Etwas anderes bewegte sich nahe Malfurions vernebeltem Gefängnis, etwas, das ihm sowohl vertraut als auch fremd erschien.
Der Erzdruide fragte sich, welche neue Folter der Albtraumlord wohl nun wieder im Sinn hatte. Der Schmerz seiner fortgesetzten Umwandlung drang immer noch in ihn ein. Doch Malfurion konnte einen Teil seines Geistes dagegen abschirmen. Er wusste, dass sein Peiniger so etwas ahnte und die Abschirmung einreißen wollte. Und deshalb erwartete er genau das als Nächstes.
Malfurion war sich seiner eigenen Fähigkeit, alldem zu widerstehen, nicht sicher. Seine Pläne auszuführen und gleichzeitig der Folter standzuhalten, hatte ihm enorm viel abverlangt. Der Albtraumlord wusste nur zu gut, wie man folterte. Dazu benutzte er jeden und alles, was der Erzdruide liebte oder am meisten fürchtete.
Die Gestalt war groß, allerdings nicht so groß wie der Schatten des riesigen Baumes. Mehr wusste Malfurion nicht von seinem Feind. Diese neue Gestalt bewegte sich mit einer Zuversicht und Anmut, die den Nachtelf verstörten. Er wünschte sich, dass der dichte, beunruhigende Nebel, der sein kleines Gefängnis umgab, sich wenigstens für einen Moment gelichtet hätte, damit er das Wesen besser hätte sehen können. Dann hätte er vielleicht erahnen können, welch neue Übel es mit sich brachte.
Ich bin hier..., erklang eine Stimme in seinem Kopf. Es war nicht der Albtraumlord, sondern wahrscheinlich die neue Gestalt. Sie redete auch nicht mit Malfurion, er hörte nur, wie sie zu jemand anderem Kontakt aufnahm.
Und dieser andere kam auch. Der Schatten des Baumes beugte sich über Malfurions verdrehte Gestalt. Die Zweige des Albtraumlords wanden sich wie Ranken auf den Neuankömmling zu.
Es herrschte Stille. Malfurion erkannte, dass sein Entführer mit der Gestalt sprach. Doch anders als der Besucher hielt der Albtraumlord sein Begehren vor dem Gefangenen verborgen. Der Nachtelf fragte sich, warum das nötig war.
Der neue Schatten stieß ein spöttisches Lachen aus. Ja... so machen wir es... was für ein Spaß das sein wird...
Der Erzdruide hätte die Stirn gerunzelt, wenn er es denn gekonnt hätte. Das war keine neue Folter für ihn. Stattdessen hatte sein Peiniger offenbar eine Aufgabe für den anderen Schatten.
Nachdem er das erkannt hatte, wurde Malfurion entschlossener. Er nutzte seine Schmerzen, um seine Kräfte zu fokussieren. Er war immer noch im Smaragdgrünen Traum – oder nun Albtraum -, und trotz seiner Bemühungen, den Nebel zu durchdringen und zu sehen, wie das Reich vom Bösen verändert worden war, hatte er bislang versagt. Doch vielleicht... vielleicht konnte Malfurion mit etwas mehr Konzentration mehr erfahren.
Der Schleier würde sich nicht auflösen. Der Umriss blieb das, was er war. Immer noch konzentrierte sich der Erzdruide und benutzte dieselbe Methode, die man anwandte, um in das eigene Innere zu schauen. Er musste sich in die gleiche Meditation versetzen, die dem Verlassen des Körpers in Traumgestalt vorausging. Malfurions ganzes Streben war, nun alles aufzuspüren, was diesen beunruhigenden Besucher auszeichnete. Er hatte dies bereits mit dem Albtraumlord versucht und dabei versagt. Doch wenn die beiden nicht vermuteten, dass er es bei dem Neuankömmling noch einmal probieren würde...
Du bist doch ein neugieriger Wicht!
Malfurions Geist wurde von einer mentalen Kraft getroffen, die so groß war, dass sie ihn augenblicklich betäubte. Interessanterweise wurde dabei der ursprüngliche Schmerz geringer – wenn auch nur für eine Sekunde.
Ich gehe... sagte der Schatten zu dem Peiniger des Nachtelfen. Der Erzdruide konzentrierte sich erneut und bekam so mit, wie die Gestalt im dichten Nebel entschwand.
Der Schattenbaum, der den Albtraumlord hier verkörperte, lehnte sich zurück, um über Malfurion aufzuragen. In dir steckt immer noch zu viel Geist, aber nicht mehr lange... so viel Mühsal laugt dich aus, oder nicht? Wie geht es deiner sterblichen Hülle, mein Freund?
Der Nachtelf verstand sofort. Er spürte eine Schwäche, die nicht von seiner Traumgestalt ausging, sondern von seinem echten Körper. Sein Versuch, mehr herauszufinden, hatte ihn wertvolle Lebenskraft gekostet.
Die Schattenäste legten sich über seine Augen, fast, als ob sie sie abpflücken wollten. Doch Malfurion wusste, dass seine Augen wohl der am wenigsten gefährdete Teil seiner Traumgestalt waren. Das Böse, das ihn gefangen hielt, wollte, dass er alles sah, selbst wenn es nichts zu sehen gab... oder vielleicht weil es nichts zu sehen gab.
Du möchtest etwas sehen? Da hättest du doch nur fragen müssen, mein Freund... das ist doch das Mindeste, was ich für jemanden tun kann, der mir so viel von seinen Sehnsüchten gibt...
Die Äste streckten sich vorwärts, teilten sich in zwei Hälften auf, die den Nebel wie riesige Hände wegstießen... und zum ersten Mal enthüllten, was aus dem Smaragdgrünen Traum geworden war.
Malfurion hätte geschrien, wenn er es gekonnt hätte.
Die Äste zogen sich zurück. Der Nebel schloss sich wieder über dem gefangenen Erzdruiden.
Die spöttische Stimme erfüllte seine Gedanken. Die Freude darin hieb wie ein Dolch auf den Geist des Nachtelfen ein. Und wir schulden dir etwas dafür, Malfurion Sturmgrimm... so viel.
Der Schattenbaum verschwand. Die Stimme verstummte. Einen Augenblick lang wurde Malfurion mit diesem Schrecken allein zurückgelassen. Es war die neueste Folter, die dazu dienen sollte, den Teil von ihm zu brechen, der sich noch nicht ergeben hatte.
Aber sein Peiniger wusste nicht, dass der Nachtelf seinerseits ebenfalls etwas Wichtiges erfahren hatte. Eigentlich waren es sogar zwei Dinge. Zum einen wusste er jetzt, wer der Diener des Albtraumlords war. Die Antwort hätte offensichtlich sein müssen. Doch wegen Malfurions stetem Leiden hatte es der abrupten Wut der Kreatur selbst bedurft, um sie zu verraten.
Ein grüner Drache übte also das Böse aus... doch nicht irgendein grüner Drache...
Er betete, dass Ysera davon wusste, damit sie davon nicht überrascht wurde. Wenn die Herrin des Smaragdgrünen Traums in Gefangenschaft geriet, war wirklich alles verloren.
Und das zweite, was er durch die Enthüllung von Malfurions wahrer Umgebung erfahren hatte, diente dazu, eine Entscheidung zu überprüfen, die der Erzdruide bereits vor langer Zeit getroffen hatte.
Denn wenn er Ysera und den Smaragdgrünen Traum retten wollte, würde Malfurion sterben müssen...
Trotz allem, was sie gesehen hatten, trotz allem, was es eventuell für sie bedeuten konnte, wussten Tyrande und Broll, dass sie irgendwann schlafen mussten. Der schreckliche Kampf in Auberdine hatte sie mehr erschöpft als sie geahnt hatten.
Tyrande und Broll wussten nicht, wo sie sich in Relation zu Auberdine oder dem Eschental genau befanden. Doch der Druide glaubte, dass sie ihrem Ziel trotz allem näher gekommen waren. Unglücklicherweise hatten sie nun Jai nicht mehr, weshalb sie nicht fliegen konnten. Denn so kräftig Broll in seiner Sturmkrähengestalt auch war, konnte er die Hohepriesterin und ihren merkwürdigen neuen Begleiter doch nicht tragen.
Tyrande beobachtete den schlafenden Menschen. Er wirkte harmlos, und sie spürte keinerlei magische Präsenz um ihn herum. Als Hohepriesterin der Elune und jemand, der sich seit Jahrhunderten mit den verschiedenen Arten der Magie beschäftigt hatte, hätte sie wenigstens irgendetwas sehen müssen. Dennoch gab es etwas an ihm, das von Magie zeugte. Doch es war von untergeordneter Art. Fast wie ein Teil seines innersten Wesens, der jedoch nie durch das Studium der mystischen Künste perfektioniert worden war.
Sie blickte zum Himmel, der sich von grau zu schwarz veränderte. Ein Tag war vergangen, ein wertvoller Tag war verloren, während sie darauf warteten, dass der Mensch endlich aufwachte. Obwohl er im Schlaf murmelte, verhielt er sich nicht wie die Bewohner von Auberdine. Seine Albträume mochten lebhaft sein, doch sie waren noch nicht zum Leben erwacht.
Wenn sie an Auberdine dachte, schauderte die Hohepriesterin. Sie und Broll wären beinahe dem Bösen zum Opfer gefallen, wie der arme Jai. Tyrande durchlebte den Albtraum, den sie erlitten hatte, erneut – teuflisch grinsende Satyre, die sie zu ihrem Meister bringen wollten – und war dankbar, dass der Mensch gekommen war. Broll hatte ihr von seinen eigenen Monstern erzählt, in seinem Fall waren es makabere untote Dämonen der Brennenden Legion gewesen. Für beide Nachtelfen hatten die Kreaturen wie schreckliche Parodien der schlafenden Einwohner von Auberdine ausgesehen.
Nicht zum ersten Mal wollte Tyrande ihren neuen Begleiter schütteln, bis er aufwachte. Malfurion näherte sich immer mehr dem Vergessen. Und mit jedem verstreichenden Tag wurde es schlimmer. Trotzdem waren sie und der Druide übereingekommen, dass es keinen Sinn hatte, es noch einmal zu versuchen. Der Mensch war bewusstlos geblieben, trotz ihrer anfänglich sehr rabiaten Versuche, ihn zu wecken. Es schien, dass er nicht erwachen würde, bevor er es selbst wollte.
Aber ich will Malfurion nicht wieder verlieren!, dachte Tyrande, und ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. Ich will ihn nicht verlieren, selbst wenn es sein eigener Fehler war, der ihn da hingeführt hat...
Ein Gefühl der Scham überkam sie. Malfurion war fort und suchte nach möglichen Gefahren. Dabei hatte er nicht nur das Beste für die Druiden im Sinn gehabt. Ihm ging es um ganz Azeroth, als er ausgezogen war... wie schon so viele Male zuvor...
Tyrande versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Sie war froh, als sie hörte, wie Broll sich rührte.
Er bemerkte ihren veränderten Gesichtsausdruck nicht, seine Aufmerksamkeit war auf den Menschen gerichtet. „Er schläft immer noch, wie ich sehe.“
„Ich habe meine Zweifel, dass er erwachen wird.“
„Ich auch. Er verhält sich nicht wie die anderen. Aber den ganzen Tag durchzuschlafen, nachdem er bereits die halbe Nacht davor geruht hat...“
Die Hohepriesterin spielte mit der Gleve. Sie war froh, dass sie sie von Jais Sattel geholt hatte. Hätte sie es nicht getan, wäre die Waffe in Auberdine zurückgeblieben. Auch wenn Tyrande in sich die Gaben von Mutter Mond trug, war sie doch nicht unverwundbar. Die Gleve war eine robuste und nützliche Waffe. „Sollen wir ihn hierlassen? Mir gefällt der Gedanke allerdings nicht, schließlich hat er uns geholfen.“
„Das sehe ich auch so. Dennoch müssen wir ins Eschental, und obwohl ich ihn eine Weile tragen könnte, würde er uns behindern.“
Sie berichtete ihm schließlich, was sie sich fast während der ganzen wachen Zeit überlegt hatte. „Ihr solltet allein weitergehen. Das hattet Ihr doch sowieso geplant, als ich die Reise ins Eschental vorschlug.“
Broll blickte sie entsetzt an. „Ich lasse Euch hier nicht allein! Schon gar nicht nach allem, was in Auberdine geschehen ist! Wir gehen gemeinsam nach Eschental...“ Er deutete mit dem Daumen auf den Menschen. „Und den Burschen hier nehmen wir mit...“
„Wie?“
Der Druide blickte schuldbewusst. „Auf eine Weise, die ich sowieso vorhatte, wenn ich Auberdine erst hinter mir gelassen hätte.“ Aus seinem Umhang holte er den Gegenstand, den er aus Fandrals Heim mitgenommen hatte. „Es ist an der Zeit, dass mein Diebstahl sich mal als nützlich erweist – falls das überhaupt möglich sein sollte.“
Sie konnte nicht glauben, was sie sah. „Ist das... ist das das Götzenbild von Remulos?“
„Ja.“
„Ich dachte, Ihr hättet es dem Erzdruiden Fandral zur Aufbewahrung gegeben...“
„Und nun habe ich es mir geborgt.“ Sein Gesichtsausdruck bat sie, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Als Tyrande nickte, wirkte Broll erleichtert. Er fügte hinzu: „Es könnte unsere einzige Hoffnung sein, wenn wir erfolgreich das Portal durchqueren wollen.“
„Wie denn?“
„Remulos sagte, dass es mit einem grünen Drachen von großer Macht verbunden sei. Doch der Aspekt Ysera wollte nicht verraten, welchen genau sie dazu erwählt hatte. Remulos tippte auf denselben Drachen wie ich. Ich habe ihn kurz gesehen, als ich versuchte, das Götzenbild von der Korrumpierung zu befreien. Dabei spürte ich seine große Macht. Es könnte einer ihrer Gemahle sein.“
Was nach Auffassung der Hohepriesterin ein Drache mit unvergleichbarem Wissen und Macht sein musste. Tyrande verstand Brolls Argumentation. „Glaubt Ihr, Ihr könntet durch die Figur Kontakt mit ihm aufnehmen?“
„Es wäre einen Versuch wert, ja.“
Ihr gefiel der Klang seiner Worte nicht. „Was wird Fandral tun, wenn er herausfindet, dass Ihr das Götzenbild entwendet habt?“
Broll zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Aber wenn ich all das hier überlebe, werde ich es herausfinden.“
Tyrande betrachtete die Figur und betete darum, dass sie das Risiko für den Druiden wert war... für sie beide. „Was wollt Ihr machen... und kann ich Euch dabei irgendwie helfen?“
„Nein, das muss ich ganz allein erledigen.“ Broll stellte die Figur auf den Boden vor sich, dann setzte er sich im Schneidersitz hin. Die Augen des Drachen starrten direkt in die des Druiden. „Ich versuche etwas anderes“, murmelte er. „Ich will nicht das Artefakt selber nutzen...“ Der Druide dämpfte seine Stimme. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das verfluchte Ding wiedersehen müsste, deshalb...“
Die Hohepriesterin sagte nichts, sie war sich der Qual bewusst, die Broll bei seiner letzten Begegnung mit der Figur erlebt hatte. Er war derart geschwächt gewesen, dass er seine Tochter nicht vor den verderbten Kräften des Götzenbildes hatte retten können.
Broll wandte die Handflächen dem Götzenbild zu und begann zu murmeln. Das Götzenbild war immer noch an den Drachen gebunden, welcher auch immer es sein mochte. Broll hoffte, sich in diese Verbindung einklinken zu können und den Geist des Drachen zu berühren. Tyrande wusste genau, warum. Der grüne Drache konnte ihnen einen Hinweis darauf geben, was gerade geschah. Und was noch wichtiger war, er konnte ihnen dabei helfen, in den Smaragdgrünen Traum einzudringen. Einst war das Götzenbild dazu in der Lage gewesen – Broll hatte es so benutzt, als er einst in Bärengestalt gegen seinen eigenen Zorn gekämpft hatte. Das war gewesen, bevor der Albtraum diesen unberührten Ort schwer erreichbar gemacht hatte. Doch ihre Chancen zu überleben und vielleicht zu siegen, wären mit einem der Wächter dieses Reiches auf ihrer Seite bedeutend gestiegen.
Ein schwacher Rest von Mondlicht berührte das Götzenbild, und dabei löste sich ein dünner Energiestrom von der Figur.
Die Magie verband das Götzenbild mit dem geheimnisvollen Drachen.
Tyrandes Aufmerksamkeit wurde plötzlich von Broll in Anspruch genommen, um den herum ein schwaches Leuchten entstand, das eher waldgrün war. Interessanterweise schien es nicht von ihm selbst auszugehen, sondern stieg von dem mit Gras bewachsenen Boden auf.
Als Druide bezog Broll viel von seiner Kraft aus der Flora und Fauna von Azeroth, und zum ersten Mal sah Tyrande, wie das funktionierte. Doch es ruhte auch eine Kraft in ihm selbst – genauso wie in Malfurion. Aber diese Eigenart der Druiden hatte sie noch nicht richtig erfasst. In gewisser Weise glich sie den Kräften von Mutter Mond.
Vielleicht sind Malfurion und ich gar nicht so verschieden, überlegte die Hohepriesterin. Und vielleicht haben wir uns gerade deshalb so weit voneinander entfernt...
Eigentlich hätte sie diese Kräfte viel besser kennen müssen. Schließlich war auch sie von Cenarius unterrichtet worden. Zudem hatte sie mit ihrem Geliebten und den anderen Druiden Seite an Seite gekämpft. Azeroth war so sehr ein Teil der Druiden, dass es sie permanent berührte. Wenn Malfurion darauf eingestimmt war, spürte er das alles sicherlich noch viel stärker als Broll.
Er kann sich seiner Berufung genauso wenig entziehen wie ich mich meiner... doch diese Berufungen überschneiden sich, wie sich auch unsere Leben überschneiden... wenn wir das hier überleben... müssen wir lernen, uns besser zu einigen... und so herausfinden, wie wir schließlich zusammenkommen können.
Wenn wir es überleben...
Das Waldgrün begann sich auszubreiten, wurde zu einem magischen Strom, der durch die Ebene von Azeroth bis zu dem Ort floss, wo der Drache sich gerade aufhielt. Doch die Magie hatte kaum zu wirken begonnen, da schwand sie auch schon wieder. Sie traf auf Widerstand.
Broll murmelte etwas.
Der Widerstand wurde schwächer.
„Nein! Das darfst du nicht!“
Der Mensch in ihrer Mitte sah sich mit wildem Blick um. Er rutschte auf den Knien und griff verzweifelt nach dem Götzenbild.
Als er näherkam, erblickte Tyrande um ihn herum eine Landschaft, die hier war und doch auch wieder nicht. Ein Teil davon schien so harmlos zu sein, der andere...
Die Hohepriesterin trat zu. Doch nicht der Mensch war ihr Ziel, sondern das Götzenbild des Remulos.
Die Drachenstatue flog davon. Sie prallte gegen eine Anhöhe, dann landete sie auf einem Stein.
Broll, dessen Zauber gerade unterbrochen worden war, blickte die beiden mit einer Mischung aus Frustration und Verwirrung an. „Was beim Weltenbaum macht Ihr da?“, wollte er von Tyrande wissen. Der Druide sprang auf und packte den Menschen am Genick. „Und was für einen Unfug treibt Ihr hier? Mit welchem Trick habt Ihr sie dazu verleitet?“
Der Mund des Mannes bewegte sich, doch kein Ton drang daraus hervor. Die Bilder, die Tyrande um ihn herum gesehen hatte, verblassten, und trotz ihrer Versuche, sie sich ins Gedächtnis zu brennen, verschwanden sie wieder aus ihrem Kopf... so wie Träume, egal ob gut oder böse, es manchmal zu tun pflegten.
Aber sie erinnerte sich an eine Sache. Sie trat an Brolls Seite und hielt ihn davon ab, den zerzausten Menschen weiter zu bedrängen. „Lasst ihn! Er wollte uns helfen!“
„Uns helfen? Er hat Euch dazu verleitet, den Zauber zu unterbrechen, als er gerade zu wirken begann!“ Doch er respektierte ihre Meinung und ließ den Menschen los.
„Funktionierte nicht, funktionierte nicht“, brabbelte der Mann, seine Augen blickten an ihnen vorbei. „Funktionierte nur für sie...“
„Für wen?“, fragte Tyrande und legte eine Hand beruhigend auf seine Schulter.
Schließlich klärte sich der Blick des Mannes. Er sah sie an. „Ich... ich weiß es nicht... ihnen... den Albträumen...“ Der Mann schaute zu Boden. „Ich schlief... ich kann nicht schlafen... nicht schlafen...“
„Wer seid Ihr?“, fragte Broll jetzt in freundlicherem Ton. „Wie ist Euer Name?“
„Name?“ Einen Augenblick lang schwand seine Aufmerksamkeit. Blinzelnd schien ihr Begleiter sich ein wenig zusammenzureißen. „Lucan... Lucan Fuchsblut...“ Mit seinem verbliebenen Stolz richtete er sich auf. „Dritter Hilfs-Kartograf Seiner Majestät, König Varian! Auf einer Erkundungsmission nach... nach...“ Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Kindes, das sich verlaufen hatte. „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, nicht mehr...“
„Macht Euch keine Gedanken darum“, beruhigte ihn Tyrande. „Sagt uns, woher wusstet Ihr, dass der Zauber eine Gefahr bedeutet?“
„Ich... ich wusste es einfach. Es... es hatte mit dem Ort in meinen Träumen zu tun... ich spürte sie... ich spürte etwas nahen...“
Broll holte die Figur zurück. „Vielleicht war es derjenige, den wir erreichen wollten.“
Obwohl das logisch klang, erinnerte sich Tyrande immer noch daran, wie sie sich gefühlt hatte, nachdem sie gesehen hatte, was hinter Lucan Fuchsblut aufgetaucht war. „Nein... er hat recht, Broll. Da kam etwas Düsteres. Deshalb tat ich, was ich tun musste. Ich vertraute seinem Wort...“
Lucan blickte sie an, als hätte sie seinen Kopf gerade vor einer Axt gerettet. „Danke, schöne Dame! Danke!“
„Beruhigt Euch, Lucan. Ihr seid unter Freunden... und dankt mir nicht mehr. Eure Reaktion hat uns vielleicht gerettet.“
„Glaubt Ihr das wirklich?“, fragte der Druide, der immer noch die Statue betrachtete. „Vielleicht... vielleicht auch nicht...“ Er stellte die Statue ab. „Jetzt können wir nur noch eins tun.“ Broll blickte zu Lucan. „Wisst Ihr, wo wir sind?“
„Nein... nein... Ich bin nur immer weitergegangen... bin nur weitergegangen...“
„Wie ich es mir gedacht hatte.“ Broll trat zurück. An Tyrande gewandt sagte er: „Ich habe es Euch nicht schon vorher gesagt, aber während Ihr schlieft, habe ich einen kurzen Flug unternommen. Doch ich konnte nicht erkennen, wo wir sind. Ich glaube, ich versuche es noch mal, damit wir besser wissen, was wir jetzt tun können.“
Tyrande störte die Enthüllung nicht. Sie wusste, dass Broll sie und Lucan nicht in Gefahr gebracht hätte. Sie nickte zustimmend. „Was ist mit dem Götzenbild?“
Er zuckte mit den Achseln. „Was soll damit sein? Wenn wir dieses verfluchte Ding nicht benutzen, sind wir auch nicht in Gefahr. Es kann hierbleiben, bis ich zurückkehre.“
Er streckte die Arme aus und nahm die Gestalt der Sturmkrähe an. Lucan keuchte und taumelte auf Tyrande zu, die ein wenig Schuld verspürte. Sie und Broll waren weit mehr an Magie gewöhnt als die meisten Menschen.
„Es ist nichts“, sagte sie zu Lucan. „Nichts, über das Ihr Euch sorgen müsst.“
„Mein... mein Vetter war auch ein Druide“, murmelte Lucan, der dabei klang, als würde die Erinnerung ihn stolz machen. Dann kehrte sein Stirnrunzeln zurück. „Jetzt ist er tot.“
Wie so viele, dachte die Hohepriesterin und erinnerte sich derer, die im letzten Krieg gefallen waren. Und jetzt... was kommt jetzt auf Azeroth zu?
Broll hob ab und beendete ihr Grübeln. Sie und Lucan beobachteten mit Bewunderung, wie der große Vogel in den Himmel aufstieg. Tyrande beneidete die Druiden um die besondere Fähigkeit, auf diese Weise fliegen zu können...
Doch kaum hatte die Sturmkrähe eine respektable Höhe erreicht, begann sie augenblicklich zu ihren Begleitern herabzusinken. Lucan starrte sie einfach an, er verstand nichts. Doch Tyrande wusste, dass Broll nicht so schnell zurückgekehrt wäre, wenn es nicht wichtige Neuigkeiten gäbe.
Sie ergriff das Götzenbild, bevor Broll sie erreichte. Sie wusste irgendwie, dass sie es gleich eilig haben würden. Die Haltung, die der Druide bei der Rückverwandlung zeigte, reichte ihr als Bestätigung für ihre Annahme.
„Hast du herausgefunden, wo wir sind?“, fragte Lucan naiv.
„Was habt Ihr gesehen?“, fragte Tyrande. „Sind wir irgendwo in der Nähe des Gebiets der Horde?“
„Die Horde ist das geringste unserer Probleme“, knurrte Broll. „Wir müssen Deckung suchen, und zwar schnell...“
Er fasste Lucan am Arm und zerrte ihn auf die Hügel zu. Tyrande hielt mit dem Druiden Schritt, das Götzenbild hatte sie sich unter den Arm geklemmt.
„Was ist los? Weitere albtraumhafte Kreaturen wie in Auberdine?“
Broll schnaubte. „Nein... nur ein noch größerer Albtraum.“ Er richtete die Finger auf den Himmel im Osten aus. „Da draußen ist ein Drache... und er ist schwarz.“
Thura beobachtete die Fremden von einer Hügelkuppe weiter im Westen aus. Zwei Nachtelfen und ein Mensch. Zwei Männer und eine Frau. Sie sortierte den Menschen sofort aus, denn er wirkte kaum wie ein Krieger, obwohl er sich im besten Mannesalter befand. Die beiden Nachtelfen schienen dagegen würdigere Gegner zu sein. Der Mann sah wie ein Schamane ihres Volkes aus, obwohl er als Nachtelf sicherlich eher ein Druide war. Thura respektierte die Macht, die sie aus der Natur zogen.
Die Frau faszinierte den weiblichen Orc am meisten. Denn Thura hatte stets das Verlangen, ihre Fähigkeiten mit denen des gleichen Geschlechts anderer Völker zu messen. Die Nachtelfe bewegte sich mit beeindruckender Anmut, und die Gleve, die sie trug, verlangte einiges an Kraft und Übung. Thura vertraute natürlich ihrer Axt, aber sie fragte sich, wie ein Kampf wohl ausgehen würde.
Doch die Realität löschte solch müßige Neugierde schnell aus. Was zählte war, dass die drei hier waren. Am gleichen Ort, zur gleichen Zeit wie sie. Die drei waren irgendwie mit ihrer Mission verbunden. Der offensichtlichste Grund hatte mit den beiden Nachtelfen zu tun. Thuras Ziel war ebenfalls ein Nachtelf. Sie waren Kampfgenossen. Die Frau war vielleicht auch seine Gefährtin.
Der breite Mund der Orcfrau weitete sich zu einem grimmigen Lächeln. Wegen ihnen bin ich hier, entschied sie. Sie werden mich zu ihm führen... sie werden mich zu Malfurion bringen... dem Verräter meiner Kameraden und Vernichter des Lebens...
Sie hatte gesehen, wie der Druide mächtige Magie gewirkt hatte, ein Vogel geworden war, der hoch fliegen konnte. Noch mehr als die Frau musste er schnell sterben, wenn sie gegen ihn kämpfte. Er war sehr fähig, fast so fähig wie der mörderische Druide in ihren Träumen. Es wäre eine gute Übung für ihr Duell mit ihrem eigentlichen Feind.
Dann erkannte Thura, warum der Druide nur so kurz geflogen war. Die große dunkle Gestalt, die in den Himmel aufstieg, war dieselbe, die sie zuvor als Schatten gesehen hatte. Jetzt flog sie auf den Ort zu, wo das Trio eben noch gestanden hatte, und obwohl sie alle drei sehr flink waren, selbst der Mensch, waren sie sicherlich dem Tode geweiht. Die Orcfrau fluchte, weil sie erkannte, dass der beste Hinweis auf den Verbleib ihrer Beute im Begriff war, gefressen zu werden.
Dann geschah etwas Erstaunliches.
Die vermeintlichen Opfer des Drachen lösten sich einfach in Nichts auf. Eben noch rannten sie um ihr Leben, und in der nächsten Sekunde waren sie fort. Nur der Hauch eines grünlichen Schimmers lieferte Thura einen Hinweis darauf, was geschehen war. Sie vermutete, dass einer der Nachtelfen irgendeinen Zauber gewirkt hatte, der das Trio an einen weit entfernten Ort versetzte.
Doch als sie wieder zu dem Drachen blickte, überraschte sie etwas noch viel mehr. Das riesige Tier wandte sich gerade ab und verschwand mit kraftvollem Flügelschlag außer Sicht. Es zögerte nicht, sondern drehte eiligst ab.
Am merkwürdigsten daran war, dass es, obwohl die Dunkelheit keinen optimalen Blick auf den Riesen gewährte, für Thura so aussah, als wäre der Drache, von plötzlicher Furcht ergriffen, vor etwas geflohen...