Sturmwind war die letzte starke Bastion des menschlichen Volkes. Das Königreich hatte die Zerstörung von großen Teilen des Kontinents überstanden und war nach dem Ersten Krieg wieder aufgebaut worden. Varian Wrynn herrschte nun über Sturmwind – oder herrschte wieder.
Eine Zeit lang war er verschwunden gewesen, bis er erst kürzlich zurückgekehrt war. Von der Festung von Sturmwind aus, die genauso wie das Königreich hieß, versuchte der braunhaarige, ungestüme Anführer sowohl sein Land als auch die Allianz intakt zu halten.
Varian war ein getriebener Mann. Der Tod seiner geliebten Frau Tiffin während eines Aufstands vor beinahe dreizehn Jahren hatte ihn dazu gemacht. Sein einziger Trost war sein Sohn Anduin, der zur Zeit ihres Todes noch ein Baby gewesen war. Er hatte Varian während seiner langen Abwesenheit vertreten.
Angesichts von so viel Tragik und Kampf überraschte es nicht, dass König Varian unter schlimmen Träumen litt. Neuerdings schlief er nur noch mithilfe von Schlafmitteln, die diese Träume fernhielten. Doch sie waren nur die letzte Rettung. Bis er müde wurde, spazierte Varian über die Wehrgänge.
Er war ein großer Mann in mittleren Jahren, von herber Attraktivität und mit braunem Haar, das sich nicht zähmen ließ. Varian war für sein Volk der Inbegriff des Helden. Er selbst sah das eher gegenteilig. Doch er versuchte, sein Volk so gut zu führen, wie er konnte.
Aber nun drohte eine Gefahr, von der Varian nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.
Sein Volk wachte nicht auf.
Jeden Tag stieg die Zahl der Schläfer an. Es hatte mit einem oder zweien angefangen, dann waren es fünf, zehn und mehr geworden. Mit jedem neu entdeckten Schläfer wurde die Bevölkerung nachdenklicher. Einige glaubten an eine Seuche, doch die Gelehrten, mit denen der König sprach, waren der Meinung, dass viel mehr dahintersteckte. Irgendeine Macht griff Sturmwind an und verwendete dabei eine merkwürdige Form der Zermürbung... Und Varian glaubte genau zu wissen, wer dahintersteckte.
Die Horde.
Er hatte keinen Beweis, doch es erschien Varian nur logisch. Es gab viel zu viele Elemente in der Horde, denen man nicht trauen konnte. Abgesehen vielleicht von den Orcs, die Varian allerdings auch verdächtig waren. Der König wusste keinen guten Grund, warum er an die Ehre von Blutelfen glauben sollte – Hochelfen, die sich nach dem Verlust des Sonnenbrunnens, ihrer Machtquelle, einer verzehrenden dämonischen Magie zugewandt hatten und süchtig nach dieser Teufelsmagie geworden waren. Er hatte auch keinerlei Vertrauen in die untoten Verlassenen, die behaupteten, sich selbst von der Herrschaft des Lichkönigs befreit zu haben. Die Tauren waren die Einzigen, die in Sturmwinds Anführer nicht den Wunsch auslösten, zur Waffe zu greifen. Doch seit sie an der Seite der Orcs standen, waren auch sie ihm suspekt geworden.
Varian beschloss, eine Nachricht an Lady Jaina Prachtmeer zu schicken, die Erzmagierin und Herrscherin von Theramore, das an der südöstlichen Seite von Kalimdor lag. Der Kontinent selbst befand sich im Westen der Großen See. Der König hatte schon die letzten Tage darüber nachgedacht, aber er hatte es immer wieder verschoben. Ihm war klar, dass er gleich zu Beginn mit Jaina in Kontakt hätte treten sollen.
Eine mit Helm und Rüstung ausgestattete Wache an der Mauer, die den stolzen Löwen von Sturmwind auf der Brustplatte trug, salutierte zackig. Sie war die erste Wache, an der Varian seit einiger Zeit vorbeigekommen war. Selbst die Dienerschaft in der Burg war um mehr als ein Drittel reduziert.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, Mylord!“ Die Wache zögerte, dann fügte sie hinzu: „Alles in Ordnung, außer dem verdammten Nebel, der sich dort drüben aufbaut...“
Varian blickte über den Wehrgang. Der Nebel war dichter als in der Nacht davor... und der Nacht davor. Die Wachen hatten ihn vor einer Woche das erste Mal bemerkt... kurz vor dem Morgen, an dem die ersten Schläfer entdeckt worden waren.
Er erinnerte sich an das letzte Mal, da Sturmwind in einen derartigen Nebel gehüllt gewesen war. Damals sollte er das Vorrücken der untoten Geißel verbergen. Diese Leichenschänder hatten den Dunst dazu benutzt, sich ungesehen an die Stadt anzuschleichen. Doch auch wenn es eine entfernte Ähnlichkeit gab, war der Nebel dieses Mal ätherischer und düsterer. Offenbar lebte er... und berührte den Geist genauso wie den Körper. In der Tat schien er gleichermaßen aus einem dunklen Traum zu stammen, wie er real war.
Der König blinzelte. Für einen Augenblick hätte er schwören können, dass sich etwas im Nebel bewegt hatte. Varian beugte sich vor, konnte aber nichts erkennen. Dennoch gehörte er nicht zu den Männern, die sich schnell etwas einbildeten.
„Bleib wachsam“, ermahnte er die Wache. „Und gib das an die anderen weiter.“
„Ja, Euer Majestät.“
Als er ging, konnte Varian ein Gähnen nicht unterdrücken. Irgendwann musste er sich ausruhen. Doch nicht, bevor er nicht einen Trank zu sich genommen hatte, den die Alchemisten für ihn gebraut hatten. Danach würde er wenigstens keine Träume mehr haben...
Varian runzelte die Stirn. Das Pulver schien ihm beim Schlafen zu helfen. Half es auch dabei, ihn vor dem Schicksal derjenigen zu bewahren, die nicht mehr aufwachen konnten? Das hatte er noch nicht bedacht. Der König kannte sich nicht mit Alchemie aus, doch er wirkte ausgeruhter als alle anderen. Gab es eine Verbindung zwischen den Albträumen, unter denen die Schläfer zu leiden schienen und der Tatsache, dass er selbst gar keine Träume hatte?
Der Gedanke erschien Varian so logisch, dass er sein Tempo erhöhte. Es sollte immer noch möglich sein, die Alchemisten und andere, die sich besser damit auskannten als er, zu versammeln und ihnen seine Erkenntnis mitzuteilen. Wenn sie ihm glaubten, dann war es vielleicht möglich, die anderen ebenfalls mit dem Schlafpulver zu versorgen, um weitere Opfer zu vermeiden...
Er rannte beinahe in eine atemlose Wache hinein, die gerade den Wehrgang heraufkam. Varian nahm an, dass der Mann zu spät zum Dienst kam. Doch er hatte keine Zeit, um ihn zu ermahnen und wollte um den Soldaten herumlaufen.
„Mylord! Ich wurde – ich wurde geschickt, um nach Euch zu suchen“, keuchte der Mann. „Schlechte Neuigkeiten, Mylord!“
Varian dachte instinktiv an die Bewegung, die er im Nebel zu erkennen geglaubt hatte. „Da draußen...“, murmelte er.
Der Helm bedeckte einen Großteil vom Gesicht des Mannes, doch sein Tonfall verriet seine große Verwirrung. „Nein, Mylord. Wir – wir fanden ihn lang ausgestreckt auf einem Stuhl in der großen Halle. Er – er war nicht draußen!“
Schrecken erfasste den König. Er packte den Soldaten an der Schulter und brüllte: „Wen? Von wem redest du?“
„Vom Prinzen! Prinz Anduin...“
Varian spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht entwich. „Anduin... mein Sohn... tot?“
Er stieß den Mann beiseite, als er über die Stufen in die Burg rannte. Alles war für Varian verschwommen. Er hatte gerade erst sein Gedächtnis und seinen Sohn zurückerhalten! Welcher boshafte Attentäter hatte Anduin ermordet?
Er lief zur großen Halle, wo früher lediglich das Abgleichen der Gästeliste für die Bälle zu den wichtigsten Aufgaben gehört hatte. In dem großen Raum kam Varian an einer ängstlichen Gruppe von Wachen, Dienern und anderem Personal vorbei.
„Beiseite!“, rief der König. „Macht Platz!“
Die Wand von Menschen teilte sich. Varian sah seinen Sohn.
Der Junge hatte die besten Eigenschaften von Vater und Mutter geerbt. Seine Haare waren ein wenig heller als die Varians, und sein Gesicht wirkte noch weicher, was er nicht nur Tiffins Gesichtszügen verdankte, sondern auch daran lag, dass er noch nicht mit den Härten des Lebens konfrontiert worden war. Doch für einen Dreizehnjährigen wirkte Anduin älter.
Und in diesem Moment erschien er zumindest für Varian blutleerer.
Anduin lag immer noch auf dem Stuhl. Der Hauptmann der Wache, ein grobschlächtiger Veteran mit kurzem braunem Bart, sah aus, als wollte er den Prinzen in eine bequemere Position setzen. Er hatte jedoch Angst, den Thronfolger zu berühren.
Varian sah nur seinen Sohn, und mit nichts anderem im Kopf stürzte er an dem Hauptmann vorbei und griff nach Anduin.
Er sah, wie die Brust des Jungen sich hob und senkte! Seine Hoffnung stieg... bis er hörte, wie Anduin ein leises Wimmern ausstieß.
Sein Sohn war einer der Schläfer geworden.
„Nein...“, keuchte der Herr über Sturmwind. Er schüttelte Anduin, doch der Junge wachte nicht auf. „Nein...“
Schließlich erhob sich Varian und seufzte: „Bringt ihn zu Bett. Sanft. Ich werde bald nachkommen.“
Zwei der Wachen taten, was er befohlen hatte. Zu dem Hauptmann fügte der König hinzu: „Suche die Alchemisten! Ich will sie alle augenblicklich sehen...“
Ein Horn erklang. Wie ein Mann blickten die Versammelten auf. Varian wusste, woher das Signal kam. Vom Wehrgang, wo er gerade hergekommen war.
„Kümmert euch um Anduin!“, ermahnte er die Wachen. „Sucht die Alchemisten, Hauptmann!“
Der König wartete die Antwort nicht ab und rannte in die Richtung zurück, aus der er gerade erst gekommen war. Auf dem Wehrgang starrte eine Handvoll Soldaten in den Nebel hinaus. Als einer sich umwandte und den König sah, warnte er gleich den Rest. Die Wachen nahmen Haltung an.
„Rühren!“ Varian trat hinter sie und blickte auf Sturmwinds Stadtgrenze hinaus. „Was habt ihr...“
Er erstarrte. Jetzt waren dort ganz eindeutig Gestalten zu erkennen, die sich durch den Nebel bewegten. Hunderte... nein... es mussten Tausende sein...
„Schickt jeden verfügbaren Kämpfer zur...“ Erneut stockte Varian. Doch dieses Mal aus einem anderen Grund. Obwohl der Nebel und die sich darin befindenden Gestalten noch weit weg waren, war sich der König aus irgendeinem Grund sicher, dass er sie alle erkannte. Das war auch nicht weiter erstaunlich, weil es immer wieder dieselben beiden Leute waren.
Es waren Anduin... und seine Mutter.
Doch das war nicht die geliebte Tiffin aus Varians Erinnerung. Jeder der Doppelgänger taumelte der Stadt auf Beinen entgegen, die halb aus Knochen, halb aus grünlichem, verfaulendem Fleisch bestanden. Tiffins einst schönes Gesicht war von Würmern und aasfressenden Insekten zerfressen. Spinnen krochen in ihrem verfilzten Haar, und das Kleid, in dem sie beerdigt worden war, war mit Dreck beschmiert und zerrissen. Die monströse Szene wiederholte sich wieder und wieder.
Und Anduin, obwohl er noch heil schien, blieb nah bei seiner Mutter und ließ zu, dass sie ihre skelettierte Hand um seine Schultern legte, was eher besitzergreifend denn liebevoll aussah. Für Varian wirkte es, als würde diese schreckliche Erscheinung dem König mitteilen, dass sein Sohn nun ihr gehörte.
„Nein...“ Varian wünschte, er selbst wäre einer der Schläfer, und das alles wäre nur ein Albtraum. Es gab nur wenig, was ihn erschüttern konnte. Doch das hier war ein so düsteres Bild, wie er es sich niemals hätte ausdenken können. Es musste ein Albtraum sein... es musste...
Varian erkannte allerdings, dass er, anders als sein Sohn, etwas Wirkliches durchlebte, selbst wenn es albtraumhaft sein mochte. Der König hatte das Pulver schon vor dem Auftreten des ersten Schläfers genommen. Er war sich sicher, dass der Trank ihn irgendwie beschützte, weil er dadurch keine Träume hatte. Unglücklicherweise war Varian diese Idee nicht schon früher gekommen, um seinen Sohn davor bewahren zu können, dem Schlaf ebenfalls zum Opfer zu fallen.
Aber was auch immer hinter den Schläfern lauerte, hinter ihren aufwühlenden Träumen, griff nun auf die Hauptstadt über und übte seine eigenen übelsten Ängste aus.
Varian zog aus diesem Gedanken etwas Stärke. Er wandte sich an die nächststehende Wache – die Frau, mit der er zuvor schon gesprochen hatte – und fragte: „Siehst du etwas im Nebel?“
Ihre zitternde Stimme reichte ihm, um ihm zu sagen, wie schrecklich der Anblick für sie war. „Ich sehe... meinen Vater... tot im Gefecht... Tomas... meinen Schildgefährten... Ich sehe...“
König Varian blickte die versammelten Wachen an. „Ihr seht nichts außer eurer Einbildung! Nichts als eure eigenen Ängste! Es oder sie kennt eure Ängste und labt sich daran! Das sind nur Albträume, was bedeutet, dass sie nicht das sind, was ihr glaubt...“
Sie zogen Trost und Stärke aus seiner Stimme. Varian versteckte seine eigene Angst beim Gedanken an Anduin und Tiffin. Wenn er schon von den Visionen beeinflusst wurde, obwohl ihm klar war, dass sie nicht echt waren – wie erging es dann erst den anderen in der Stadt?
Von den Mauern der Hauptstadt und nahe dem Rande des Nebels erklang ein weiteres Horn von einer der Nachtpatrouillen. Varian hatte sie einen Moment lang vergessen. Es war eine von einem halben Dutzend heute Nacht...
„Ruf sie zurück!“, befahl er dem nächsten Trompeter. „Gib das Signal sofort! Ich will, dass sie alle hier drinnen sind!“
Der Soldat blies das Signal! Varian wartete.
Eine Patrouille im Westen antwortete. Dann eine andere weiter südlich. Aus dem Nordwesten ertönte eine weitere.
Das vierte Signal kam von nahe dem Nebel. Varian stieß ein Zeichen der Erleichterung aus, als das Horn schmetterte...
Und dann brach der Klang des Horns zu früh ab.
Schlimmer noch... es kam keine Antwort von den anderen beiden.
„Noch mal!“
Der Trompeter blies. Der König und die Soldaten warteten.
Stille.
Varian sah die sich bewegenden Gestalten im Nebel. Wieder war es, als sähe er alles durch ein Vergrößerungsglas, damit er es besser erkennen konnte. Er wusste, dass es nicht aus Zufall geschah, sondern das Werk desjenigen war, der sich seiner Stadt näherte. Er wollte, dass Varian genau mitbekam, was geschah, es sah und sich fürchtete...
Und was der Herrscher von Sturmwind erblickte, ließ ihn erschaudern, weil es mehrere Fragen zugleich beantwortete. Die vielen Anduins und Tiffins waren nicht mehr allein. Ihre Reihen wurden von torkelnden Gestalten aufgefüllt, die Rüstungen trugen, auf deren Brustplatte der stolze Löwe prangte. Varian konnte die hingestreckten Leichen derselben Männer auf dem Boden liegen sehen. Selbst ihre Pferde brachen mit ihnen zusammen. In der Tat ritten viele der finster blickenden Männer Pferde, die Augen ohne Pupillen hatten und deren Körper irgendwie verdreht waren.
„Die Geißel kommt, um uns erneut heimzusuchen!“, rief jemand.
Ohne zu schauen, wer da gesprochen hatte, befahl der König: „Ruhe! Das ist ein magischer Trick, nicht mehr. Nichts!“
Dann... bewegten sich der Nebel und die Armee vor den Mauern nicht mehr. Die Anduins und Tiffins blickten hoch, ihre seelenlosen Augen waren auf Varian gerichtet. Hinter ihnen starrten auch die anderen Gestalten zum Wehrgang hinauf.
Ohne Warnung schauten die Anduins und Tiffins über die Schulter auf den unheiligen Pulk. Varian konnte nicht anders, als ihrem Blick zu folgen.
Zuerst sah er nur die Soldaten, die unter ihnen standen. Dann wurden andere Gestalten sichtbar. Sie erschienen undeutlich... schemenhaft... ihre Gesichter waren schreckliche Parodien normaler Menschen.
Und dann... erkannte er unter ihnen eine deutliche Gestalt. Eine Frau mit heller Haut und blondem Haar. Wäre sie nicht wie eine Magierin gekleidet gewesen, hätte Varian sie als einen weiteren Schatten ignoriert.
Es war Lady Jaina Prachtmeer.
Ihr Gesichtsausdruck war so grässlich wie beim Rest der Verdammten. Ein Ding, gefangen zwischen Schrecken und Tod. Varian trat zurück, begriff, dass die Situation schlimmer war, als er geglaubt hatte. Wie zur Bestätigung zeigte sich zu Jainas Rechten eine weitere Gestalt im Nebel. Das Gesicht kannte der König nicht, doch das zählte nicht. Er sah, wie ein anderes Wesen Gestalt annahm, dann noch eins.
„Warum greifen sie nicht an?“, fragte die Wache, mit der er anfänglich gesprochen hatte. „Warum?“
Er antwortete nicht, obwohl er den Grund kannte. Sie griffen an. Stück für Stück. Die Zermürbung, an die er zuvor gedacht hatte, hatte noch einen zweiten Zweck. Der Feind dezimierte nicht nur die Reihen der Verteidiger... er fügte die Opfer auch seinen eigenen Truppen hinzu. Mit jedem neuen Schläfer – besonders solchen wie Anduin, die unerwartet von der Erschöpfung übermannt wurden – stieg ihre Zahl an.
König Varian wurde klar, dass der Feind im Moment nur abwarten musste... um den sicheren Sieg einzufahren.
Tyrande betete... und Elune antwortete ihrer Dienerin.
Als würde der volle silbrige Mond selbst plötzlich die Kammer erfüllen, wurde das Licht der Göttin tausendfach verstärkt und badete alles in seiner Herrlichkeit. Für die Priesterin, Broll und Lucan spendete das Licht Trost. Es tat ihren Augen nicht weh, sondern besänftigte sie.
Das galt nicht für Eranikus. Der grüne Drache zog sich zurück, seine geschmeidige, aber schwere Gestalt kollidierte mit der Wand und der Decke hinter ihm. Die Kammer wurde erschüttert, und große Felsbrocken brachen aus der Höhlenwand. Doch das Licht von Mutter Mond hielt das Gestein von dem Trio fern.
Der Drache stieß ein wütendes Fauchen aus. Aber statt erneut hervorzuspringen, zog sich Eranikus weiter zurück. Währenddessen begann er zu schrumpfen und sich zu verwandeln.
„Ihr hattet Glück!“, brüllte er. „Mehr Glück, als ich je...“
Der Drache hatte sich bereits in seine falsche Elfengestalt verwandelt. Nur Spuren hier und da verrieten, wer er wirklich war.
Broll griff schon wieder an, dieses Mal allerdings war sein Angriff nicht physisch. Stattdessen malte er eine Rune in die Luft und zauberte.
Eranikus stieß einen gewaltigen Brodem aus. Der falsche Elf blinzelte. Er blickte den Druiden an.
„Ein starker Versuch“, beglückwünschte er ihn. „Und beinahe erfolgreich... doch ich kann niemals wirklich besänftigt werden, selbst durch das ruhige, liebende Licht der Elune nicht – zu viel foltert mein Herz...“
Immer noch griff die Gestalt nicht an und floh auch nicht. Stattdessen ließ sie sich gegen die Wand sinken und schloss die Augen. Ein Schauder durchlief Eranikus.
„Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe sie und alle anderen im Stich gelassen...“
Tyrande dämpfte das Mondlicht und ließ es auf einem Niveau, das es Lucan erlaubte, trotzdem etwas zu sehen.
Eranikus sank zu Boden und setzte sich schließlich auf den Bereich der Wand, der wie ein Stuhl hervorstand.
„Großes Wesen“, murmelte Tyrande. „Wenn Ihr auch einst korrumpiert wart, so seid Ihr es jetzt eindeutig nicht mehr. Welche Versagen Ihr Euch auch anlastet, Ihr habt jetzt die Gelegenheit, sie zu korrigieren.“
Für ihren Vorschlag erntete sie ein bitteres Lachen.
„Solche Naivität! Wie lange lebst du schon, Nachtelfe? Tausend Jahre oder fünftausend?“
Sie richtete sich stolz auf. „Ich bekämpfte die Brennende Legion, seit sie das erste Mal nach Azeroth kam! Ich trat gegen Azshara an! Ich war hier, als der Brunnen der Ewigkeit zerstört wurde!“
„Dann eben zehntausend Jahre“, antwortete Eranikus. Sein Tonfall klang nicht im Geringsten beeindruckt. „Nur ein winziger Hauch von Zeit und Erfahrung, verglichen mit meinem Volk und meinen Altersgenossen. Du kannst mein Unglück kaum ermessen. Kannst du an deine schrecklichsten Fehler zurückdenken?“
„Ich bin mir ihrer wohl bewusst, ja...“
„Dann multipliziere sie mit einer Zahl so groß wie der Weltenbaum, und du wirst vielleicht gerade mal verstehen...“ Eranikus blickte sie finster an, doch seine schlechte Stimmung war gegen sich selbst gerichtet. „Ich habe schreckliche Dinge getan... und das Schlimmste daran ist, dass ich sie wieder tun könnte!“
Broll und Tyrande blickten einander an. Die Hohepriesterin sagte schließlich: „Aber Ihr seid frei von der Korrumpierung... ich war selbst dabei... es war das Licht von Elune. Ich selbst und einige Priesterinnen haben Euch letztlich davon befreit! Ich hätte Euch sofort erkannt, wenn Ihr nicht eine andere Gestalt gewählt hättet.“
„Das habe ich auch geglaubt... doch als der Albtraum stärker wurde, entdeckte ich die Wahrheit! Ein Schatten davon wird immer in mir sein, so lange wie er existiert... und ich bin schuld, dass er über das Reich meiner Königin hinaus existiert...“ Er knurrte. „Deshalb verwandle ich mich nicht mehr in die Elfengestalt, die du kennst und tarne mich als schwarzer Drache, wenn ich jagen muss! Ich wollte, dass niemand mich erkennt! Ich wollte, dass niemand mich sucht!“
„Aber Ysera und der Smaragdgrüne Traum...“, begann die Hohepriesterin.
„Nenn es doch, wie es jetzt ist! Nenn es Smaragdgrüner Albtraum! Unseren Albtraum!“ Brüllend sprang Eranikus auf die Beine. Seine Gestalt wandelte sich, wurde wieder halb Elf, halb Drache. Er wirkte sogar ein wenig ätherisch, als wäre er selbst Teil des Traums.
Dann wurde seine Gestalt fester. Eranikus starrte in den Raum, sein Gesichtsausdruck wirkte erschreckt. „Nein... ich hätte fast... ich hätte das nicht tun sollen... die Grenze zwischen den beiden Reichen sehwindet... doch so schlimm sollte es nicht sein...“
Hinter Tyrande verschmolz Lucan mit den Schatten. Broll bemerkte die Bewegung, und Eranikus beobachtete Broll dabei.
„Mennschhh...“ Der grüne Drache, immer noch eine bizarre Mischung seiner zwei Ichs, ging auf Lucan zu. Im Elfengesicht prangten nun eine stumpfe Schnauze und Zähne, die zu scharf für einen Sterblichen waren. Die kleinen Flügel flatterten vor und zurück, und wo Hände hätten sein müssen, waren nun tückische Pranken mit langen Nägeln. „Es kommt von dem Mennnschennnnn...“
Die Hohepriesterin stellte sich verteidigend vor den Kartografen. „Tut mir leid, doch der Mensch steht unter dem Schutz von Elune.“
Broll ging auf sie zu. „Und unter meinem Schutz.“
Eranikus machte eine beiläufige Geste.
Die beiden Nachtelfen wurden in entgegengesetzte Richtungen geschleudert, und Lucan stand dem grünen Drachen plötzlich allein gegenüber.
Er reckte sich und trat vor. „Töte mich, wenn du willst. Dann ist es vorbei. Ich habe schon zu viel mitgemacht, deshalb ist es mir egal, ob ich von einem Monster gefressen werde oder nicht...“
„Ich bevorzuge einfachere Kost“, antwortete Eranikus barsch. Er benahm sich wieder ein wenig elfenähnlicher, als er den hageren Sterblichen beobachtete. „Ich will nur tiefer in dich hineinsehen...“
Tyrande war auf den Beinen, die Gleve zum Wurf erhoben. Doch Broll, der ebenfalls aufstand, bedeutete ihr, sich zurückzuhalten. Er konnte spüren, dass der Drache keine Gefahr darstellte... zumindest im Moment nicht.
Und sollte sich das ändern, hatte Broll schon einen Angriff parat.
Hochgewachsen wie er war, überragte Eranikus Lucan, der für einen Menschen gar nicht so klein war. Der Kartograf blickte den halb verwandelten Drachen tapfer an, während der mit seiner scharfen Klaue auf seine Brust wies.
„Ihr Menschen wart immer schon die faszinierendsten Träumer“, murmelte Eranikus und klang ruhiger. „Solch unterschiedliche Arten des Begehrens. Eure Träume enthalten gleichermaßen Schönheit und Schrecken...“
„Ich träume nicht gern“, stellte der Mann fest.
Der Drache lachte unerwartet. „Das tue ich derzeit auch nicht... wirklich nicht.“
Die klauenartigen Finger waren nur noch eine Haaresbreite von Lucan entfernt... und plötzlich wurden Drache und Mensch von einem smaragdgrünen Leuchten umgeben.
Broll schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht möglich! Er ist ein Mensch, kein Nachtelf oder Tauren!“
„Was meint Ihr?“, fragte Tyrande.
„Das andere Reich berührt ihn, ist ein Teil von ihm und steht ihm offen“, antwortete Eranikus und wunderte sich. Er zog die Finger zurück. „Ich kenne dich, wenn ich auch nicht weiß, wie du heißt! Du warst gerade geboren, da habe ich dich entdeckt...“
Lucan Fuchsblut schluckte, doch ansonsten blieb er standhaft. „Ich bin nur ein Kartograf.“
„Ein Kartenmacher, ein Schüler der Landschaften... Du hast die verborgene Erinnerung in dir so gut verarbeitet, wie es ging. Obwohl du nichts dafür konntest...“, zischte Eranikus. „Und sie auch nicht.“
„Sie?“, wiederholte der Mensch.
„Die Frau, die dich geboren hat, Kleiner! Deine Mutter wurde von einer todgeweihten Kreatur in den Traum gelockt. Sie war jung, und ihr Mann hatte sie kurz vor deiner Geburt verlassen! Ich bin auf die ganze Sache gestoßen, als dieses Wesen darauf wartete, dich für seine dunklen Zwecke zu missbrauchen. Es floh, als ich kam und ließ die sterbende Mutter und ihr schwaches Kind zurück...“
Lucan blickte zu Broll und Tyrande, als würde er hoffen, dass sie es besser verstanden. Doch dem war nicht so.
„Du warst kein Traum, und deshalb gehörtest du nicht hierher. Meine Königin gab dich jemandem, der die Menschen besser kannte, obwohl er zu unserem Volk gehört. Es war ein roter Drache namens Korialstrasz...“
„Den kenne ich!“, rief die Hohepriesterin.
„Nun, das solltest du auch! Er ist der Gemahl der Königin des Lebens, Alexstrasza...“ Eranikus’ Stirn furchte sich ärgerlich. „... und ein besserer und vertrauenswürdigerer Gefährte als ich...“
Tyrande begann, zumindest einige Dinge zu verstehen. „Und Ihr habt ihn aus dem Smaragdgrünen Traum herausgebracht?“
„Nachdem ich ihn mit einem Zauber geheilt hatte! Auf Befehl meiner Königin – der sehr merkwürdig war – gab ich ihm einen winzigen Teil von mir, damit er leben konnte...“
„Was erklären würde, warum er Euch als das erkannte, was Ihr wirklich seid. Wir hielten Euch für einen schwarzen Drachen, wie Ihr es beabsichtigt hattet.“
Eranikus zischte. „Der Hunger trieb mich immer weiter hinaus. Es schien mir die beste Tarnung zu sein... die nur bei ihm nicht funktionierte.“ Er beobachtete Lucan zweifelnd. „Ich hätte nie erwartet, dass ich durch meine Tat eine Verbindung zwischen uns herstellte...“
„Und deshalb kann er in den Traum hinein- und wieder hinausgehen, ohne es zu merken?“, fragte Broll.
Seine Frage erfüllte den mächtigen Drachen mit neuem Schrecken. „Tut er das? Tut er das wirklich?“ Eranikus fletschte die Zähne und blickte Lucan an. Der Mensch und die Nachtelfen fürchteten schon das Schlimmste. „Er geht in den Albtraum?“
„Ja, das glaube ich“, antwortete Broll, der seinen Zauber bereithielt. „Und er kam unkorrumpiert wieder heraus.“
„Das sollte nicht sein... doch er ist dort geboren, und deshalb ereilt ihn der Ruf von hier... aber Azeroth ruft ihn auch...“ Eranikus trat zurück. Dabei ließ er Lucan nicht aus den Augen. „Und wie lange leidest du schon darunter, kleiner Sterblicher?“
„Mein Name ist Lucan Fuchsblut.“ Nachdem er festgestellt hatte, dass er dem Drachen furchtlos gegenübertreten konnte, hatte er ebenfalls festgestellt, dass er nicht gern „kleiner Sterblicher“ genannt wurde.
„Dieses Recht will ich dir zugestehen“, antwortete Eranikus in einem Tonfall, der besagte, dass der Mensch ansonsten kaum noch weitere Rechte besaß. Auch wenn ein Drache durchaus vernünftig mit einer Kreatur reden konnte, die nicht seinem Volk angehörte, schätzte er doch stets das eigene Volk am höchsten. „Aber sag mir, wann ist das zuerst aufgetreten? Erinnerst du dich daran?“
„Ich habe immer schon von einem idyllischen Land geträumt, unberührt von Zeit und Menschen...“, sagte Lucan mit verklärtem Blick. Dann jedoch verdüsterte sich sein Gesicht. „Doch die ersten Albträume... die ersten schlechten Träume...“ Er dachte kurz nach, dann fuhr er fort zu erzählen, bis Eranikus ihn mit gefurchter Stirn unterbrach.
„Ein paar Jahre also. Das ist für einen Drachen nur ein Augenblick, aber viel Zeit für Sterbliche...“
„Eine zu lange Zeit“, antwortete der Kartograf.
„Und das ist sicherlich kein Zufall!“, zischte Broll. Die anderen blickten ihn fragend an. Er musterte Tyrande grimmig. „Wenn ich es richtig überblicke, begannen Lucans Albträume, kurz bevor Ihr Malfurions Körper gefunden habt...“
Trotz ihrer Größe konnten sich Orcs nahezu ungesehen fortbewegen. Thura bildete da keine Ausnahme. Sie hatte das Trio erfolgreich verfolgt und war ihm sogar nah genug gekommen, um ihre Stimmen hören zu können. Nicht alle Worte hatten Sinn ergeben, und einige waren unverständlich geblieben, doch ein Wort im Speziellen spornte sie an.
Der Name des Bösen. Des Nachtelfen. Malfurion.
Thura bekam das Wort nicht mit, das seinem Namen folgte, sonst hätte sie sich gefragt, ob ihre Beute bereits tot war. Deshalb wusste – oder glaubte – sie nur eine Sache: Bald würde sie Brox’ Mörder gegenüberstehen und demjenigen, der Azeroth verwüsten würde...
Die Orcfrau glitt zurück, immer noch verblüfft. Der Drache war jetzt nicht mehr da, stattdessen wirkte irgendein Zauber, so schien es zumindest. Sie hatte nicht genug verstanden, um die Wahrheit zu kennen.
Thura hatte nicht viel für Zauberer übrig. Sie waren Feiglinge, die sich in der Schlacht stets hinten hielten und sich dabei Methoden bedienten, die für einen ehrenhaften Krieger nicht infrage kamen. Dass sie Schamanen und sogar Druiden höher einschätzte, war weitgehend den Vorurteilen ihres Volkes geschuldet.
In ihren Augen waren diese Bedenken nur ein weiteres Hindernis, das sie beiseiteräumen würde, um ihren Blutsverwandten zu rächen.
Die Orcfrau arbeitete sich voran und suchte einen Punkt, von dem aus sie den Hügel als Ganzes überblicken konnte. Egal welchen Ausgang die drei auch wählten, Thura würde es mitbekommen. Und dann würde sie der Spur folgen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie von Träumen geleitet wurde oder einfach Malfurions Gefährten folgte.
Plötzlich erklang ein Geräusch von oben, und Thura presste sich gegen eine nahe gelegene Bergwand. Die Orckriegerin blickte hoch und grunzte. Jetzt waren alle ihre Feinde da. Der Letzte hatte sich gerade gezeigt, auch wenn Thura immer noch nicht wusste, wie er aus der Höhle herausgeschlüpft war, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Die schemenhafte Gestalt eines Drachen glitt über das Land. Thura beobachtete ihn, als er über den Hügeln schwebte, wo sie seine Wohnstatt vermutete. Am Nachthimmel war der Drache eine große schwarze Silhouette, es war schwer, die Echse von der Dunkelheit zu unterscheiden. Zum Glück hatte Thura das Tier bereits zuvor unter besseren Bedingungen gesichtet. Sonst hätte sie gerade an ihren Augen gezweifelt. Der Drache wirkte viel größer als vorher, geradezu riesig im Vergleich. Er war so groß, dass er unmöglich dasselbe Wesen sein konnte, das sie zuvor gesichtet hatte. Das hier war ein wahrer Riese unter Riesen.
Thura umfasste die Axt fester, bereit, sie einzusetzen, wenn es sein musste. Doch der Drache verweilte nicht länger, sondern flog weiter.
Und hätte Thura das Land besser gekannt, wäre ihr klar gewesen, dass der Drache nach Eschental flog.