2 Die Versammlung

Lucan Fuchsblut hatte seit Tagen nicht mehr geschlafen. Und das, weil er zum einen wach bleiben wollte, und weil es andererseits notwendig war. Er versuchte sogar, so selten wie möglich zu rasten, weil jede Unterbrechung auf seiner scheinbar endlosen Reise das Risiko barg, dass er einnickte. Dennoch kam immer wieder der Punkt, an dem der Kartograf mit den sandfarbenen Haaren nicht mehr weiterkonnte, wenn seine Beine einknickten und er oftmals bereits ohnmächtig und träumend zu Boden fiel.

Dann litt er unter Albträumen. Dieselben Albträume, die auch alle anderen an den Orten durchlitten, die er bereist hatte. Darunter Goldhain, Westfall und Sturmwind, seine Heimatstadt...

Lucan wirkte wie ein ehemaliger Soldat, und tatsächlich hatte er in einigen Schlachten gekämpft, kaum dass er erwachsen geworden war. Doch nun zählte er bereits drei Jahrzehnte und sah immer noch aus, als befände er sich mitten in einem Krieg. Seine einst braune Tunika und die Hosen hatten die Farbe von Schlamm angenommen, und die feinen Nähte an den runden Schultern und entlang der Beine fransten bereits aus. Seine Lederstiefel waren fleckig und voller Risse.

Der Kartograf selbst wirkte wenig besser als seine Kleidung. Obwohl man seine Patriziergesichtszüge immer noch erahnen konnte, ließen ihn die Blässe der Haut und der ungepflegte Bartwuchs wie eine langsam verfaulende Kreatur der untoten Geißel wirken. Nur seine Augen, grün wie die einer Katze, zeigten ein lebendiges Funkeln.

Während seiner benommenen Wanderschaft hatte er alle Werkzeuge seines Handwerks verloren. Selbst der Beutel, in dem er seine kärglichen Habseligkeiten und eine Decke zum Schlafen aufbewahrte, war ihm abhandengekommen. Lucan wusste nicht einmal mehr den Namen der letzten Siedlung, in der er untergekommen war. Er konnte sich kaum noch an sein Leben erinnern, bevor die Träume und Albträume ihn vereinnahmt hatten, und manchmal war er sich nicht sicher, ob diese wenigen Erinnerungen tatsächlich echt waren... oder Überbleibsel der Albträume selbst.

Die Region, durch die er wanderte, war dicht bewaldet. Doch es hätten auch Berge aus Diamant aufragen können, er hätte sie nicht bemerkt. Lucan Fuchsblut wollte einfach nur in Bewegung bleiben.

Er blinzelte, das erste Mal seit einigen Minuten.

Die Landschaft um ihn herum wurde plötzlich smaragdgrün, mit einem sanften blauen Farbton darin, und die neblige Luft umhüllte seine Gestalt wie ein dickes Tuch. Viele der charakteristischen Merkmale verschwanden, weshalb die Umgebung des Kartografen wie ein halb vollendetes Gemälde wirkte. Doch trotz dieser bemerkenswerten Änderung stolperte Lucan ohne Interesse weiter.

Er blinzelte erneut. Um ihn herum erlangte das Land wieder seine normale Farbe... doch einige Details hatten sich verändert. Es war nicht mehr länger die Gegend, durch die er eben noch gereist war. Zwar standen auch hier immer noch Bäume, doch in der Ferne lag eine Siedlung, die dort vorher nicht gewesen war. Außerdem erreichte nun Meeresgeruch seine Nase, obwohl er das genauso wenig bemerkte wie den düsteren Schatten, der sich über die ganze Landschaft gebreitet hatte.

Lucan kam an einer steinernen Wegmarkierung vorbei, deren Schrift er auch dann nicht hätte lesen können, wenn er darauf geachtet hätte. Doch ein Nachtelf hätte bei ihrem Anblick genau gewusst, wo er gelandet war.

In Auberdine...


Ein kalter rauer Wind traf Broll und den Tauren, als sie zu dem Ort gingen, wo laut Hamuul die Zusammenkunft stattfinden würde. Beide Druiden hielten den Kopf gesenkt, kämpften gegen den Wind, als wäre er ein Feind. Hamuul sagte nichts, doch der Tauren stieß ein Grunzen aus, das wie ein Echo der wachsenden Unruhe des Nachtelfen klang.

Das Rascheln der Blätter wurde lauter. Neugierig blickte Broll auf.

Der Druide erstarrte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck.

Teldrassil hatte sich verändert. Die mächtige Krone war immer noch voller Blätter, doch viele waren plötzlich vertrocknet, während andere schwarz wurden und sich ringelten. Sie alle, auch die noch grünen, waren mit scharfen Dornen besetzt.

Broll hörte Hamuuls Stimme, doch es war, als befände sich der Tauren meilenweit entfernt. Die Blätter krümmten sich weiter, wurden immer schwärzer, und nun änderten sich auch die Früchte, die der Baumriese hervorbrachte. Unter den knorrigen Zweigen sprossen runde, totenbleiche Beeren von Kopfgröße und noch gewaltiger. Von ihnen ging ein Gestank nach Verwesung aus. Kein Druide – kein Nachtelf – hätte es gewagt, so etwas zu essen, selbst wenn er am Verhungern gewesen wäre.

Die furchtbare Verwandlung ließ nichts unberührt. Teldrassils Borke war an vielen Stellen aufgeplatzt, und durch diese Stellen konnte er Adern eines schwarzen Saftes sehen. Der Saft tröpfelte zunächst, dann floss er in Strömen. Ungeziefer krabbelte über den Weltenbaum, Tausendfüßler und andere Kreaturen krochen in den Stamm hinein und wieder heraus. Es waren so viele, dass man davon ausgehen konnte, dass im Innern noch viel mehr waren.

„Nein...“, murmelte Broll. „Nein...“

Eine Dunkelheit ging von Teldrassil aus, die sich schnell ausbreitete. Obwohl der Nachtelf sich nicht umdrehte, um das Wachstum zu verfolgen, wusste er sofort, dass die Finsternis weit über Teldrassil hinaus vorgedrungen war, das Hauptland erreicht hatte und die Länder dahinter ebenfalls schon infizierte.

Dann erklang ein Geräusch wie heftiger Regen. Broll riss seinen Blick von dem verfaulenden Stamm los und blickte wieder in die Krone.

Was er für Regen gehalten hatte, erwies sich als ein noch heftigeres Rauschen der Blätter. Die Äste schwangen vor und zurück, bewegten sich nun mit solcher Kraft, als wollten sie sich selbst von den düsteren Blättern befreien.

Und sie hatten Erfolg. Tausende der verderbten Blätter begannen zu fallen. Es war tatsächlich ein Regen, obwohl die Tropfen nicht aus Wasser bestanden.

Die fallenden Blätter hatten sich ebenfalls verwandelt. Sie wurden zu kleinen schwarzen und smaragdgrünen Kreaturen, die ein wenig an Nachtelfen erinnerten. Doch sie hatten Beine wie Tiere und gebeugte Rücken wie die Tauren. Es waren fürchterliche Gestalten, ohne feste Gesichtszüge auf ihren schmalen Köpfen. Dafür prangten dort bösartig aussehende gebogene Hörner. Sie stießen ein nervtötendes Zischen aus und fielen in endlosen Strömen auf die beiden Druiden herab...

„Broll Bärenfell, ist alles in Ordnung?“

Aufgeschreckt taumelte der Nachtelf zurück. Doch als er die Fassung zurückgewann und seine Augen öffnete, stellte er fest, dass der Weltenbaum wieder seine normale Gestalt angenommen hatte. Die Äste waren ruhig, und die Blätter wieder satt und grün.

Hamuul beugte sich vor. Besorgnis lag auf dem Gesicht des Tauren. Broll nickte verspätet, und als ein Horn erklang, war er dankbar, dass er nicht erklären oder verstehen musste, was gerade geschehen war.

„Wir müssen weiter“, drängte Broll. „Das Treffen beginnt schon.“

Der Tauren blinzelte und folgte dem Nachtelfen. Wenig später kamen sie in Sichtweite des Ortes, wo Fandral die Versammlung abhalten wollte.

Es waren mehr Druiden anwesend, als Broll je auf einem anderen Treffen gesehen hatte, und immer noch kamen weitere aus allen Richtungen hinzu. Zwei erregten augenblicklich sein Interesse. Eine mürrische junge Frau unterhielt sich mit einem Mann, der nach außen zufrieden wirkte und viel Macht ausstrahlte. Ständig knetete er seine Hände, als furchte er sich vor irgendetwas. Elerethe Renferal und Naralex waren Leidensgenossen, selbst wenn die Gründe für beide jeweils andere waren. Elerethe hatte während des letzten Krieges zwischen Allianz und Horde die Fauna und Flora des Alteractals retten wollen. Aber sie konnte das Blutbad nicht verhindern, für das nicht allein die beiden kämpfenden Armeen verantwortlich waren, sondern auch ein Orcschamane. Nach dem Krieg hatte sie gelobt, das Tal zu retten. Jetzt, mehrere Jahre später, versuchte sie es immer noch.

Naralex war das Opfer seiner großen Ambitionen geworden. Er wollte Leben an einen Ort zu bringen, der lange leblos gewesen war. Begleitet von einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter war er in das trostlose Brachland gezogen und hatte mit einem klugen Zauberspruch Wasser zutage gefördert, das tief unter dem ausgetrockneten Boden verborgen geruht hatte. So hatte er eine Handvoll Oasen erschaffen. Doch dann hatte etwas Böses nicht nur die Kontrolle über seine Arbeit übernommen, sondern auch von dem völlig unvorbereiteten Naralex und vielen seiner Begleiter Besitz ergriffen. Die Druiden waren korrumpiert worden. Böse Versionen ihrer selbst mit keinem anderen Verlangen, als der Finsternis zu dienen. Naralex selbst war dem Wahnsinn verfallen. Doch dann hatte er wieder zur Vernunft gefunden, nur um kurz darauf erneut im Wahnsinn zu landen und immer so weiter. Rettung hatte er nur durch die unerwartete Hilfe einer Gruppe von Abenteurern erfahren.

Als sein Geist wieder mehr oder weniger klar war, wusste Naralex nicht, was ihn oder die anderen besessen hatte. Und auch wenn es im Brachland derzeit ruhig war, war auf Fandrals Befehl hin weder er noch irgendjemand anderes jemals dorthin zurückgekehrt. Der Erzdruide sah keine Notwendigkeit, ihre Leben oder Energien für einen Ort zu riskieren, den die Große Teilung am Ende des Kriegs der Ahnen in eine Wüste verwandelt hatte. Nach Fandrals Auffassung hatten selbst ausgetrocknete Landstriche auf Azeroth ihren Sinn und Zweck.

Ihre Blicke und die einiger anderer richteten sich auf die Neuankömmlinge... und erinnerten Broll wieder an seinen Makel. Je mehr ein Druide mit der Natur und seiner Berufung in Einklang stand, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass seine Augen den goldenen Glanz von Azeroths Leben annahmen. Große Druiden waren so ausgezeichnet worden.

Doch Broll Bärenfells Augen blieben schmutzig-braun mit einem nur schwachen blauen Leuchten. Es wirkte derart weit entrückt, dass es nur sehr wenig bedeutete.

Broll schüttelte seine Frustration ab und ging auf die beiden zu, dann aber ertönte ein zweites Horn. Die versammelten Druiden blickten allesamt in die Richtung des Geräuschs. Ein einzelner Druide mit einem grünen Band auf seinem linken Unterarm senkte das Ziegenhorn, dann blickte er Teldrassil an.

Die raue Borke, auf die der Hornbläser blickte, bewegte sich. Broll erschauderte und erinnerte sich augenblicklich an seine bizarre Vision. Dann teilte sich die Rinde und öffnete sich gerade weit genug, damit ein Nachtelf eintreten konnte... oder, wie in diesem Fall, herauskommen konnte.

Die Druiden senkten respektvoll die Köpfe, als Fandral Hirschhaupt erschien. Er hatte die Haltung von jemandem, der alles unter Kontrolle hat. Seine Augen leuchteten golden, während er vielen der Versammelten zunickte. Fandral trug einfachere Kleidung als die meisten anderen. Sein Oberkörper war nur an den Schultern von einer schützenden Holzrüstung bedeckt, die wie die Köpfe von Bestien geformt war. Selbst deren leuchtende Augen waren eingearbeitet. Seine Hände steckten in gewebten Handschuhen ohne Fingerkuppen, die bis zum Ellbogen reichten, wo sie in hölzernen Enden ausliefen.

Fandral ging barfuß. Das tat er, um seine Einheit mit der Natur zu demonstrieren. Als einziges Zeichen seiner Extravaganz trug er um die Hüfte einen verzierten Gürtel mit einer großen rubinroten Schnalle und einem dekorativen, mehrteiligen Ring, der daran hing. Um jede Seite des Gürtels waren Borkenstückchen gewickelt.

„Der Wald ist der Lebensnerv der Welt“, intonierte Fandral.

„Der Wald ist der Lebensnerv der Welt“, wiederholten Broll und die anderen Druiden.

„Teldrassil ist der Lebensnerv der Welt...“

Broll und der Rest wiederholten erneut seine Gesangsvorgabe.

„Ich bin froh, dass so viele von Euch so schnell zu dieser Zusammenkunft erschienen sind“, sagte der Erzdruide dann. „Ich muss Eure schlimmsten Befürchtungen bestätigen. Teldrassil ist krank...“

Die Druiden blickten einander ängstlich an. Eigentlich war das, was Fandral ihnen verkündet hatte, keine große Überraschung. Dennoch war es schockierend, den Erzdruiden so offen darüber sprechen zu hören. Obwohl beinahe alle Druiden an seiner Erschaffung mitgewirkt halten, war Teldrassil hauptsächlich Fandrals Werk, und mehr als alle anderen wachte er über dessen Gesundheit.

Fandral Hirschhaupt war der Erste gewesen, der den zweiten Weltenbaum vorgeschlagen hatte. Malfurion hatte den Vorschlag allerdings abgelehnt, sodass er zunächst nicht umgesetzt wurde. Doch trotz Malfurions Opposition blieb Fandrals Loyalität bestehen. Erst nachdem das schreckliche Schicksal des großen Erzdruiden bekannt geworden war, hatte Fandral die Führung übernommen. Dabei hatte es nur wenig Protest von den anderen gegeben. Seine vorrangige Aufgabe, so hatte er feierlich verkündet, war es, ihren geliebten Shan’do zu retten.

Unter seiner Führung hatten die älteren Druiden vom Zirkel des Cenarius entschieden, dass Malfurions reglose Gestalt in der Gruft auf der Mondlichtung bleiben sollte. Dort, umgeben von den natürlichen Energien der Welt und der magischen Pflege der Schwestern von Elune, verhungerte der Körper nicht oder litt unter Wassermangel. Darauf gründete sich die Hoffnung, dass Malfurion mächtig genug war, um nach so langer Zeit doch noch zurückkehren zu können.

Fandral hatte sich nicht auf die Hoffnung allein verlassen. Der Zirkel hatte Versuche unternommen, nicht nur den Körper wieder herzustellen, sondern auch Malfurions Geist zurückzuholen. Doch die Versuche scheiterten allesamt. Sie hatten sich sogar an die Herrin des Smaragdgrünen Traums gewandt – den großen grünen Drachen Ysera -, aber das hatte ebenfalls nicht funktioniert. Auch Ysera konnte keine Verbindung zu dem Erzdruiden herstellen.

Bis vor Kurzem war all das vor dem Volk der Nachtelfen geheim gehalten worden. Selbst die meisten Angehörigen der Schwesternschaft und der Druiden wussten nichts davon. Doch als immer mehr Fragen aufkamen, sah sich der zögerliche Fandral schließlich dazu gezwungen, wenn schon nicht den Rest des Volkes, dann doch zumindest seine Druiden von der Hoffnungslosigkeit der Situation zu unterrichten. Das war auch der Hauptgrund gewesen, warum so viele Druiden zu der plötzlich einberufenen Versammlung gekommen waren. Broll war überzeugt davon, dass die anderen Druiden wie er selbst geglaubt hatten, dieses Treffen würde irgendwie mit Malfurions Rettung zusammenhängen.

Doch Teldrassil war auch ein wichtiger Grund, wenn nicht sogar noch wichtiger für alle Nachtelfen. Denn das eigentliche Ziel des neuen Weltenbaums war es ursprünglich gewesen, ihre Unsterblichkeit zurückzuerhalten und letztlich ihre Kräfte zu vergrößern. Fandral hatte ihnen erklärt, dass der magische Baum zugleich auch ihre einzige Hoffnung sein könnte, um die Traumgestalt ihres Gründers zu finden und somit zu seiner Rettung beizutragen.

Wenn Teldrassil wirklich so krank ist, dann... Broll runzelte die Stirn und sah, wie sich seine Besorgnis auf den Gesichtern von Hamuul und dem Rest der Druiden widerspiegelte.

Fandral mischte sich unter die anderen. Sein scharfer Blick blieb kurz auf Broll liegen. Obwohl es eindeutig nicht die Absicht des Erzdruiden war, erinnerte dieser Blick Broll an sein schreckliches Versagen. Allerdings war ihm diese Erinnerung sowieso stets gegenwärtig.

Der ältere Erzdruide lächelte wie ein Vater, der zu seinen Kindern spricht. „Doch verzweifelt nicht, meine Freunde“, sagte er. „Ich habe Euch nicht hierher gerufen, um über den Untergang zu sprechen...“

„Gibt es denn Hoffnung?“, stieß ein anderer Druide hervor.

„Es gibt mehr als Hoffnung!“, verkündete Fandral. „Ich habe Euch an diesem Ort versammelt, hier bei Teldrassils Wurzeln, damit wir dem Weltenbaum bei seiner Heilung helfen.“ Er lächelte aufmunternd. „Und wenn es Teldrassil wieder gut geht, können wir uns auf unsere Suche nach Malfurion Sturmgrimm konzentrieren...“

„Aber wie können wir Teldrassil helfen?“, rief ein anderer.

„Hiermit.“ Der Erzdruide streckte die Hand aus. Darin lag ein Objekt, das alle erkannten... und das Broll einen Seufzer der Bestürzung und Überraschung entlockte.

Fandral hielt das Götzenbild von Remulos in der Hand.

Der Name war vielleicht irreführend, weil das Götzenbild so gar nicht nach der Gottheit aussah, nach der es benannt worden war. Die Figur glich einem sich aufbäumenden grünen Drachen und war vom Halbgott Remulos geschaffen worden, dem unsterblichen Sohn des Cenarius. Der bot seinerseits selbst einen erstaunlichen Anblick. Die untere Hälfte von Remulos’ Körper war wie die eines stolzen Hirsches geformt, doch wo die Vorderbeine auf den Hals hätten treffen sollen, befand sich eine menschliche Brust. Seine Hufe waren gespalten und mächtig. Wie sein Vater war der Halbgott halb ein Waldtier, dessen Oberkörper jedoch einem Nachtelfendruiden glich. Seine Arme liefen in belaubten hölzernen Krallen aus, und sein Haar und der Bart bestanden aus Blättern, Gestrüpp und Moos.

Remulos war zugleich der Wächter der Mondlichtung. Broll hatte sich schon gefragt, ob der unsterbliche Druide hier erscheinen würde, obwohl Remulos bereits seit einiger Zeit nicht mehr an den Treffen teilnahm. Gerüchtweise führte er seine eigene Suche nach Malfurion durch...

Das Götzenbild war ein mächtiges magisches Artefakt, das sicherlich in der Lage war, die Zauber der Druiden zu verstärken... wenn es nicht vorher größeren Schaden anrichtete.

Tatsächlich konnte Broll sich kaum zurückhalten. Es platzte aus ihm heraus: „Erzdruide, bei allem Respekt... sollen wir das Götzenbild wirklich benutzen?“

Fandral wandte sich ihm zu und bückte Broll ernst an. „Eure Sorgen sind verständlich, guter Broll. Anessas Verlust war nicht Euer Fehler. Ihr habt getan, was Ihr konntet, um viele Leben zu retten und die Dämonen zurückzuschlagen.“

Broll bemühte sich, bei Fandrals Worten nicht zu erschaudern, auch wenn sie ihn eigentlich nur beruhigen sollten. Ein menschliches Gesicht regte sich in Brolls Erinnerungen. Ein entschlossener dunkelhaariger Mann mit Augen, die von einem größeren Verlust erzählten, als ihn selbst der Nachtelf erfahren hatte. Varian Wrynn war gemeinsam mit Broll losgezogen, um die verfluchte Figur von einem verrückt gewordenen Furbolg zurückzuholen. Sie beide hatte bereits zuvor ein starkes Band verbunden, als sie noch Sklaven und Gladiatoren gewesen waren. Varian hatte ihm geholfen, obwohl er seine eigene Vergangenheit nicht kannte. Er wusste nicht, dass ein ganzes Reich seines Königs beraubt war...

Fandral wandte sich wieder Broll zu. Er hielt die Figur hoch, dann richtete er sie auf den Weltenbaum. „Einst speisten wir ihn, damit er aus einer einzelnen Nuss zu dem wunderbaren Riesen heranwuchs, der er jetzt ist. Diese Mühen kosteten uns viel, doch die Belohnung war mannigfaltig... eine neue Heimat, Nahrung, Wasser und Schutz vor unseren Feinden...“

Die Druiden nickten, obwohl Broll bemerkte, dass Fandral nicht die Unsterblichkeit erwähnte, die sein Volk immer noch verloren hatte. Doch vielleicht reagierte er empfindlich darauf, weil Teldrassil sie noch nicht wieder hergestellt hatte.

Der Erzdruide richtete das Götzenbild auf einen anderen Druiden, der ihm am nächsten stand. Der andere Nachtelf trat instinktiv einen Schritt zurück. „Doch als er uns so viel gab, wurde Teldrassil für Krankheiten anfällig. Er braucht uns wieder. Im Gegenzug... wird er uns dann sicherlich den Weg weisen, um unseren Shan’do zu finden!“

Fandrals Enthusiasmus war ansteckend. Die anderen raunten ihre Zustimmung.

„Der Traum wird rasend schnell vom Albtraum verzehrt...“, fuhr er feierlicher fort und fasste das furchtbare Wissen zusammen, das bereits alle teilten. „Ohne Nachricht von seiner Herrin habe ich seit den letzten törichten Versuchen allen anderen den Zutritt verboten...“ Fandral blickte die Versammlung an, als wollte jemand nicht gehorchen. „Denn Malfurion wollte sicherlich nicht, dass um seinetwillen weitere Leben gefährdet werden...“

Er legte die Hand an die Brust, dann malte er einen Kreis in die Luft, dem er zwei senkrechte geschwungene Striche hinzufügte. Die Striche symbolisierten das Geweih des Cenarius. Das ganze Symbol repräsentierte den Zirkel des Cenarius.

Die Druiden schlugen in Vorbereitung ihres Zaubers die Hände zusammen. Broll reinigte seinen Geist von Bedenken und kleinlichen Moralvorstellungen und begann stattdessen, sich selbst in eine meditative Trance zu versetzen. Neben ihm tat Hamuul es ihm gleich.

Fandral wandte sich Teldrassil zu und berührte den großen Stamm mit der Hand. Seine Finger fuhren die raue Rinde hinunter.

In dem Weltenbaum begann sich etwas zu regen, etwas, das jeder Druide spüren konnte, als wäre es ein Teil von ihm selbst. Selbst in seiner Meditation fühlte Broll die Gegenwart des Riesen... Teldrassils Essenz berührte diejenigen, die ihm beim Wachsen geholfen hatten.

Der Weltenbaum war mehr als nur die Heimat der Nachtelfen. Er war mit der Gesundheit von Azeroth verbunden. War er krank, dann beeinflusste er nicht nur die direkte Umgebung, sondern auch die Länder jenseits der Insel. Selbst die Luft und die rauschende See waren nicht immun dagegen. Und schließlich konnte ein Teldrassil, dem es schlecht ging, nicht die Balance zwischen Natur und Verfall halten.

Der Boden bebte, doch weder Broll noch einer der anderen verspürte Furcht, nicht einmal, als etwas unter ihnen hervorbrach, das wie Tentakel wirkte.

Doch es waren keine Tentakel. Es waren die Wurzeln von Teldrassil. Auf jeden Druiden bewegte sich eine Wurzel zu, sie schlängelten sich heran, als wollten sie angreifen. Dennoch rührte sich niemand. Sie alle wussten, dass Teldrassil sie nicht verletzen wollte, sondern stattdessen um Hilfe bat...

Eine riesige Wurzel wand sich bereits um Fandral. Dabei bildeten sich an der Hauptwurzel kleine Auswüchse. Sie wiederum wickelten sich um den Erzdruiden wie Rankengewächse, bis er von ihnen halb bedeckt war.

Es war eine Variante – eine gigantische, natürlich – jener Methode, wie die Druiden mit der Flora von Azeroth kommunizierten. Was man nicht sehen konnte, war, dass die Ranken ihr Innerstes durchdrangen, Nachtelf und Pflanze fast zu einem einzigen Wesen machten.

Fandral hielt das Götzenbild von Remulos ausgestreckt. Es leuchtete nun in einem schwachen Grün. Diese Farbe deutete auf den Drachen hin, mit dem das Götzenbild verbunden war. Nicht einmal Remulos wusste, an welchen der grünen Drachen seine Kreation gebunden war. Diese Wahl war im Geheimen von Ysera getroffen worden. Doch dieser Drache musste sehr mächtig sein.

Broll spürte etwas Angst, als die Magie der Figur sowohl ihn als auch Teldrassils Wurzel berührte. Doch sein Vertrauen in den Erzdruiden verdrängte seine Erinnerung an die scheußlichen Taten des Artefakts. Die Magie drang in den Geist des Druiden und seine Seele ein...

Er wurde zu Teldrassil, und Teldrassil wurde zu ihm.

Broll konnte die Freude nicht zurückhalten, die ihn überkam. Er fühlte sich, als läge ihm ganz Azeroth zu Füßen, so tief und so weit reichten die Wurzeln des Weltenbaums mittlerweile. Er blickte weit über die Insel hinaus, weit über die umgebenden Wasser...

Bevor seine Wahrnehmung sich allerdings noch mehr ausdehnen konnte, spürte Broll ein Ziehen. Ein Hauch von Schwäche berührte ihn. Doch Fandrals Gedanken erfüllten seinen Geist und versicherten ihm – und dem Rest -, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden.

Die Macht der Druiden floss in Teldrassil hinein und nährte ihn. Stärkte ihn. Was auch immer den Baum quälte, würde sich ihrem vereinten Willen und Verlangen nicht dauerhaft widersetzen können. Und dann würde ihnen Teldrassil bei der Suche nach Malfurion helfen, wie der Erzdruide es versprochen hatte...

Er hatte gerade an seinen Shan’do gedacht, da bemerkte Broll einen Missklang in seinem Bewusstsein. Finsternis breitete sich in seinen Gedanken aus, und er spürte dasselbe Unbehagen, das er erlebt hatte, als er die Vision des korrumpierten Teldrassils gesehen hatte. Broll versuchte, dieses Unbehagen loszuwerden, doch stattdessen wuchs es...

Broll Bärenfell...

Der Klang seines Namens verdrängte den letzten Rest innerer Ruhe. Kannte er die Stimme? War es...

Die Verbindung zwischen Teldrassil und ihm brach ab. Broll keuchte und fiel auf die Knie. Vage spürte er die anderen um sich herum, darunter Hamuul. Hatte Hamuul nach ihm gerufen, so wie schon zuvor? Nein, es hatte fast schon nicht echt geklungen. Das Geräusch war spurlos aus seinen Gedanken verschwunden.

Es war schwer, sich darauf zu konzentrieren. Wie ein Traum entschlüpfte es in sein Unterbewusstsein...

Hamuul legte eine Hand auf seine Schulter. Broll sah auf. Eine Handvoll Druiden umstanden ihn, die meisten waren Freunde.

„Es geht mir gut“, sagte er atemlos. „Vergebt mir, dass ich den Zauber brach...“

„Ihr hattet nichts damit zu tun“, antwortete Naralex verblüfft, als er sich zu Broll hinabbeugte. „Hamuul rief uns zu Euch, und wir waren die Nächststehenden. Doch Ihr habt unseren Zauber nicht unterbrochen...“

Naralex und Hamuul halfen dem Druiden beim Aufstehen. Broll errötete vor Verlegenheit. „Wenn ich es nicht war, wer dann?“

Doch noch während er sprach, spürte er durch das Land um sich herum, dass die Druiden nicht mehr allein waren. Eine fremde Präsenz näherte sich schnell.

Broll blickte zu Fandral, der mit dem Rücken zu Teldrassil stand und seinen Blick auf den Pfad zu ihrer Linken gerichtet hatte. Es war ihm nun klar, dass der Erzdruide den Zauber unterbrochen hatte, und zwar wegen der Ankunft von Außenstehenden.

Eine Gruppe Neuankömmlinge schritt ohne zu zögern in ihre Versammlung. Sie stellten sich schützend vor ihren Anführer. Obwohl es Nachtelfen waren, konnte man sie nicht mit Druiden verwechseln.

Alle waren weiblich und gehörten einem religiösen Orden an. Sie trugen leere Scheiden an der Seite und Köcher auf dem Rücken. Broll nahm an, dass sie ihre Waffen aus Respekt vor der Versammlung der Druiden zurückgelassen hatten. Er konnte an ihrem geschmeidigen Auftreten und der Anmut erkennen, dass sich diese Frauen nicht nur mit einer Vielzahl von Waffen auskannten, sondern auch im Nahkampf.

Die Gruppe bestand aus elf Kriegerinnen, obwohl die Zahl ihres Ordens bei Weitem größer war. Sie waren in Roben aus schimmerndem Mondlichtsilber gekleidet, die bis zu den Knöcheln hinabreichten. Darauf befanden sich elegante silberne Tränenströme, die von der Mitte bis zu den Oberschenkeln hinabliefen und jeweils in einer blauen Kugel endeten. An der Hüfte trugen sie Gürtel mit dekorativen Schnallen. Die Roben fielen frei und erlaubten so den im Nahkampf versierten Frauen viel Beinfreiheit. Selbst ohne ihre Klingen oder die Bögen stellten diese Elfen eine kampfbereite Truppe dar.

Ihre Anführerin blickte schnell – fast schon ungeduldig – über die Druiden hinweg. Sie breitete die Hände aus... und durch den bewölkten Himmel schien plötzlich der größere von Azeroths zwei Monden und spendete Licht.

„Unsere Anwesenheit stört Euch doch nicht, oder?“, fragte Tyrande Wisperwind höflich. „Immerhin ist dies nicht der Ort, wo sich der Zirkel normalerweise trifft...“

„Die Schwestern der Elune sind uns stets willkommen“, antwortete Fandral. „Obwohl eine Versammlung der Druiden für die Hohepriesterin der Mondgöttin und Herrscherin der Nachtelfen von geringer Bedeutung sein dürfte...“

„Sie wäre tatsächlich nicht bedeutsam, auch nicht an diesem unüblichen Ort...“, antwortete sie. Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich auf eine Art, die Fandral die Stirn runzeln ließ. Die anderen Druiden wurden unruhig, „... wenn Elune mir nicht persönlich eine schreckliche Wahrheit eröffnet hätte...“

Die Druiden begannen zu rumoren. Fandral gebot ihnen mit einer Geste Ruhe, dann fragte er: „Welche ‚schreckliche Wahrheit‘, Hohepriesterin?“

Tyrande schluckte – der einzige Hinweis darauf, dass die Nachricht sie tiefer berührte. „Malfurion – stirbt...“

„Unmöglich! Wir sorgen für die Sicherheit der Gruft, und Eure eigenen Priesterinnen wachen täglich über seinen Körper. Es gibt keinen Grund für solch düstere Annahmen...“

„Dennoch sind sie berechtigt“, antwortete sie. „Sein Zustand hat sich verändert. Malfurion liegt im Sterben, und wir müssen so schnell wie möglich handeln.“

Bevor Fandral antworten konnte, sagte Broll: „Und was sollen wir tun, Hohepriesterin?“

Tyrandes Stimme war hart wie Stahl. „Als Erstes müssen wir zur Mondlichtung reisen...“

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