24

Mit schwerem Herzen flog Kalec dahin. Die schreckliche Sorge, dass Kirygosa mit ihrer Vermutung über Jaina recht haben könnte, nagte an ihm. Drachen konnten zwar keine Gedanken lesen, aber die Art, wie Jaina reagiert hatte, als das Gespräch auf die Fokussierende Iris gekommen war, erschien mehr als verdächtig. Nun war er sich beinahe sicher, dass sie das Artefakt selbst aus Theramore fortgeschafft hatte – und plante, es gegen die Feinde einzusetzen, die ihr damit zuvor schon so viel Leid zugefügt hatten. Was diese fürchterliche Schlussfolgerung noch weiter stützte, war der Umstand, dass die Iris einmal mehr verschwunden war, diesmal aber deutlich geschickter als zuvor vor seinen Sinnen verborgen wurde. Es war ein unangenehmer Gedanke, und er wünschte sich, daran glauben zu können, dass der Wandel in dieser Frau, für die er so viel empfand, nur das Resultat der arkanen Energie der Bombe wäre. Vielleicht traf das teilweise sogar zu, aber alles ließ sich damit leider nicht erklären.

So kehrte er nun also zum Nexus zurück, um sich mit seinem Schwarm zu beraten. Außerdem … wollte er nach Hause.

Als er sich dem Nexus näherte, fiel ihm auf, dass nun keine Drachen mehr schützend ihre Kreise um die Säule zogen, obwohl es seit Urzeiten Sitte war. So verstärkte der Anblick seine Trauer nur noch weiter. Kalec beschloss, nicht sofort zu landen. Er wollte erst mit jemandem sprechen, der seine Seele trösten, aber auch die schweren Worte aussprechen konnte, die er jetzt hören musste.

Er fand Kirygosa an ihrem „Ort der Reflexion“, wo er auch schon mit ihr gesprochen hatte, als ihn die Nachricht vom Diebstahl der Iris erreicht hatte. Wie damals saß sie auch jetzt in ihrer menschlichen Gestalt an den leuchtenden Baum gelehnt, und obwohl sie nur ein leichtes, ärmelloses blaues Kleid trug, schien sie die Kälte überhaupt nicht zu spüren.

Er landete auf der schwebenden Plattform, und nachdem er sich in seine Halbelfenform verwandelt hatte, ergriff er die Hand, die Kiry ihm hinhielt, und nahm neben ihr Platz.

Eine Weile saßen sie einfach nur schweigend da, bis Kalec schließlich sagte: „Ich habe niemanden Wache fliegen gesehen.“

Kirygosa nickte. „Die meisten von ihnen sind fort“, erklärte sie. „Jeden Tag beschließt erneut jemand, dass dieser Ort nicht länger sein oder ihr Zuhause ist.“

Gequält schloss Kalec die Augen. „Ich habe das Gefühl, versagt zu haben, Kiry“, murmelte er leise. „Bei allem. Als Anführer, auf der Suche nach der Fokussierenden Iris, bei dem Versuch, Jaina zu helfen … überall habe ich versagt. Ich habe noch nicht einmal erkannt, wie schwer die Geschehnisse in Theramore sie wirklich getroffen haben.“

In ihren blauen Augen lag nicht die geringste Spur von Genugtuung, als sie ihn musterte. „Dann hat sie die Iris also?“

„Ich weiß es nicht. Ich kann sie nicht mehr fühlen, zumindest nicht deutlich. Aber … ja, ich glaube, Jaina könnte sie haben.“

Sie wusste, wie schwer diese Worte ihm fielen – und drückte seine Hand. „Ich weiß nicht, ob dich das tröstet, aber ich finde nicht, dass es ein Fehler gewesen ist, dich in sie zu verlieben. Oder sie noch immer zu lieben. Dein Herz ist groß, aber es muss dem Gebot der Vernunft gehorchen.“

„Weißt du“, begann er, um die Unterhaltung aufzulockern, „es gibt nicht wenige, die behaupten, wir beide würden ein gutes Paar abgeben. Du würdest mich jedenfalls davon abhalten, mich auf die falschen Frauen einzulassen.“

Kiry lachte und legte ihren Kopf an seine Schulter. „Ich bin sicher, eines Tages wirst du einen Partner sehr glücklich machen, Kalecgos, aber ich werde es nicht sein.“

„Da geht sie dahin, meine letzte Hoffnung, doch noch ein normaler Drache zu werden.“

„Ich bin froh, dass du kein normaler Drache bist“, entgegnete sie, und die Zuneigung in ihren Augen ließ ihm warm ums Herz werden. Ja, er liebte sie – aber nicht wie einen Partner. Kalec seufzte, und die Melancholie legte sich wieder auf sein Gemüt. „Oh, Kiry, ich bin vom Pfad abgekommen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

„Ich glaube, du weißt ganz genau, was du tun solltest, und du bist auch nicht vom Pfad abgekommen“, entgegnete sie. „Du stehst nur an einer Kreuzung, mein geliebter Freund. So wie wir alle. Entweder brauchen dich die blauen Drachen als einen Anführer, der sie weise leitet … oder sie müssen ihren eigenen Weg finden und ihr Leben selbst leiten. Gibt es denn eine größere Pflicht als die Verantwortung sich selbst gegenüber? Und was die jüngeren Rassen betrifft: Vielleicht haben ja auch sie das Recht, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Ihre eigenen Entscheidungen zu treffen … und mit den Konsequenzen zu leben.“

So wie Garrosh, dachte Kalecgos. Und so wie es nun auch Jaina vorhat.

„Veränderung“, murmelte er, als ihm einfiel, was er einst zur Lady Prachtmeer gesagt hatte. Die Dinge unterliegen einem Rhythmus, einem Kreislauf. Nichts bleibt sich ewig gleich, Jaina. Nicht einmal wir Drachen, die wir so langlebig und angeblich auch so weise sind.

Angeblich.

„Wohin wirst du gehen?“, fragte er leise, und durch diese vier Worte teilte er Kirygosa seine Entscheidung mit.

„Ich bin nicht so weit in der Welt herumgekommen wie du“, sagte sie. „Ich habe gehört, dort draußen soll es warme Ozeane geben, die nicht mit Eis gefüllt sind. Wo die Winde süß duften und nicht frostig in den Augen stechen. Ich glaube, ich würde diese Orte gerne sehen. Mir einen neuen Ort der Reflexion suchen.“

Jedes weitere Wort wäre überflüssig gewesen. Kiry stand auf, als hätte sie nur darauf gewartet, dass er ihr seinen Segen gab. Er erhob sich ebenfalls, dann umarmten sie einander fest.

„Leb wohl, bis wir uns wiedersehen, Kalec“, flüsterte sie. „Solltest du mich je brauchen, such in tropischen Breiten nach mir!“

„Und falls du meine Hilfe benötigst, begib dich zum unwahrscheinlichsten Ort, an dem ein Drache nur leben kann! Ich bin sicher, dort wirst du mich finden.“

Seine Brust zog sich zusammen, als er zusah, wie sie sich verwandelte, ihre Flügel ausbreitete und nach oben eilte. Einmal drehte sie sich noch kurz um, ein stummer Abschied, dann flog sie gen Süden davon.

Eine halbe Stunde später stand Kalecgos allein auf der Spitze des Nexus. Teralygos, einst sein Feind, nun sein Freund, war der Letzte, der den Turm verlassen hatte. Er war in nordöstlicher Richtung verschwunden; im Gegensatz zu Kirygosa sehnte sich der alte Drache nach der friedlichen Stille der kalten Lande, der traditionellen Heimat des blauen Schwarmes.

Kalecs Entscheidung hatte keinen der anderen Drachen, die noch zurückgeblieben waren, wirklich überrascht, und keiner von ihnen schien die Schuld für diesen Exodus bei ihm zu suchen. Veränderungen. Sie waren gekommen, und alle Gegenwehr der Welt, alle Proteste, all die Wünsche, es könnte wieder so sein wie in der guten, alten Zeit, waren machtlos gegen sie. Die Veränderungen ließen sich nicht aufhalten. Was würde nun aus ihm werden, dem einzigen verbliebenen Bewohner dieses nunmehr verlassenen Königreiches? Wohin führte sein Pfad?

Alles verändert sich, Jaina, ob nun durch äußere Einflüsse oder von innen heraus. Und manchmal reicht eine winzige Änderung in der Gleichung schon aus, hatte er einst zu der Frau gesagt, in die er sich verliebt hatte.

Dann … sind wir also auch Magie, hatte sie erwidert.

„Ja“, wisperte er. „Das sind wir.“

Und da wusste er, was er tun musste.


Jaina hatte ihr Bestes getan, um sich zu verkleiden. Und anstatt sich einfach dorthin zu teleportieren, war sie auf herkömmlichem Wege nach Ratschet gereist. Dort angekommen, kaufte sie einem anderen Reisenden, einer armen Seele, die offenbar das Glück verlassen hatte, einen Greif ab und setzte die Reise nach Süden fliegenderweise fort. Dabei war ihr nur allzu bewusst, dass sie über dem Pfad dahinglitt, auf dem zuvor schon die Horde zur Nordwacht marschiert war. Sie nutzte dieses Wissen, um die Flammen ihres Zorns zu schüren.

Als die Ruinen der Feste in Sicht kamen, die nun von ihren Feinden besetzt wurde, musste sie gegen einen Kloß in ihrem Hals anschlucken. Einige Hordetruppen waren hier zurückgeblieben, während sich der Rest der Flotte zurückgezogen hatte, und der Anblick ihrer schwarz-roten Banner verwandelte das Feuer von Jainas Zorn in Eis.

Sie ließ den Greif landen und stieg ab, wobei sie behutsam auf die kleine Tasche achtete, die sie seit Beginn ihrer Reise eng an sich gedrückt hielt. Anschließend versetzte sie dem Tier einen heftigen Klaps auf seinen Löwenkörper, und als es irritiert vom Boden hochsprang, nickte sie ihm zu. Der Greif würde gewiss allein nach Ratschet zurückkehren und dort einen neuen Besitzer finden. Jaina hatte jedenfalls keinen weiteren Nutzen für ihn. Sie wandte sich nach Osten und flüsterte einen Teleportationszauber, und ein paar Sekunden später fand sie sich auf dem Prügeleiland wieder.

„He, Fräulein“, sagte eine raue Stimme. Der Mensch, der sie angesprochen hatte, trug abgeschnittene Kniehosen, ein offenes Hemd und ein Entermesser. „Bist wohl hergekommen, um mit den Piraten zu spielen, eh?“

Sie richtete den Blick ihrer weiß glühenden Augen auf ihn. „Ich habe keine Zeit für Spiele“, erklärte sie, dann schleuderte sie dem Totschläger fast beiläufig einen Feuerball entgegen. Er schrie, als sein Körper in Flammen aufging, taumelte noch ein paar Schritte und stürzte dann sich windend zu Boden.

Ungerührt von diesem Anblick wandte sich Jaina den Kameraden des Schlägers zu, die jetzt mit wütenden Rufen auf den Lippen herbeieilten. Sie gehörten nicht zur Horde – zumindest nicht alle –, aber sie waren Halsabschneider und Mörder. Niemand würde um sie trauern. Ohne jede Gnade marschierte sie durch das Lager und streckte die Kriminellen mit Feuer, Eis und arkaner Energie nieder. Menschen, Trolle und Zwerge gingen vor ihr zu Boden, ebenso wie ein Oger, der mit dem winzigen Hut auf seinem kahlen Schädel geradezu lächerlich aussah.

Nun brannte sie auch die Häuser nieder, damit es später keine unangenehmen Überraschungen geben könnte. Anschließend griff sie in die Tasche und holte die Fokussierende Iris hervor – das Buch, das sie aus der Bibliothek von Dalaran gestohlen hatte, hatte ihr verraten, wie man sie verkleinerte. Mit dem Artefakt in der Hand, wandte sie sich gen Norden und begann mit den Vorbereitungen.


Die Mitglieder des Irdenen Rings waren der Erschöpfung nahe. Die Elemente schienen heute wütender als sonst, und auch wenn niemand es laut aussprach, war Thrall doch sicher, dass sie sich alle fragten, ob ihre Bemühungen vielleicht an Wirkung verloren.

Es ergab einfach keinen Sinn. Der Fortschritt hatte sich zwar nur langsam eingestellt, das stimmte, aber er war durchaus messbar und beständig gewesen. Die müden Schamanen zogen sich in ihr Lager zurück, um etwas zu essen und wieder zu Kräften zu kommen. Muln Erdenwut, der offizielle Anführer des Irdenen Ringes, schien sich am meisten verausgabt zu haben.

Aggra musterte den Tauren mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen. „Das Schweigen macht mir zu schaffen“, sagte sie. „Wir alle denken dasselbe, aber niemand wagt, es zur Sprache zu bringen. Komm, lass uns mit Muln reden!“

Thrall lächelte und schüttelte den Kopf. „Wir denken wirklich ähnlich, mein Herz, aber stets bist du es, die zuerst auf ein Handeln drängt.“

Sie zog die Schultern hoch. „Ich bin in Nagrand aufgewachsen. Da lernt man, schnell zu handeln, wenn sich Schwierigkeiten abzeichnen“, erklärte sie. Und während sie dann durch das Lager schritten, drückte sie seine Hand.

Muln blickte den beiden Orcs entgegen und seufzte. „Ich weiß schon, was Ihr sagen wollt“, meinte er. „Aber nein, ich weiß nicht, warum sich unsere Fortschritte in Luft aufzulösen scheinen. Die Elemente sind schon zu lange so angespannt, dass es schwer ist, ihre Stimme noch klar zu hören.“

Thrall sagte: „Vielleicht sollten wir …“

Da jagten ganz plötzlich Schmerzen durch seinen Körper, und er brach auf die Knie zusammen, die Hände an seinen Schädel gepresst. Aggra bückte sich neben ihn und griff nach seinen Schultern. „Go’el, was ist?“, schrie sie.

Seine Lippen bewegten sich, doch er brachte keine Worte hervor. Das Gesicht seiner Frau verblasste vor seinen Augen, und einen Moment lang sah er überhaupt nichts. Danach aber sah er plötzlich zu viel.

Wasser, blaugrün, kalt und wütend, brandete über ihn hinweg. Er keuchte, würgte, versuchte zu atmen. Da hob ihn auch schon die nächste Woge empor, doch nur, um ihn wieder nach unten zu schleudern. Die Fluten schlugen über ihm zusammen. Er wurde im Innern einer gewaltigen Welle umhergewirbelt, dennoch sah er hier und da kleine, wütende Augen, dann den Umriss eines Armes, einen Kopf, das Glitzern von Fesseln. Dies war mehr als nur eine gewöhnliche Meereswoge – er war der Spielball der versklavten Elemente.

Doch war er nicht allein. Da gab es Dutzende, Hunderte von Orcs, die ebenfalls in dieser Welle gefangen waren und ums Überleben kämpften. Zudem entdeckte Thrall nun auch Trümmer, die in der Woge dahinwirbelten und eine weitere tödliche Gefahr darstellten. Einen Moment später packte ihn eine Hand aus Wasser und drückte ihn nach unten. Dort, in der Tiefe, sah er …

Die Dächer von Orgrimmar! Wie konnte das sein? Doch es gab keinen Zweifel; da war das Tor, und dort trieben die Trümmer eines der Eisengerüste in die Höhe, die Garrosh errichtet hatte, wie Thrall wusste.

Hilf uns!, flüsterten Stimmen.

Er konnte nicht atmen, fühlte, wie das Wasser in seine Lungen drang.

Hilf uns! Wir wollen das nicht!

Die Wasserhand, die ihn hielt, begann zu zittern, und zwar so, als würde auch sie gegen etwas ankämpfen. Dann ließ sie ihn abrupt los. Thrall schoss hoch an die Oberfläche und saugte keuchend und hustend die saubere Luft ein.

Du musst es beenden, andernfalls werden deine Leute sterben. Wir werden sie töten müssen, und wir werden um sie trauern, während wir in ewiger Sklaverei leiden.

Thrall sammelte seine Gedanken, und nach einem weiteren Husten fragte er: „Wo?“

Diesmal hörte er zwar keine Stimme, stattdessen sah er aber ein Bild in seinem Kopf: ein Fleckchen Land vor der Küste des Nördlichen Brachlandes, weit von Orgrimmar entfernt. Doch was kümmerten das Meer Entfernungen, wo es doch alle Küsten berührte?

„Go’el“, rief eine geliebte Stimme, die ihn zurück in die Gegenwart holte. „Go’el!“

Das grausige Bild der ertrunkenen Leichen und der zerstörten Stadt verschwand wieder, und Thrall atmete erleichtert auf, als er nach einem Blinzeln erneut Aggras Gesicht über sich sah und nicht länger die Vision – denn das musste es gewesen sein: eine Vision. Sie lächelte und streichelte seine Wange.

„Was habt Ihr gesehen, mein Freund?“, fragte Muln. Auch andere hatten sich inzwischen um den Orc versammelt. Thrall versuchte sich in die Höhe zu stemmen, aber Muln drückte ihn auf den Boden zurück. „Erhol dich erst und erzähl – dann steh auf und stärke dich!“

Thrall nickte. „Ihr habt natürlich recht, Muln“, meinte er. „Die Elemente gewährten mir eine Vision. Es könnte die Erklärung dafür sein, dass sie plötzlich so aufgebracht sind.“ Rasch und mit prägnanten Worten, doch ohne auch nur eine wichtige Einzelheit auszulassen, berichtete er, was er gesehen hatte.

„Kennt Ihr diese Insel?“, wollte Nobundo wissen.

„In der Tat“, nickte Thrall. „Es war das Prügeleiland, südlich von Durotar.“

Die Schamanen wechselten mehrere Blicke. „Falls die Elemente so klar um Hilfe rufen, müssen wir darauf reagieren“, erklärte Muln.

Doch Nobundo schüttelte den Kopf. „Nein“, widersprach er. „Falls sie unsere Hilfe wollten, hätten sie uns allen diese Vision gezeigt. Sie wissen, dass wir nicht von hier fortkönnen. Und doch … haben sie um Unterstützung gebeten.“

Thrall nickte bedächtig. Aggra wirkte gequält, aber schicksalsergeben. „Sie haben sich direkt an mich gewandt“, sagte er. „An mich allein. Also ist es auch an mir, ihrem Ruf zu folgen und das Blutbad an meinem Volk zu verhindern. Aggra, Geliebte, du weißt, ich würde dich mitnehmen, aber …“

Sie lächelte hinter ihren Hauern. „Es ist deine Aufgabe, Go’el“, erklärte sie, „und ich werde jedem den Schädel spalten, der es wagt, in meiner Gegenwart zu sagen, dass du ihr nicht gewachsen bist.“

Unmerklich schmunzelte er. Ja, er musste der Aufgabe gewachsen sein. Könnte er wirklich Hunderte von versklavten Wasserelementaren befreien, damit sie nicht eine gesamte Stadt dem Erdboden gleichmachen mussten? Er hoffte es. Doch die Elemente waren weise; er wollte ihnen vertrauen. Langsam stemmte sich Thrall auf die Beine, und nachdem er seine Frau umarmt hatte, ging er zu seinem kleinen Zelt hinüber, um das wenige zu packen, das er für die Reise brauchen würde.


Vol’jin hatte genug.

Als er von dem Unfall bei Klingenhügel hörte, hatte er darin ein Zeichen gesehen. Der Troll würde nicht riskieren, dass seinen Leuten noch mehr solcher Unfälle zustießen. Er hatte Thrall gemocht und ihm vertraut, und als der Orc ihn gebeten hatte, bei der Horde zu bleiben, hatte er sich dazu bereit erklärt. Natürlich hatte bei seiner Entscheidung auch Vorsicht eine Rolle gespielt, andernfalls hätte er Garrosh wohl kaum weiterhin die Treue gehalten, als der Kriegshäuptling ihn beleidigte und sein Volk zwang, in den ärmlichsten Vierteln zu hausen. Inzwischen lebten die Trolle auf den Echoinseln, aber auch dort waren sie Orgrimmar noch zu nahe, um sich wirklich sicher fühlen zu können.

Doch vielleicht war nun die Zeit gekommen, sich zurückzuziehen, oder sich zumindest einen entsprechenden Plan zurechtzulegen. Die Gelegenheit war günstig. Garrosh und die loyalen Mitglieder der Horde – also diejenigen, die in den Tavernen in der Hauptstadt feierten und nicht in Klingenhügel – waren noch immer damit beschäftigt, auf ihre abscheulichen Taten anzustoßen. Die Kor’kron, oder zumindest dieser Abschaum Malkorok, der sie führte, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er vom endgültigen Sieg seines Kriegshäuptlings überzeugt war. Darum schreckte er auch nicht davor zurück, Hordemitglieder zu töten, wenn sie es wagten, im Geheimen oder in der Öffentlichkeit schlecht über Garrosh zu sprechen.

Unter Thralls Herrschaft war die Horde gut zu den Trollen gewesen, aber jetzt – Vol’jin hatte viele gute Krieger während der letzten beiden Schlachten verloren, und das sollte sein Lohn sein? Nein, danke! Es war Zeit, nach Hause zu gehen, zumindest vorläufig, denn schließlich lag dieses Zuhause direkt unter Garroshs Nase. Zeit auch, intensiv zu meditieren und herauszufinden, was die Loa zu sagen hatten. Er erinnerte sich noch an die Worte, die er vor einer Weile an Garrosh gerichtet hatte: dass der Orc den Großteil seiner Herrschaft damit verbringen würde, über die Schulter zu blicken – und dass er während seiner letzten Atemzüge genau wissen würde, wer ihn getötet hatte.

Es schien, als wäre seine Entscheidung, sich zurückzuziehen, die richtige gewesen. Noch bevor er die Echoinseln erreichte, kam ihm ein Kanu entgegen. Der Schamane in dem Boot hatte die Arme erhoben, während sich die Wellen unter dem Rumpf schneller bewegten, als es eigentlich der Fall sein sollte; er benutzte die Elemente, um so schnell wie möglich zu seinem Anführer zu gelangen.

Vol’jin wartete gar nicht erst, bis das Kanu neben seinem Boot zum Stehen kam. Er bat die Loa, seine Stimme zu verstärken und rief dann: „Was is’, mein Freund? Was is’ gescheh’n?“

Der Schamane antwortete, und der unruhige Wind trug seine Stimme an Vol’jins lange Ohren heran. „Die Allianz! Sie is’ unterwegs hierher! Mit einer riesig’n Streitmacht!“


Garrosh brüllte vor Zorn und schleuderte seinen Krug quer über den Tisch. „Die Allianz? Hier? Unsere Spione sagten doch, sie würden sich an der Düsterküste sammeln!“

Der bemitleidenswerte Troll, dessen Aufgabe es war, dem Kriegshäuptling Meldung zu machen, zuckte ein wenig zusammen, obwohl der Krug nicht in seine Richtung geflogen war. „Davon weiß ich nix, Kriegshäuptling. Ich weiß nur, sie nähern sich der Messerfaust-Küste mit Dutzend’n von Schiff’n. Was soll’n wir tun?“

Schnell hatte sich Garrosh wieder von seinem Wutausbruch erholt. „Sag Baine, er soll Druiden in jeden Hafen schicken, den wir besetzt halten! Unsere Flotte muss sofort verstärkt werden. Die Truppen an der Nordwacht sollen herkommen. Bis zum letzten Schiff! Und so schnell wie möglich!“

Sehr zur Verwirrung des Trollboten verzerrte nach diesen Worten ein durchtriebenes Lächeln das Gesicht des Kriegshäuptlings. „Und die Magier … schick auch sie alle zu mir. Mein Plan war zwar für die Dunkelküste gedacht, aber an der Messerfaust-Küste wird er ebenso gut aufgehen.“


Varian stand an Deck der Wellenlöwe, als sie sich Kalimdor näherten. Die Draeneischamanen hatten ganze Arbeit geleistet und den Wind und die Wogen überzeugt, ihnen zu helfen, sodass die Flotte den Ozean in Rekordzeit überquert hatte, begünstigt von treibenden Winden und ruhigem Seegang. Nun waren sie nur noch ein paar Kilometer von der Messerfaust-Küste entfernt. Varian war zwar der Anführer der Allianztruppen, aber nicht der Kapitän der Wellenlöwe, darum hielt er sich im Hintergrund und ließ Telda Steinfaust ihre Arbeit machen. Das fiel ihm nicht weiter schwer, denn Telda wusste, was sie zu tun hatte, und trotz ihrer kleinen Statur hastete ein jeder Seemann auf seinen Posten, wenn sie einen Befehl bellte.

Als Varian nun neben sie trat und der Wind ihr Haar mit Gischt besprenkelte, reichte sie ihm ein Fernrohr. „Hier, der erste Blick auf die Bucht“, sagte sie.

Varian hob das Gerät vor sein rechtes Auge. Im Hafen lag nur ein einziges Schiff, dennoch wusste er, dass der Weg ins Herz von Orgrimmar schwer bewacht sein würde. „Sieht aus, als wäre dieses Schiff im Hafen von der Bauart, die man von den Goblins kennt.“

„Was bedeutet, dass ein gut gezielter Schuss reich’n sollte, das Ding in die Luft zu jag’n“, kommentierte Telda mit einem Grinsen.

Varian spürte ein leichtes Unbehagen. Seine Sinne – und zwar alle, nicht nur die herkömmlichen fünf – waren übernatürlich scharf, eine Gabe, die er sich aus seiner Zeit als Lo’Gosh erhalten hatte. Er hielt das Gesicht in den munter wehenden Wind und zog die Nase hoch, dann hob er das Fernrohr wieder ans Auge. Alles, was er sehen konnte, waren Himmel und Meer, die verschiedenen Töne von Blau.

Langsam drehte er sich im Kreis. Blaue See, blauer Himmel …

Doch dann erspähte er etwas, das nicht blau war, einen kleinen Fleck am Horizont.

„Da“, rief er und deutete nach Süden. „Schiffe!“

Irgendwie hatte Garrosh ihren Zug vorhergesehen.

„Alle Mann auf Gefechtsstation!“, brüllte Telda, deren Stimme eigentlich viel zu laut für einen so kleinen Körper war. Ringsum erwachte das Deck zu hektischer Tätigkeit. Die gut ausgebildeten Seemänner eilten zu den Kanonen, während Magier die Wanten hinaufkletterten, damit sie ihre Feuerbälle – die bei diesen hölzernen Segelschiffen so schreckliche Schäden anrichteten – zielgenauer und sicherer abfeuern konnten. Die Schamanen hasteten derweil zu den Seiten des Schiffes, obwohl sie dort ein leichtes Ziel waren; indem sie ihre Opferbereitschaft zeigten, wollten sie die Elemente um ihre Unterstützung bitten.

Hörnersignale erklangen, und eines nach dem anderen wendeten die Schiffe, die bis eben noch direkt nach Osten gesegelt waren, bereit, sich der Bedrohung aus dem Süden zu stellen. Varian kletterte ebenfalls die Takelage hinauf, dann hielt er sich mit einer Hand fest und presste mit der anderen das Fernrohr an sein Auge.

Mehrere Schiffe der Horde kamen ihnen direkt entgegen, waren der Allianz-Flotte zahlenmäßig aber deutlich unterlegen. Varian nickte. Er wusste nicht, wie Garrosh ihren Plan hatte vorhersehen können – vielleicht hatte ein Hochseefischerboot die Armada entdeckt und war zurückgeeilt, um Alarm zu geben. Doch im Augenblick schien das eher nebensächlich. Alles, was zählte, war, dass sich die Horde weiter auf ihre Blockade konzentrierte und der Allianz nur die Schiffe entgegenwarf, die sie dort entbehren konnte. Und das waren nicht viele.

„Jaina“, murmelte er, während er rasch wieder nach unten aufs Deck kletterte. „In einem Punkt hattet Ihr womöglich recht. Vielleicht können wir es hier und jetzt beenden.“

Zunächst herrschte eine beinahe schon aufgekratzte Stimmung an Deck. Es war offensichtlich, dass die Horde auf die Fehlmeldungen hereingefallen war, die die Spione der Allianz gestreut hatten, und sich weiterhin auf den Schutz der Küstenstreifen konzentrierte, auf die überhaupt kein Angriff geplant war. Die wenigen Schiffe von der Feste Nordwacht auszuschalten sollte kaum mehr als eine Zielübung sein. Die Messerfaust-Küste, sonst so ruhig und still und beinahe schon langweilig, würde nun Zeuge einer Seeschlacht werden.

Ohne auf seine eigene Sicherheit zu achten, hangelte sich Varian ein zweites Mal die Takelage empor, um auf den Ozean hinauszuspähen. Er zählte lediglich drei oder vier Schiffe, die, so schnell sie konnten, auf die Flotte zusegelten. Auch ihre Segel waren vom Wind gebläht, und es sah aus, als würden sie den Elementen alles abverlangen; was aber nicht weiter verwunderlich war, denn schließlich setzte die Horde schon sehr viel länger als die Allianz Schamanen ein.

„Hart nach Backbord!“, rief Telda, und Varian schlang die Hand fester um die nassen Taue, als die Wellenlöwe sich jäh nach links drehte, der Gefahr aus dem Süden entgegen. Einen Augenblick lang empfand er beinahe – aber wirklich nur beinahe – Mitleid mit den Besatzungen dieser Schiffe, die schon in wenigen Minuten ein nasses Grab auf dem Meeresgrund finden würden.

„Feuer!“

Das Flaggschiff erzitterte unter dem Donnern seiner eigenen Kanonen, als die Waffen dem Feind ihre Geschosse entgegenspien. Einige Kanonenkugeln fuhren ins Wasser, ohne Schaden anzurichten, aber die meisten trafen ihr Ziel – das führende Schiff – mit tödlicher Präzision. Jubel wurde laut, als das Hordeschiff in sich zusammensank.

Doch da setzten sich die Planken plötzlich wieder zusammen. Offenbar konnte die Besatzung dieser Schiffe nicht nur auf die Dienste von erfahrenen Schamanen setzen, sondern auch auf die von erfahrenen Druiden. Varian fluchte, dann kletterte er rasch die Takelage hinab. Die letzten paar Meter legte er mit einem Sprung zurück.

„Hexenmeister, macht euch bereit!“, rief er. Wenn die Dienste jener nötig wurden, die mit Dämonen zusammenarbeiteten, fühlte er sich immer etwas unbehaglich, auch dann, wenn es zum Wohle der Allianz geschah. Doch er wusste: Sie beherrschten gewisse Zauber – und obendrein gewisse Kreaturen –, die sich nun als äußerst hilfreich erweisen konnten. Ihre in Schwarz und Violett und anderen dunklen Farben gehaltenen Roben flatterten um ihre Leiber, als die Hexenmeister an die Reling eilten. Dann hoben sie in vollendetem Gleichklang die Arme und stimmten ihre misstönenden Beschwörungen an.

Feuer regnete vom Himmel auf das ohnehin schon beschädigte Hordeschiff herab, ein steter, unwiderstehlicher Regen, und kleine, gackernde Dämonen, die unter dem Namen Wichtel bekannt waren, tanzten über das feindliche Schiff und schleuderten dabei Flammen um sich. Diese Zerstörung anzurichten schien nicht nur eine Aufgabe für sie zu sein, sondern ihnen obendrein auch noch wirklich Spaß zu machen.

„Magier!“, brüllte Varian nun, die Augen weiter fest auf das feindliche Schiff gerichtet. Gewaltige Feuerbälle mischten sich in den unablässigen tödlichen Flammenregen, und als dann auch wieder die Kanonen grollten, war die Belastungsgrenze des Schiffes überschritten. Es brach entzwei, und Varian sah voller Genugtuung, wie zahlreiche Soldaten der Horde mit hektischen Bewegungen ins Wasser der Bucht sprangen. Die meisten von ihnen gingen aber mit dem Schiff unter.

Siegreich wendete die Wellenlöwe, als die Schamanen die Winde beschworen, sich zu drehen. Danach richtete sich ihr Bug auf das nächste Feindesschiff. „Einer hin, drei im Sinn!“, krähte Telda. „Kommt schon, ihr Helden und Heldinnen! Heute Abend schlag’n wir uns in Orgrimmar die Bäuche voll!“

Einen Moment später senkte sich plötzlich ein grauer Nebel über das Schiff.

Varian fluchte. Das war das Werk von Schamanen. Doch seine Hexenmeister reagierten bereits und schickten grün glühende Bälle nach oben, über den heraufbeschworenen Dunst hinweg. Anschließend meldeten sie, was sie sahen. Eine von ihnen, eine Menschenfrau, die viel zu jung für ihr weiß schimmerndes Haar zu sein schien, das ihre Schultern umschmiegte, rief Varian zu: „Majestät – irgendetwas tut sich im Ozean, aber ich kann nicht genau erkennen, was es ist.“

Erneut erklang Kanonendonner, doch diesmal konnte Varian nicht sagen, wer feuerte und wer unter Beschuss stand. Dann aber hörte er ein grausiges, knirschendes Geräusch. Es war nicht das Knarzen, mit dem sich das Deck unter dem Feuer von Kanonen aufbäumte, sondern etwas anderes, Schreckliches, irgendwo dort draußen, wo er es nicht erkennen konnte. Doch eines wurde ihm nun schlagartig klar: Die Truppen der Horde mochten seiner Flotte zahlenmäßig unterlegen sein, doch sie waren viel gefährlicher, als er gedacht hatte.

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