Violett versetzt, das der Hautfarbe der meisten Nachtelfen glich.

„Immerhin gebührt Euch dieses Lob.“ Shandris Mondfeder zog die Handschuhe aus. Sie kam unbewaffnet zur Hohepriesterin, so, wie es in Darnassus Sitte war – eine Sitte, die die Generalin der Nachtelfen nach Kräften förderte. Ihre Gesichtszüge waren noch klarer geschnitten als die der meisten ihrer Art, und in ihren stets zusammengezogenen Augen lag eine fast schon enthusiastische Entschlossenheit. Tyrande wusste, dass diese Entschlossenheit nur ihr allein galt. Shandris Mondfeders ganzer Lebensinhalt bestand darin, der Hohepriesterin zu dienen.

Tyrande erinnerte sich an das Waisenkind, das sie einst während des Vorstoßes der Brennenden Legion im schrecklichen Ersten Krieg vor zehntausend Jahren gerettet hatte. Die ehemals unschuldigen, furchterfüllten Augen hatten sich mittlerweile verändert. Shandris war die Tochter geworden, die Tyrande nie gehabt hatte... und die sie auch nie erwartet hatte.

Shandris reckte den Hals, der von einem ledernen und metallenen Kragen geschützt wurde. Unter ihren Augen schienen grobe Tätowierungen Tyrande zu verspotten, weil sie den furchterregenden Blick der jüngeren Nachtelfe unterstrichen. Die Hohepriesterin hatte nie gewollt, dass sich die verschreckte junge Waise in eine Kriegsmaschine verwandelte, dennoch hatte sie es getan.

„Darüber gibt es nichts zu reden, Shandris“, merkte die Hohepriesterin mürrisch an und bezog sich damit auf die hohe Meinung, die die Generalin von ihr hatte.

„Stimmt, weil ich recht habe.“ Obwohl sie ihrer Retterin jeden Respekt zollte, war Shandris die einzige Person, die stets geradeheraus und unverblümt mit Tyrande sprach. Die Generalin wechselte das Thema. „Ich kam allein und heimlich an diesen Ort, wie Ihr es befahlt, bevor Ihr die Insel verließet. Könnt Ihr mir nun den Grund nennen? Wegen der Mondlichtung vermute ich mal, dass es etwas mit den Druiden zu tun hat.“ Während sie sprach, ging sie auf und ab wie ein Nachtsäbler, eine der großen Raubkatzen, die den Schildwachen sowohl als Lasttiere als auch als Waffe dienten.

„Ja, es hat mit den Druiden zu tun... und mit Malfurion im Besonderen.“

Shandris nickte, ihr Gesichtsausdruck war unergründlich. „Wir müssen einen Weg finden, ihn zu uns zurückzubringen, Shandris. Und das aus vielerlei Gründen. Was auch immer im Smaragdgrünen Traum passiert, betrifft nicht nur die Druiden. Ich glaube, es berührt auch Teldrassil... und vielleicht sogar andere Teile von Azeroth...“

Die Augen der Generalin wurden zu schmalen Schlitzen. „Es hat einige vage Berichte gegeben, außerdem Gerüchte aus den Menschen- und Zwergenländern. Stets ging es darum, dass Schlafende nicht mehr aufwachen können. Mir fiel gleich auf, dass es Parallelen zu Malfurion geben könnte...“

Tyrande blickte zum Mond, um etwas Trost zu bekommen. Dann legte sie eine Hand auf Shandris’ Schulter und murmelte: „Elune hat mir gezeigt, dass Malfurion stirbt. Ich dachte, das wüsstet Ihr bereits.“

Die Generalin schaute ihr in die Augen. „Weiß ich auch. Und es tut mir leid, so leid.“

Tyrande lächelte traurig. „Danke. Aber Elune zeigte mir auch, wie all dies weit über meine persönlichen Befürchtungen hinausreicht. Ich muss dafür sorgen, dass alles zum Wohle Azeroths getan wird... und deshalb habe ich Euch gerufen.“

Shandris Mondfeder fiel sofort auf die Knie. „Befehlt, was Ihr wollt, Herrin! Ich werde gehorchen und gehen, wohin Ihr wollt. Mein Leben gehört Euch... auf ewig!“

Die alte Schuld meldete sich wieder. „Ich muss Euch um einen riesigen Gefallen bitten. Einen Gefallen, keinen Befehl...“

„Dann fragt!“

„Ihr kennt doch Broll Bärenfell.“

„Er ist mehr Krieger als Druide, Herrin“, gab Shandris zur Antwort.

„Broll reist nach Eschental, um Malfurion zu retten. Wisst Ihr, warum?“

In ihrem Bestreben, die bestmögliche Kommandeurin zu sein, hatte Shandris ein Netzwerk zur Sammlung von Informationen aufgebaut, das sich weit über Darnassus und das Land der Nachtelfen hinaus erstreckte. Deshalb war sie bestens über Eschental informiert. Shandris’ Miene verschloss sich, doch es war auch ein Hauch von Zustimmung zu erkennen.

„Es ist gewagt. Gefährlich. Aber auch, wie ich glaube, die einzige Hoffnung, die wir noch haben.“

„Ich will nicht, dass er allein geht.“

„Ich hatte so etwas schon vermutet. Deshalb habe ich mich auf eine lange Reise vorbereitet!“ Die Augen der Nachtelfe leuchteten vor Vorfreude. Shandris sprang auf und presste ihre Faust gegen die Brust. „Ich kann von hier aus sofort aufbrechen! Ich kenne die Gefahren und die Dringlichkeit dieser Mission! Sie kann nicht irgendjemandem anvertraut werden...“

„Genau.“ Tyrande straffte sich, entschlossen, jetzt als Herrscherin zu sprechen. „Und deshalb werde ich ihn dabei begleiten.“

Ihre Worte schlugen ein wie ein Blitz. Shandris taumelte einen Schritt zurück. Sie starrte die Hohepriesterin an.

„Ihr? Aber Darnassus braucht Euch! Ich bin diejenige, die gehen sollte...“

„Elune hat mir gezeigt, dass ich als ihre Hohepriesterin am besten dafür geeignet bin. Diese Aufgabe erfordert sämtliches Wissen der Schwesternschaft, und als ihre Führerin kann ich die Erledigung von keinem anderen verlangen. Außerdem kennt niemand Malfurion so gut wie ich... niemand ist derart an ihn gebunden. Wenn jemand seine Traumgestalt zu finden vermag, dann ich.“ Ihr Blick war fest. „Und während es mein ganz persönliches Bestreben ist, Malfurion zu retten, könnte er auch Azeroths einzige Hoffnung sein. Als Hohepriesterin muss ich Broll begleiten...“

Shandris nickte schließlich. Doch obwohl sie ihr zustimmte, hatte die Generalin noch Fragen. „Was hält Fandral davon?“

„Ich bin Fandral keine Rechenschaft schuldig.“

„Manchmal scheint er das nicht zu wissen.“ Shandris’ Worte wurden von einem Lächeln begleitet. Sie war eine der wenigen, die wusste, dass er und ihre Herrin nicht immer einer Meinung darüber waren, wie Tyrande regierte. Besonders, wenn ihre Entscheidungen die Druiden betrafen.

Dann wurde sie wieder ernst. „Und Darnassus?“

„Es liegt an Euch, Darnassus zu bewachen, Shandris, wie Ihr es sonst auch tut, wenn ich wegen Regierungsgeschäften fort muss.“

„Das ist wohl kaum dasselbe...“ Wieder kniete sich die Kriegerin hin. „Trotzdem werde ich Stadt und Reich selbstredend beschützen, bis Ihr zurückkehrt.“

Ihre Betonung des letzten Wortes klang fast wie ein Befehl, dass Tyrande auf jeden Fall zurückkommen müsse. Die Herrscherin der Nachtelfen streckte die Arme aus und berührte Shandris an der Wange. „Meine Tochter...“

Die hartgesottene Kriegerin sprang vor und schlang die Arme um die Hohepriesterin. Shandris vergrub ihr Gesicht an Tyrandes Hals. „Mutter...“, flüsterte sie mit einer Stimme, die genauso klang wie die der verschreckten Waise vor so langer Zeit.

Genauso schnell zog sich Shandris zurück. Abgesehen von einer Träne auf der Wange war sie wieder ganz die erfahrene Kommandeurin der Schildwachen. Sie salutierte vor Tyrande.

„Ihr nehmt natürlich mein Reittier“, sagte Shandris. „Wie ich schon sagte, ist es bereit für eine lange Reise. Außerdem gibt es kein besseres. Es ist nicht weit weg. Folgt mir einfach.“

Shandris wandte sich steif um und führte sie tiefer in den Wald hinein. Keine von ihnen sprach, aber beide waren tief in Gedanken versunken.

Nach fast fünf Minuten hörte Tyrande das Schnauben einer großen Kreatur. Als Shandris keinerlei Besorgnis zeigte, folgte die Hohepriesterin ihr.

Einen Augenblick später traten sie vor einen großen männlichen Hippogryphen, der an einer schweren Eiche angebunden war. Sein Federkleid war auffälliger als das anderer Tiere, die von der Gruppe geritten wurden. Die Federn waren dunkler, und rote Linien zierten die schwarzen Flügel. An den oberen Enden waren sie von einem leichten Türkis durchzogen. Purpurrote Federn begrenzten den ansonsten blauschwarzen Kopf. Der Hippogryph trug einen Schutzhelm und etwas Körperrüstung. Obwohl alle Hippogryphen kräftig gebaut waren, war dieser hier eigens für den Krieg gezüchtet worden.

„Er und ich sind schon oft zusammen in die Schlacht gezogen. Ihr könnt ihm so vertrauen wie mir“, sagte die Generalin leise. „Er heißt Jai’alator.“

„Edle Klinge der Elune“, übersetzte Tyrande. „Das ist ein stolzer Name.“

Der Hippogryph neigte den großen Kopf. Die geflügelten Tiere waren gewitzt. Sie besaßen eine eigene Intelligenz und wurden eher als Verbündete denn als Diener betrachtet. Sie erlaubten, dass man auf ihnen ritt.

„Es ist mir eine Ehre, mit Euch zu fliegen“, sagte Tyrande zu dem Hippogryphen.

Shandris löste die Zügel des Tiers und gab sie ihrer Herrin. „Er reagiert auf ‚Jai‘. Wenn Ihr niedrig über den Bäumen fliegt, werden die anderen Euch nicht sehen. Ich kehre gleich zu ihnen zurück und halte sie noch ein wenig auf.“

Nickend nahm die Hohepriesterin die Zügel entgegen. „Danke, Shandris.“ Tyrande gab ihr ein Letztes mit auf den Weg: „Shandris... seid auf der Hut.“

Die Augen der Generalin zogen sich zusammen. „Vor wem?“

Wie sollte sie erklären, wogegen sie gekämpft hatte? „Vor allem, was Elunes Licht verzehren muss...“

Shandris runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts. Sie salutierte noch einmal, dann drehte sie sich um und schritt in Richtung der anderen Priesterinnen davon.

Die Hohepriesterin wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, dann richtete sie ihre Gedanken auf ihre bevorstehende Reise... Eins der größten Probleme würde sein, Broll Bärenfell davon zu überzeugen, sie nach Eschental mitzunehmen.

Zum Großen Baum.

Und damit zum Tor in den Smaragdgrünen Traum.

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