„Ich erinnere mich noch an diesen schmutzigen Mantel“, sagte das Bild von Prinz Anduin Wrynn mit einem Grinsen.
Lady Jaina Prachtmeer erwiderte das Lächeln. Sie und ihr „Neffe“, die einander zwar nicht durch Blut, aber durch eine tiefe Zuneigung verbunden waren, unterhielten sich mittels eines verzauberten Spiegels, den Jaina für gewöhnlich gut verborgen hinter einem Bücherschrank aufbewahrte. Sprach man den richtigen Zauber, verschwand die Reflexion des jeweiligen Raumes von seiner Oberfläche, und was gerade noch ein simpler Spiegel gewesen war, verwandelte sich in ein Fenster. Es war eine Variation des Zaubers, der es Magiern erlaubte, sich und andere von einem Ort an einen anderen zu teleportieren.
Anduin war einst unerwartet aufgetaucht, als Jaina von einem ihrer geheimen Treffen mit dem damaligen Kriegshäuptling Thrall zurückgekehrt war. Schlau, wie er war, hatte der Prinz schnell erkannt, was da vor sich ging, und nun teilten sie dieses Geheimnis.
„Ich konnte dich noch nie täuschen“, erklärte Jaina. „Wie ergeht es dir unter den Draenei?“ Doch sie wusste schon, was er ihr sagen würde, bevor er auch nur den Mund öffnete, um eine Antwort zu geben. Anduin war gewachsen – und nicht nur körperlich. Selbst im Spiegel, wo er nur eine Ansammlung blauer Farbtöne war, konnte sie sehen, dass sein Kiefer entschlossen vorragte und seine Augen in einem ruhigeren und weiseren Schein glänzten.
„Es ist wirklich unglaublich, Tante Jaina“, erklärte er. „Da geschieht gerade so viel in der Welt, das ich verändern möchte – aber ich weiß, dass ich hierbleiben muss. Fast jeden Tag lerne ich etwas Neues. Es quält mich zwar, dass ich nicht helfen kann, aber …“
„Die Aufgabe, uns eine Zukunft zu sichern, in der du glücklich aufwachsen kannst, obliegt nicht dir, Anduin“, unterbrach ihn Jaina. „Dein Schicksal ist es, genau das zu tun, was du jetzt tust – also streng dich an! Lerne fleißig! Du hast aber recht: Du musst dortbleiben, denn dort gehörst du jetzt hin.“
Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, und plötzlich wirkte er wieder viel jünger. „Ich weiß“, seufzte er. „Ich weiß. Nur ist es eben manchmal … schwierig.“
„Die Zeit wird kommen, da du wehmütig an diese einfacheren, ruhigeren Tage zurückdenkst“, sagte Jaina. Kurz musste sie an ihre eigene Jugend denken. Geliebt von ihrem Vater und ihrem Bruder, sicher in der Obhut ihrer Gouvernanten und Lehrer, war ihr Leben trotz der militärischen Prägung ihrer Familie von der Freude am Lernen und den Pflichten einer jungen Lady erfüllt gewesen. Damals hatte sie sich gegen diese Lektionen gesträubt, aber nun erschienen ihr die Erinnerungen daran so süß und lieblich wie Blütenblätter.
Anduin verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen. „Richte Thrall schöne Grüße von mir aus“, sagte er.
„Das wäre ziemlich töricht“, entgegnete Jaina, lächelte jedoch, während sie sprach. Anschließend schob sie sich die Kapuze des Umhangs über das goldene Haar. „Alles Gute, Anduin! Es war schön zu hören, wie es dir geht.“
„Ich komme schon zurecht, Tante Jaina. Sei du lieber vorsichtig!“ Sein Bild verschwand, und Jaina, die gerade versucht hatte, die Kapuze zuzubinden, hielt mitten in der Bewegung inne. Sei du lieber vorsichtig! Oh ja, er wurde wirklich erwachsen!
Wie schon so oft in der Vergangenheit machte sie sich allein auf den Weg, wobei sie, ganz wie Anduin es gewünscht hatte, Vorsicht walten ließ und darauf achtete, dass ihr niemand folgte. Sie paddelte mit ihrem Boot nach Südwesten, zwischen den kleinen Inseln hindurch, die das als Tidenbucht bekannte Gebiet sprenkelten. Hin und wieder schnappten Matschpanzerklacker wütend mit ihren Zangen nach ihr, doch davon abgesehen wurde sie auf ihrer Reise durch die Gewässer nicht gestört.
Am Treffpunkt bugsierte Jaina das Boot an Land, überrascht, dass Thrall nicht bereits eingetroffen war. Ein leichtes Gefühl der Unruhe überkam sie. So viel hatte sich verändert: Er hatte die Führung der Horde an Garrosh abgetreten, die Welt war aufgebrochen wie ein Ei und würde nie wieder dieselbe sein, und dann war da noch dieses gewaltige Übel gewesen, das verzehrt von Hass und Wahnsinn über das Angesicht von Azeroth gewütet hatte, bis man es schließlich besiegte.
Der Wind drehte sich. Er streichelte ihr Gesicht und wehte ihr die Kapuze vom Kopf, obwohl sie sie unter ihrem Kinn zugebunden hatte. Ihr Umhang blähte sich hinter ihrer zierlichen Gestalt auf, und plötzlich musste Jaina lächeln. Es war eine warme Brise, vom Geruch von Apfelblüten geschwängert, und ehe sie sichs versah, hob dieser Windstoß sie aus dem Boot, als wäre er eine große, sanfte Hand. Sie wehrte sich nicht; sie wusste, dass sie völlig sicher war. Die Brise wiegte sie und setzte sie mit derselben Behutsamkeit am Ufer ab, mit der sie sie zuvor in die Luft emporgehoben hatte. Nicht ein einziger Tropfen des schlammigen Wassers hatte ihre Stiefelspitzen berührt.
Einen Moment später trat er hinter einem Fels hervor, und Jaina erkannte einmal mehr, dass sie sich noch immer nicht an seine neue Erscheinung gewöhnt hatte. Anstatt seiner Rüstung trug Thrall, der Sohn von Durotan, schlichte Roben und eine Kette aus roten Gebetsperlen um den Hals, dazu eine einfache Kapuze, die seinen großen Kopf mit dem schwarzen Haar bedeckte. Die Roben entblößten einen Teil seiner breiten grünen Brust, und seine Arme waren nackt. Kein Zweifel, jetzt war er wirklich ein Schamane und kein Kriegshäuptling mehr. Allein der Schicksalshammer, den er sich hinter den Rücken geschnallt hatte, erinnerte sie noch an den alten Thrall.
Er streckte die Hände aus, und Jaina ergriff sie.
„Lady Prachtmeer“, sagte er, während seine blauen Augen in einem freudigen blauen Schein strahlten. „Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal so getroffen haben.“
„Ja, in der Tat, Thrall“, stimmte sie zu. „Vielleicht zu lange.“
„Ich bin jetzt Go’el“, erinnerte er sie sanft. Sie nickte, wenn auch ein wenig zerknirscht.
„Entschuldige! Dann also Go’el.“ Jaina blickte sich um. „Wo ist Etrigg?“
„Er ist beim Kriegshäuptling, wo er hingehört“, antwortete Go’el. „Ich bin jetzt der Anführer des Irdenen Ringes, dem ich demütig diene. Ich halte mich nicht für besser oder mächtiger als irgendein anderes Mitglied des Bundes.“
Der Hauch eines amüsierten Lächelns umspielte ihre Lippen. „Es gibt nur wenige, die einen ganz normalen Schamanen in dir sehen würden“, meinte sie. „Und ich gehöre nicht dazu. Oder sind die Geschichten, dass du dich mit vier Drachen-Aspekten verbündet hast, um Todesschwinge zu besiegen, nur Märchen?“
„Es war eine Ehre und eine Lektion in Demut, der Welt so zu dienen“, entgegnete Go’el. Bei jedem anderen wären diese Worte nichts als höfliche Bescheidenheit gewesen, aber Jaina wusste, dass er es tatsächlich so meinte. „Ich habe lediglich den Platz des Erdwächters eingenommen. Wir alle, die wir gemeinsam gekämpft haben – die Drachen ebenso wie die tapferen Vertreter aller anderen Rassen dieser Welt – haben den Sieg errungen. Der Tod dieses gewaltigen Monsters ist das Verdienst vieler.“
Sie suchte seinen Blick. „Dann bist du also mit allen Entscheidungen, die du getroffen hast, zufrieden.“
„Das bin ich“, sagte er. „Hätte ich mich nicht zurückgezogen, um dem Irdenen Ring beizutreten, ich wäre nicht bereit gewesen, zu tun, was das Schicksal von mir verlangte.“
Sie dachte an Anduin und seine Ausbildung, die ihn weit von seiner Familie und seinen Lieben fortgeführt hatte. Da geschieht gerade so viel in der Welt, woran ich teilhaben möchte – aber ich weiß, dass ich hierbleiben muss. Fast jeden Tag lerne ich etwas Neues.
Und ihm hatte sie gesagt, dass er genau da war, wo er sein sollte. Jetzt sagte Go’el mehr oder weniger dasselbe, und ein Teil von ihr wollte ihm auch zustimmen. Die Welt war ganz sicher ein besserer Ort, ohne dass Todesschwinge und der Zwielichtkult das Land verwüsteten und terrorisierten! Und dennoch …
„Alles hat seinen Preis, Go’el“, meinte sie. „Du hast einen Preis gezahlt, um dein Wissen und deine Fähigkeiten zu erwerben. Der … der Orc, dem du deinen Platz auf dem Thron überlassen hast, richtete in deiner Abwesenheit großen Schaden an. Ich habe gehört, was in Orgrimmar und Eschental vor sich geht, und ich bin sicher, du ebenfalls!“
Seine Miene, die bislang so friedlich gewesen war, verdüsterte sich nun. „Natürlich habe ich davon gehört.“
„Und … du willst nichts unternehmen?“
„Früher bin ich einem anderen Pfad gefolgt“, erklärte Go’el. „Du hast ja gesehen, wohin dieser Pfad geführt hat. Ich habe eine Gefahr heraufbeschworen, die …“
„Go’el, ich weiß das, aber diese Herausforderung liegt nun hinter uns. Garrosh versucht, einen Streit zwischen der Allianz und der Horde zu schüren – einen Streit, den er allein heraufbeschworen hat. Ich kann schon verstehen, dass du ihn nicht öffentlich bloßstellen möchtest, aber – vielleicht können wir beide zusammenarbeiten. Wir könnten eine Art Gipfel einberufen. Bitte Baine, sich uns anzuschließen; ich weiß, dass er nicht mit Garroshs Plänen einverstanden ist. Und ich könnte mit Varian sprechen. In jüngster Zeit scheint er viel zugänglicher geworden zu sein. Jeder kennt und respektiert dich, selbst in der Allianz, Go’el. Du hast dir diesen Respekt durch dein Handeln verdient. Garrosh hingegen hat bis jetzt nichts außer Misstrauen und Hass erworben.“
Sie deutete auf ihren Umhang, der ihr von derselben Böe von den Schultern geweht worden war, durch die er auch sie ans Ufer getragen hatte. „Als Schamane kannst du die Winde kontrollieren. Aber nun zieht der Sturm des Krieges auf, und falls wir Garrosh nicht bald aufhalten, werden viele Unschuldige den Preis für unser Zögern bezahlen.“
„Ich weiß, was Garrosh getan hat“, sagte Go’el. „Aber ich weiß auch, wofür die Allianz verantwortlich ist. Es gibt Unschuldige, ja, aber nicht einmal du kannst Garrosh die alleinige Schuld an diesen jüngsten Spannungen geben. Nicht all die Angriffe der letzten Zeit wurden von der Horde angezettelt. Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, als gäbe sich die Allianz große Mühe, den Frieden zu bewahren.“
Seine Stimme war ruhig, doch ein warnender Unterton schwang darin mit. Jaina zuckte zusammen – aber nicht etwa wegen dieses Tonfalls, sondern aufgrund der Wahrheit seiner Worte. „Ich weiß“, gestand sie mit einem tiefen Seufzen ein, dann setzte sie sich entmutigt auf einen Felsen, der aus der Erde emporragte. „Manchmal fühle ich mich, als würde niemand meinen Worten Gehör schenken wollen. Der Einzige, der wirklich daran interessiert zu sein scheint, einen dauerhaften Frieden zu schmieden, ist Anduin Wrynn – und der ist erst vierzehn Jahre alt!“
„Das ist nicht zu jung, um sich Sorgen um die Zukunft der Welt zu machen.“
„Aber zu jung, um deswegen etwas zu unternehmen“, entgegnete sie. „Es ist, als müsste ich mich jedes Mal durch einen Morast vorkämpfen, damit man mir zuhört oder mich auch nur beachtet. Es ist … schwierig, diplomatisch zu bleiben und weiter auf echte, vernünftige Ziele hinzuarbeiten, wenn sich sonst niemand mehr um die Vernunft zu scheren scheint. Ich frage mich oft, ob ich nur meinen Atem verschwende.“
Sie war selbst überrascht, wie viel Ehrlichkeit und Müdigkeit in diesen Worten lag. Warum hatte sie das gesagt? Da erkannte Jaina, dass es niemanden sonst gab, mit dem sie wirklich sprechen, dem sie all ihre Zweifel anvertrauen konnte. Anduin blickte wie zu einem Vorbild zu ihr auf, darum konnte sie ihm nicht erzählen, wie mutlos sie bisweilen war, und Varian und die anderen Anführer der Allianz – nun, zumindest die meisten von ihnen – wollten keines der Argumente gelten lassen, die sie anbrachte. Alle waren gegen sie. Allein Thrall – Go’el – schien sie zu verstehen, und sogar er verleugnete nun, welch schreckliche Folgen seine Entscheidung, Garrosh zum neuen Kriegshäuptling der Horde zu machen, haben könnte.
Jaina blickte auf ihre Hände hinab, während die Worte sich weiter ungefiltert zwischen ihren Lippen hervordrängten. „Die Welt hat sich so sehr verändert, Go’el. Nichts ist mehr wie früher. Niemand ist mehr so wie zuvor.“
„Jeder und alles verändert sich, Jaina“, sagte er leise. „Es liegt in der Natur der Dinge, zu wachsen und zu etwas anderem zu werden. Der Same wird zum Baum, die Knospe wird zur Blüte, das …“
„Ich weiß“, schnappte sie. „Aber weißt du, was sich nicht verändert? Der Hass. Der Hass und die Gier nach Macht. Die Leute haben eine Idee oder entwickeln einen Plan, irgendetwas, von dem sie sich einen Vorteil erhoffen, und dann verbeißen sie sich darin und wollen nicht mehr davon ablassen. Sie ignorieren alles, was ihren Ansichten widerspricht, selbst wenn es direkt vor ihren Augen liegt. Worte der Vernunft und des Friedens allein werden sie nicht dazu bringen, ihren Irrtum einzusehen.“
Go’el zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht hast du recht“, erklärte er, ohne sich aber wirklich auf ihre Seite zu stellen. „Jeder muss seinen eigenen Pfad wählen. Vielleicht gibt es etwas anderes, auf das du dich konzentrieren solltest.“
Fassungslos blickte sie zu ihm hoch. „Diese Welt liegt bereits in Fetzen. Glaubst du wirklich, ich sollte aufhören, darum zu kämpfen, dass ihre Bewohner nicht auch noch sich selbst zerfleischen?“
Um ein Haar hätte sie noch hinzugefügt: „So, wie du es getan hast.“ Doch das wäre nicht gerecht gewesen. Man konnte Go’el wohl kaum vorwerfen, dass er untätig war. Er hatte viel für Azeroth getan. Trotzdem … es war engherzig von ihr, so zu denken, nichtsdestotrotz fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen. Sie schlang den befleckten Umhang wieder um ihre schmale Gestalt, aber selbst als sie erkannte, wie abweisend diese Bewegung war, bedurfte es einer bewussten Anstrengung, bevor sich ihre Schultern wieder lockerten. Sie seufzte, während Go’el schweigend neben ihr auf dem Felsen Platz nahm.
„Du musst tun, was du für das Beste hältst, Jaina“, erklärte er. Ein leichter Wind spielte mit den Zöpfen in seinem Bart, und er blickte in die Ferne, während er fortfuhr: „Ich kann dir nicht sagen, was das ist, denn sonst wäre ich nicht anders als diese anderen, die du so sehr zum Verzweifeln findest.“
Er hatte recht. Es hatte eine Zeit gegeben, da war ihr sofort klar gewesen, wie sie sich in einer beliebigen Situation verhalten sollte, selbst wenn diese Entscheidung oftmals schrecklich bitter gewesen war. Der Entschluss etwa, nicht an der Seite ihres Vaters zu bleiben, als er gegen die Horde gekämpft hatte, war ein solcher einschneidender Moment gewesen, genauso wie die Entscheidung, Arthas zu verlassen, als er plante, was schließlich zum Untergang von Stratholme werden sollte. Doch jetzt …
„Nichts scheint mehr gewiss, Go’el. Ich habe den Eindruck, die Dinge sind unsicherer als je zuvor.“
Er nickte. „Dein Eindruck täuscht dich nicht.“
Sie wandte den Kopf und blickte ihn forschend an. Er hatte sich verändert, auf vielerlei Weise. Es war nicht nur seine Kleidung oder der Name oder das Verhalten, es war …
„Also“, sagte sie schließlich. „Das letzte Mal, als wir uns trafen, gab es ein fröhliches Ereignis zu feiern. Wie gefällt dir das Leben mit Aggra?“
Seine blauen Augen füllten sich mit Wärme. „Mehr als gut“, antwortete er. „Sie hat mich geehrt, indem sie mich als Mann akzeptiert hat.“
„Ich glaube eher, du bist es, der sie ehrt“, meinte Jaina. „Erzähl mir ein wenig von ihr! Ich hatte leider kaum Gelegenheit, mit ihr zu sprechen.“
Go’el musterte sie mit einem nachdenklichen Blick, so, als wunderte er sich, warum sie sich dafür interessierte, doch dann zuckte er unmerklich mit den Schultern.
„Sie ist natürlich eine Mag’har, geboren und aufgewachsen auf Draenor. Darum ist ihre Haut auch braun; sie und ihr Volk wurden nie durch Kontakt mit Dämonenblut befleckt. Azeroth ist eine neue Welt für sie, aber sie liebt es von ganzem Herzen. Wie ich ist sie Schamane, und sie widmet ihre ganze Kraft der Aufgabe, diese Welt zu heilen. Diese Welt“, fügte er leise hinzu, „und mich.“
„Musstest du denn … geheilt werden?“, forschte Jaina nach.
„Wir alle müssen geheilt werden, ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht“, erwiderte Go’el. „Selbst wenn wir nie eine Wunde davontragen, hinterlässt das Leben doch Narben auf unserer Seele, allein dadurch, dass wir es leben. Ein Partner, der in dir das sieht, was du wirklich bist, wirklich und vollständig – ah, das ist ein Geschenk, Jaina Prachtmeer! Ein Geschenk, das einen an jedem Tag aufs Neue heilt und stärkt. Ein Geschenk, das man nicht als selbstverständlich hinnehmen darf. Indem sie mir dieses Geschenk gewährte, hat mich Aggra zu einem Ganzen gemacht. Erst jetzt verstehe ich, welche Aufgabe und welchen Platz ich in dieser Welt habe.“
Sanft legte er ihr die große grüne Hand auf die Schulter. „Ich würde mir auch für dich ein solches Geschenk und diese Einsichten wünschen, meine liebe Freundin. Ich möchte dich glücklich sehen, dein Leben zu etwas Ganzem geworden und die Aufgabe deines Lebens offenbart.“
„Mein Leben ist vollständig. Und ich weiß, welche Aufgabe ich habe.“
Hinter seinen Hauern lächelte er. „Wie ich schon erklärte: Nur du weißt, was richtig für dich ist. Aber lass mich dir eines sagen, aus tiefstem Herzen: Auf welchem Pfad du auch unterwegs bist, wohin immer er dich führen mag – ich für meinen Teil habe herausgefunden, dass diese Reise viel angenehmer ist, wenn man einen Lebensgefährten an seiner Seite hat.“
Jaina dachte an Kael’thas Sonnenwanderer und Arthas Menethil, und obwohl es ihr sonst eigentlich gar nicht ähnlich sah, überkam sie dabei ein Hauch von Verbitterung. Beide Männer waren so klug und wundervoll gewesen, und beide hatten sie geliebt. Den einen hatte sie respektiert und bewundert, die Liebe des anderen hatte sie in vollen Zügen erwidert. Doch dann waren beide dem Ruf der dunklen Mächte und den Schwächen ihrer eigenen Natur erlegen. Sie lächelte, allerdings ohne jede Leichtigkeit.
„Ich fürchte, ich habe kein glückliches Händchen, wenn es darum geht, einen Lebensgefährten zu wählen“, meinte sie, dann zwang sie ihre Verzweiflung und Trauer zurück und legte ihre kleine, blasse Hand in seine Pranke. „Aber bei der Wahl meiner Freunde habe ich mehr Glück.“
Die beiden saßen noch lange, lange nebeneinander.