19

Baine war ein Krieger. Seine Augen hatten mehr von den Schrecken des Krieges in Augenschein genommen, als die meisten verkraftet hätten. Er hatte Dörfer und Festungen und sogar seine Heimatstadt Donnerfels in Flammen gesehen, hatte Kämpfen beigewohnt, die mit Magie ausgetragen wurden, und solchen, in denen Klingen und Feuer und Muskeln über Sieg oder Niederlage entschieden. Er wusste, dass Zauber ebenso tödlich und brutal sein konnten wie die Wirkung von Eisen. Seine Stimme hatte den Befehl zum Angriff gegeben, und seine beiden Hände hatten viele Leben genommen. Doch das …

Der Nachthimmel war hier kein schwarzer Hintergrund vor dem trüben orangefarbenen Leuchten der Flammen, die Gebäude und Fleisch verschlangen, auch wenn einige Häuser während der vorherigen Schlacht tatsächlich Feuer gefangen hatten. Nein, heute war die Nacht von einem violetten Glühen erfüllt, das über der Stadt hing und dabei beinahe anheimelnd wirkte, etwa so wie Sonnenlicht auf Schnee. Oberhalb dieses trügerisch fröhlich wirkenden Leuchtens brannte der Himmel sein eigenes Feuerwerk ab. Grelle Blitzkeile zuckten in allen Farben des Regenbogens durch die Schwärze, und hier und da schienen diese gezackten Lichtstreifen in der Luft zu verharren, sich zu winden und zu drehen, nur um dann doch zu verschwinden und an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Die Horde war nahe genug gekommen, dass man das Donnern und Knistern hören konnte, als das Gewebe der Realität zahllose Male auseinandergerissen und anschließend wieder zusammengenäht wurde. Während sich das farbenprächtige Spektakel über den Himmel ausbreitete, musste Baine unwillkürlich an ein Naturschauspiel denken, das er selbst schon in Nordrend gesehen hatte. Nordlichter nannte man es, und so, wie ihn damals Ehrfurcht erfüllt hatte, erfüllte ihn auch jetzt Ehrfurcht, wenngleich sie mit fassungsloser, beinahe schon körperlich übelkeiterregender Abscheu vermischt war.

Der sanfte violette Glanz kündete von der Decke arkaner Energie, die sich auf Theramore gelegt hatte, und die Blutelfen, die die Manabombe eigens für diese Schlacht konstruiert hatten, standen nun bei den anderen Hordekämpfern, die Garroshs Plan bejubelten, und feierten die Verwüstung. Ihre Waffe war über einer ganzen Stadt explodiert und hatte deren Einwohnern und Bauwerken nicht einfach nur Schaden zugefügt, sondern sie vollständig ausgelöscht. Baine hatte schon zu oft gesehen, wie Freund und Feind Angriffen mit arkaner Magie zum Opfer fielen, um nun bei diesem Anblick irgendetwas anderes empfinden zu können als puren Zorn. Die Menschen, die die Explosion erfasst hatte, waren davongeschleudert worden, während die Magie sie Blutstropfen für Blutstropfen verzerrte und verwandelte. Auch die Gebäude waren von innen heraus verändert worden. So gewaltig, wie die Explosion gewesen war, hatte Baine keinen Zweifel, dass jede Kreatur, jeder Grashalm, jede Handvoll Erde dort drüben nun tot war – oder dass Schlimmeres geschehen war.

Hinzu kam: Die grausige Magie schien sich nicht zu verflüchtigen. Baine kannte sich nicht mit Zaubern aus, darum konnte er auch nicht sagen, wie lange dieses unheimliche violette Glühen wohl noch über der Stadt und den Gefallenen hängen würde, als wäre es ein Banner für Garroshs eiskalt kalkulierte Grausamkeit. Doch er war sicher, dass es sehr lange dauern würde, bis Theramore wieder bewohnbar wäre.

Tränen rannen an seiner Schnauze hinab, und er machte keine Anstalten, sie fortzuwischen. Rings um ihn drängten sich Gruppen von Kriegern, die jubelten. Als er sich aber umblickte, entdeckte er im Schein dieses unheimlichen, arkanen Glühens auch Gesichter, die ebenso schockiert und angewidert wirkten wie sein eigenes. Was war mit dem Kriegshäuptling geschehen, der gesagt hatte: „Ehre … ganz gleich, wie hoffnungslos die Schlacht auch ist, bewahrt stets eure Ehre!“? Wo war der Kriegshäuptling, der einen anderen Orc, Oberanführer Krom’gar, von einer Klippe in den Tod geschleudert hatte, nachdem dieser eine Bombe über unschuldigen Druiden abgeworfen und nichts als einen Krater zurückgelassen hatte? Die Parallelen waren geradezu unheimlich und trafen Baine bis ins Mark. Garrosh hatte sich von einem Anführer, der solche Morde verurteilte, in einen Anführer verwandelt, der solche Morde beging.

„Sieg!“, gellte der Kriegshäuptling, der auf den höchsten Hügelkamm einer kleinen Insel im Kanal geklettert war. Er hielt Blutschrei in die Höhe, und die scharfe Klinge der Waffe blitzte im violetten Licht über den versammelten Kriegern der Horde. „Zuerst habe ich Euch eine glorreiche Schlacht geschenkt, in der wir die Feste Nordwacht für uns eingenommen haben, dann habe ich eure Geduld auf die Probe gestellt, damit wir anschließend einen noch ehrenvolleren Kampf führen konnten – gegen die besten Kämpfer und die klügsten Köpfe der Allianz. Jeder von euch kann sich nun einen Veteran aus der Schlacht gegen Jaina Prachtmeer nennen, aus der Schlacht gegen Rhonin, aus der Schlacht gegen General Marcus Jonathan und Shandris Mondfeder! Und um unseren Sieg vollkommen zu machen, habe ich direkt unter der Nase der besten Magier dieser Welt ein Artefakt geraubt. Ein Artefakt, das mächtig genug ist, eine ganze Stadt zu zerstören!“

Er deutete auf Theramore, als würden seine Krieger nicht bereits alle wie gebannt auf dieses Bild unvorstellbarer Zerstörung starren. „Seht, was wir heraufbeschworen haben! Seht die Pracht der Horde!

Fiel es denn niemandem auf? Baine konnte es nicht verstehen. So viele, so unglaublich viele, schienen sich am Anblick der toten Stadt zu ergötzen, wo nun zahllose Tote lagen, die auf die schrecklichste und schmerzhafteste vorstellbare Weise ums Leben gekommen waren. Dabei schien sich die Horde nicht im Geringsten daran zu stören, dass man sie belogen und in eine Schlacht gegen Theramore geführt hatte, obwohl Garrosh von Anfang an über die nötigen Mittel verfügt hatte, um diesen Kampf zu gewinnen, ohne dass auch nur einer seiner Krieger zu Schaden kam. Baine war nicht sicher, was ihn mehr anwiderte.

Der Jubel klang ohrenbetäubend. Garrosh drehte sich herum, und dabei fing er Baines Blick auf. Eine ganze Weile starrte er ihn an, aber Baine wandte nicht die Augen ab, und schließlich verzog der Kriegshäuptling die Lippen zu einem höhnischen Grinsen, bevor er auf den Boden spuckte und davonstapfte. Die Woge der Triumphschreie folgte ihm.

Malkorok blieb jedoch noch auf dem Kamm stehen, und nach einer kurzen Weile fing er zu lachen an. Es begann leise und tief und verwandelte sich dann in ein wahnsinniges Gackern. Baines empfindliche Ohren klingelten ob dieses irren Gelächters, ob der Rufe, die das verursachte Leid bejubelten – und ob der Geräusche, die er nur in seinem Kopf hörte. Es waren die Geräusche einer ganzen Stadt, die vor Qualen aufschrie, bevor die Faust der Vernichtung gnadenlos auf sie herabsauste.

Baine Bluthuf konnte diesen Lärm nicht länger ertragen, ebenso wenig, wie er seinen Selbsthass noch weiter aushielt, weil er trotz allen Zögerns und aller Unwissenheit Teil dieser Zerstörung war. Der Oberhäuptling der Tauren presste sich die Hände auf die Ohren, drehte sich um und suchte in der feuchten Wärme des Sumpfes wenigstens nach der Illusion von Ruhe.


Der Morgen hatte keine Gnade mit den Ruinen von Theramore.

Ohne den Schleier der Dunkelheit war die schreckliche Verwüstung nur allzu deutlich zu sehen. Rauch kräuselte von den größtenteils bereits erloschenen Feuern empor, und die arkanen Anomalien, die während der Nacht noch für ein Lichtspektakel gesorgt hatten, entpuppten sich nun als Beweise geborstener Realitäten und Dimensionen. Hie und da konnte man sogar in andere Welten blicken. Felsen und Erdbrocken, die aus dem Boden gesprengt worden waren, schwebten in der Luft, allerdings auch Häusertrümmer und Waffen. Selbst Leichen drehten sich träge über dem Boden, als wären es groteske Puppen, die im Wasser trieben. Das ständige Knistern und Donnern ließ auch jetzt keine Sekunde nach.

Ghargas Blick schweifte über die Stadt, und seine Brust schwoll vor Stolz darüber an, dass er an dieser Schlacht beteiligt gewesen war. Gewiss wurden bereits Lok’tras über den glorreichen Kampf gegen die Allianz verfasst. Angeblich gab es zwar auch kritische Stimmen, die im Flüsterton Garroshs Entscheidungen infrage stellten – und Gerüchten zufolge stammten die meisten von ihnen aus den Reihen der Tauren und Trolle. Aber zumindest seine Orcs schienen ebenso erfreut über den Ausgang der Schlacht wie er, und auch das machte ihn stolz.

Er wartete auf der Brücke, während der Bote von Kriegshäuptling Höllschrei in einem Ruderboot zur Blut und Donner herübergebracht wurde. Als die Gestalt dann in dem kleinen Boot aufstand und behände die Strickleiter hinaufkletterte, erkannte Gharga, dass es nicht nur irgendein Orc war, sondern einer von Garroshs elitären Kor’kron. Und in diesem Augenblick streckte der Kapitän seine Brust stolz noch weiter vor.

Der Kor’kron salutierte vor ihm. „Kapitän Gharga“, sagte er. „Der Tag bricht über den Ruinen von Theramore an, und ich habe zwei Nachrichten für dich.“ Keiner der beiden Orcs konnte sich ein Lächeln verkneifen, als sie einander anblickten. „Eines ist eine persönliche Botschaft von Kriegshäuptling Garrosh, das andere sind deine neuen Befehle. Du, Kapitän, wirst während der nächsten Phase der Eroberung von Kalimdor eine entscheidende Rolle spielen.“

Ghargas Augen leuchteten vor Vergnügen, aber davon abgesehen ließ er sich nichts anmerken, als er den Kopf höflich neigte. „Ich lebe nur, um dem Kriegshäuptling und der Horde zu dienen.“

„So sieht es in der Tat aus, und diese Art von Loyalität bleibt nicht unbemerkt. Ich habe Anweisung, hier zu warten, während du deine Befehle durchliest, und dann mit deiner Antwort zu Garrosh zurückzukehren.“

Gharga nickte und entrollte die zweite Schriftrolle. Als seine Augen die kurze Nachricht überflogen, konnte er seine Freude nicht länger zurückhalten. Garrosh war kein Großmaul, hinter dessen Worten nur heiße Luft steckte. Er hatte sein Versprechen gehalten und Theramore zerstört, und zwar auf eine Weise, so dramatisch und unglaublich, dass selbst seine treuesten Gefolgsleute davon überwältigt waren. Die Flotte der Horde, die nun im Hafen der Stadt versammelt war, sollte wieder auf das Meer hinaussegeln und eine Blockade um den Kontinent bilden. Sie würden nicht nur verhindern, dass jemand Verstärkung nach Theramore schickte, nein, denn dann würde auch Lor’danel von jeder Hilfe abgeschnitten werden, ebenso wie die Mondfederfeste, Rut’theran und die Azurmythosinsel.

Ghargas erste Station würde die Mondfederfeste sein. Von dort aus sollte er seine schnellsten Boten nach Orgrimmar schicken, damit auch die Orcs in der Hauptstadt erfuhren, dass der Triumph der Horde alle Vorstellungen gesprengt hatte. Sie sollten außerdem dafür sorgen, dass bis zu Garroshs Rückkehr die größte Siegesfeier vorbereitet wurde, die es je im Reich der Horde gegeben hatte.

Nachdem er die Schriftrolle wieder aufgerollt hatte, sagte er voller Zuversicht: „Melde deinem Kriegshäuptling, dass ich seine Befehle verstanden habe! Die Flotte wird binnen Stundenfrist lossegeln, um sie zu befolgen. Ich bin sicher, dass – wenn ich die Nachricht in Orgrimmar verkünde – Garrosh den Jubel noch hier wird hören können.“


Das Erste, was Jaina registrierte, als sie das Bewusstsein wiedererlangte, war der Schmerz. Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern, warum ihr alles wehtat, aber jeder Tropfen Blut, jeder Muskel, jeder Nerv und jeder Millimeter Haut schien in eisigen Flammen zu stehen. Die Augen noch immer geschlossen, ächzte sie leise und rollte sich herum, doch nur, um laut zu stöhnen, als die Schmerzen schlimmer wurden. Selbst ihre Lungen mit Luft zu füllen war eine Qual, und ihr Atem fühlte sich seltsam kühl an, als er ihren Lippen entfloh.

Sie schlug die Augen auf und blinzelte. Nachdem sie sich aufgesetzt und den Sand von ihrem Gesicht gewischt, die Zähne gegen den Schmerz zusammengebissen hatte, versuchte sie, sich zu erinnern. Etwas war geschehen … etwas unbeschreiblich Schreckliches. Und kurz klärten sich ihre Gedanken weit genug, um ihr zu sagen, dass es besser für sie wäre, sie würde sich gar nicht erst an dieses Ereignis erinnern.

Ein plötzlicher Windstoß blies ihr das Haar vors Gesicht. Instinktiv hob sie die Hand, um es beiseitezustreichen, aber dann erstarrte sie mitten in der Bewegung und blickte fassungslos diejenige Strähne an, die da zwischen ihren Fingern gefangen war.

Ihr Haar war stets blond gewesen. „Die Farbe des Sonnenscheins“, wie ihr Vater gesagt hatte, als sie noch ein Kind gewesen war.

Jetzt war es so weiß wie der Mondschein.

Kurz schwankte sie am Rand der vollständigen Erinnerung, und plötzlich überkam sie Angst. Sie wollte wirklich nicht wissen, was geschehen war. Doch dann kippte sie über den Abgrund.

Meine Heimat … mein Volk …

Unsicher stand sie auf, wenngleich ihr Körper dabei heftig zitterte. Von den anderen, die sie begleitet hatten, war nichts zu sehen. Sie war allein … allein mit dem Anblick, gegen den sie sich nun wappnete.

Als sie schließlich glaubte, bereit zu sein, drehte sie sich herum. Der Himmel hing in Fetzen vor ihr. Es war später Morgen, aber durch die Risse konnte Jaina Sterne sehen. Arkane Anomalien blitzten auf und verschwanden wieder, bunte Farbflecken, die durch ihre tränengefüllten Augen wie offene Wunden und hässliche Blutergüsse aussahen und spöttisch über den Ruinen tanzten, wo sich einmal eine stolze Stadt erhoben hatte.

Ein Schatten fiel über sie, doch sie war benommen, von Übelkeit geplagt, und es wollte ihr einfach nicht gelingen, die Augen von dem Schrecken abzuwenden. Ihr war gleich, was da neben ihr vom Himmel sank, bis eine Stimme durch die Trance schnitt.

„Jaina?“

Es war eine erschöpfte Stimme, in der Schmerz und Sorge mitschwangen, aber auch Wärme, und sie hörte das Knirschen von Stiefeln im Sand, als er zu ihr herübereilte.

Langsam wandte sie sich zu Kalec herum. Durch die Tränen, die ihr in den Augen standen, erkannte sie, dass er eine Hand an seine Seite drückte, und auch wenn sie kein Blut sah, wirkte er doch blass und ausgelaugt. Trotzdem fand er die Kraft, leicht humpelnd auf sie zuzurennen. Als er bis auf ein paar Schritte herangekommen war, bemerkte er die Veränderung in ihrem Aussehen – und sie bemerkte seine Reaktion darauf.

Er streckte die Arme nach ihr aus, gerade als die Beine unter ihr wegknickten, und bevor sie zusammenbrechen konnte, fing er sie auf und drückte sie an seine Brust. Sie schaffte es, ihre Hände nach oben zu schieben und sie fest um seinen Nacken zu schließen. Dann vergrub sie ihr Gesicht an seinem Hals. Er hielt sie ebenso innig wie sie ihn, eine Hand an ihrem Hinterkopf, seine Wange auf ihrem nunmehr weißen Haar, und als sie sich einen langen, wortlosen Augenblick so umklammert hielten, spürte Jaina seinen leisen Trost.

„Tot“, murmelte sie mit einer Stimme, die vor Schmerz und Schock rau klang. „Alle sind tot, alles ist zerstört – wir haben so hart gekämpft, so tapfer, und wir hätten gewonnen, Kalec, wir hätten gewonnen …“

Er drückte sie noch fester an sich, versuchte gar nicht erst, sie mit Worten zu beruhigen. Es gab keine Worte, die ihr jetzt Trost spenden konnten, und sie war froh, dass er das erkannte.

„Mein Königreich – all die Generäle … Machthieb, Tiras’alan, Aubrey, Rhonin, oh, der herzensgute, liebe Rhonin – warum hat er es getan, Kalec? Warum hat er mich gerettet? Ich bin doch diejenige, die für all das die Verantwortung trägt!“

Nun sagte der Drache doch etwas, wobei er den Kopf nach hinten bog, um ihr tief in die Augen blicken zu können. „Nein“, erklärte er, seine Stimme war scharf und voller Entschlossenheit. „Nein, Jaina. Nichts davon ist Eure Schuld. Macht Euch keine Vorwürfe! Wenn es jemandes Fehler ist, dann meiner – und der meines Schwarms. Schließlich haben wir zugelassen, dass diese verfluchte Fokussierende Iris überhaupt erst gestohlen wurde. Die Explosion – Ihr hättet nichts dagegen ausrichten können. Niemand wäre in der Lage gewesen, das noch zu verhindern. Die Manabombe zehrte von der Energie der Iris. Ich war weiter von der Detonation entfernt als die meisten anderen, aber selbst mich hat die Wucht vom Himmel gefegt. Glaubt mir, es gibt nichts, was Ihr hättet tun können – was irgendjemand hätte tun können.“

Eine starke Hand schloss sich um die ihre, als sie dicht beisammenstanden, und sie klammerte sich daran fest, als wäre sie ein Rettungsring. Vielleicht war sie das auch. Dennoch erkannte sie, was sie nun tun musste.

„Ich werde zurückgehen“, erklärte sie mit belegter Stimme. „Es … könnte Überlebende geben. Vielleicht kann ich ihnen helfen.“

Seine blauen Augen weiteten sich. „Jaina, nein! Bitte! Es ist nicht sicher.“

„Sicher?“ Das Wort barst förmlich zwischen ihren Lippen hervor, und sie wand sich in seinen Armen, als sie versuchte, sich loszureißen. „Sicher? Wie könnt Ihr von meiner Sicherheit sprechen, Kalec? Das ist – war – mein Königreich. Das waren meine Leute. Ich bin es ihnen schuldig nachzusehen, ob ich vielleicht etwas tun kann.“

„Jaina“, sagte Kalec und trat beschwörend einen Schritt auf sie zu. „Dieser Ort ist von arkaner Magie erfüllt. Ihr konntet zwar entkommen, aber die Kräfte haben Euch bereits …“

„Ja“, schnappte sie. Der Schmerz in ihrem Herzen war inzwischen weit schlimmer als der in ihrem Körper. „Was haben diese Kräfte mit mir gemacht, Kalec?“

Er zögerte, und als er sprach, war seine Stimme völlig ruhig. „Euer Haar ist weiß geworden. Aber eine einzelne blonde Strähne ist noch übrig. Und Eure Augen … sie glühen ebenfalls weiß.“

Jaina starrte ihn an, während sich ihr der Magen umdrehte. Falls die Explosion schon so viele sichtbare Veränderungen bewirkt hatte, was mochten dann erst die unsichtbaren Konsequenzen sein? Einen Moment lang presste sie die Hand über ihr Herz, als könnte sie den verzehrenden Schmerz auf diese Weise von dort verdrängen.

Kalec fuhr fort: „Ich weiß, Ihr wollt etwas unternehmen, Euren Leuten helfen. Aber es ist niemand mehr übrig, Jaina. Ihr würdet Euch selbst nur noch größerer Gefahr aussetzen. Es gibt andere Dinge, die wir tun können. Später, wenn es sicherer ist, werden wir gemeinsam zurückkehren und …“

„Es gibt kein wir, Kalec“, unterbrach sie ihn verbittert. Der Schmerz, der sein hübsches Gesicht bei diesen Worten verzerrte, ließ ihre eigenen Qualen nur noch unerträglicher werden, aber nun begrüßte sie den Schmerz. Sie wollte leiden, denn nur ihr Leid konnte das Gefühl erträglicher machen, dass sie jetzt allein war. Von all den Seelen, die in Theramore gewesen waren, um ihr zu helfen, hatte nur sie überlebt. Auf eine harte, brutale Weise fühlte sich der Schmerz in dieser Situation gut an, reinigend. „Es gibt nur mich – und meine Entscheidungen – und meine Verantwortung für die Leichen dort drüben. Ich werde nachsehen, ob ich vielleicht noch irgendetwas tun kann. Falls ich dadurch auch nur ein einziges Leben rette, ist es das Risiko wert. Und ich werde allein gehen. Ich war schon immer eine Einzelgängerin. Also folgt mir nicht!“

Rasch sprach sie einen Teleportationszauber. Hinter sich hörte sie noch, wie er ihren Namen rief. Aber sie weigerte sich, ihre Tränen zu vergießen.

Sie schmerzten sie mehr, wenn sie in ihrem Inneren gefangen blieben.


Jaina hatte geglaubt, dass sie auf das vorbereitet wäre, was sie zu sehen bekäme. Doch das war ein Irrtum gewesen. Nichts konnte einen gesunden Geist auf das vorbereiten, was die Manabombe in Theramore angerichtet hatte.

Das Erste, was ihr auffiel, war der Turm – oder besser, die Stelle, wo er einst gestanden hatte. Fort war das wunderschöne weiße Steinbauwerk, in dem sich ihre umfassende Bibliothek und ihr gemütlicher Salon befunden hatten. An seiner Stelle befand sich nur noch ein rauchender Krater, der auf grausige Weise der Vertiefung im Vorgebirge des Hügellandes ähnelte. Doch es gab einen Unterschied: Jener Krater war entstanden, als eine Stadt vor dem Krieg floh, dieser hingegen war das Ergebnis von Rhonins verzweifeltem Versuch, eine Katastrophe abzuwenden. Ein Versuch, der ihn das Leben gekostet hatte.

Sie war von Tod umgeben, er überflutete sie förmlich, und sie drohte davon überwältigt zu werden. In den Reihen zertrümmerter Häuser, von denen keines mehr unversehrt geblieben war, sah sie den Tod. Im Durcheinander des Himmels, der von Anomalien zerrissen war: Tod. Tod auch im Boden, den sie unter ihren Füßen spürte. Doch am deutlichsten war der Tod in den Leichen, die ringsherum um sie lagen, wo immer sie gefallen waren.

Heiler, verkrümmt, die Verwundeten noch immer in ihren Armen. Reiter und Pferde, im Tod ebenso eng miteinander verbunden wie im Leben. Soldaten, die keine Gelegenheit gehabt hatten, ihre Schwerter zu zücken, so schnell und unausweichlich war der Angriff gekommen. Die Luft knisterte, knackte und summte und ließ ihr weißes Haar sich aufstellen, als sie wie ein Traumwandler dahinschritt und sich vorsichtig zwischen den Ruinen ihres Lebens hindurchmanövrierte.

Mit einem seltsamen Gefühl der Teilnahmslosigkeit betrachtete sie die Dinge, die die Manabombe wie willkürlich umhergewirbelt hatte. Da drüben lag ein Kamm, dort hinten eine abgetrennte Hand. Am Rande des Kraters flatterten die Seiten eines Buches. Eine der Seiten war durch die Wirkung der Bombe zu Staub zerrieselt, als Jaina die Hand danach ausstreckte. In der Nähe der Waffenkammer lag ein Soldat in einer Lache roten Blutes … drei Schritte weiter hing ein zweiter Toter auf Augenhöhe, und aus einem Riss in seiner Rüstung schwebten kleine Blasen einer violetten Flüssigkeit nach oben.

Als ihr Fuß auf etwa Weiches trat, sprang sie unwillkürlich zurück und blickte nach unten. Es war eine Ratte, deren Körper in einem lila Leuchten aufglühte, in ihrem Maul hing noch immer ein Stück ganz gewöhnlichen Käses. Kalecs Warnung, dass niemand die Explosion hätte überleben können, hallte in ihrem Kopf wider. Noch nicht einmal die Ratten, so schien es, waren in der Lage gewesen, sich zu retten …

Jaina schüttelte den Kopf. Nein. Nein, irgendjemand musste doch überlebt haben … es war völlig unmöglich, dass schlichtweg alles und jeder vernichtet worden war. Mit grimmiger Entschlossenheit ging sie weiter und durchsuchte die Trümmer, wo es nur möglich war. Dabei hielt sie immer wieder inne und lauschte, in der Hoffnung, eine Stimme zu hören, die über das Knistern und Summen des zerfetzten Himmels hinweg um Hilfe schrie. Nach einer Weile entdeckte sie die Leidende; sie war über dem Körper des Orcs zusammengebrochen, den sie noch im Augenblick des Todes erschlagen hatte. Jaina kniete sich neben die Kriegerin und strich ihr langes dunkelblaues Haar zurück, doch dann zerbrachen die Haare wie gesponnenes Glas. Jaina keuchte. Die Leidende hatte den Tod mit dem Schwert in der Hand gefunden, mit dem vertrauten, entschlossenen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie war so gestorben, wie sie gelebt hatte, bei der Verteidigung von Jaina und Thermore.

Der Schmerz, bislang durch das Grauen betäubt, regte sich wieder in ihr, kribbelnd wie ein eingeschlafenes Bein, doch Jaina zwang ihn nieder und ging weiter. Dort lag der liebgewonnene Aubrey, daneben fand sie Marcus Jonathan, Tiras’alan und die beiden Zwerge. Auf einem der eingestürzten Dächer entdeckte sie den verkrümmten Körper von Leutnant Aden, dessen glänzende Rüstung durch die Explosion violett verfärbt war.

Plötzlich war Jainas Kopf wieder klar, ihre Gedanken schienen ihr vernünftig.

Du solltest aufhören. Kalec hatte recht. Verschwinde von hier, Jaina! Du hast genug gesehen, um sicher sein zu können, dass niemand überlebt hat. Geh! Jetzt gleich. Bevor du zu viel siehst.

Doch sie konnte nicht. Sie hatte die Leidende gefunden, also musste sie die anderen auch noch finden. Tervosh, der schon so lange ihr Freund war – wo konnte er sein? Und wo war Byron, die Wache, und Allen, der Priester, und Janene, die Gastwirtin, die darauf bestanden hatte, in der Stadt zu bleiben? Wo waren sie? Wo waren –

Der Leichnam erweckte zunächst ihre Aufmerksamkeit, weil er aussah wie ein Kind. Doch sie hatten alle Kinder in Sicherheit gebracht! Wer …

Da wurde es ihr klar.

Einen Moment lang stand sie reglos, kaum in der Lage zu atmen, unfähig, den Blick abzuwenden, auch wenn sie nichts lieber getan hätte. Anschließend bewegten sich ihre Füße mit langsamen, abgehackten Schritten auf die Tote zu, beinahe ohne Jainas Zutun, wie es schien.

Kinndy lag mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze ihres eigenen Blutes. Das Karmesinrot hatte ihr rosafarbenes Haar befleckt und ihm seinen Glanz genommen. Jaina erkannte, dass sie das Gnomenmädchen am liebsten in eine Wanne heißen Wassers gesetzt hätte, damit es sich waschen konnte, und dann wollte sie ihm frische Kleider bringen und …

Sie fiel auf die Knie und legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter, um es auf den Rücken zu drehen. Da zerfiel Kinndys Körper zu violett schimmerndem Staub.

Jaina schrie.

Sie schrie voll unbeschreiblichen Grauens, während sie wie wild mit den Armen wedelte, um den kristallinen Staub einzufangen, der alles war, was ihr noch von ihrer schlauen, lebhaften jungen Schülerin blieb. Sie schrie ihren Verlust hinaus, ihre Trauer, ihre Schuldgefühle und immer und immer stärker auch ihren Hass.

Den Hass auf die Horde. Auf Garrosh Höllschrei, auf diejenigen, die ihm folgten. Hass auch auf Baine Bluthuf, der sie zwar gewarnt, es aber dennoch zugelassen hatte, dass diese Grausamkeit ihren Lauf nahm. Der vielleicht sogar gewusst hatte, dass dies hier geschehen werde. Ihr Schrei verwandelte sich in ein tiefes, heiseres Schluchzen, das ihr den Hals zu zerreißen schien. Noch immer schaufelte sie den violetten Sand vom Boden, um Kinndy festzuhalten. Und als der Staub hartnäckig durch ihre Finger rann, wurde das Schluchzen noch verzweifelter.

Das war kein Krieg. Das war nicht einmal ein Blutbad. Das war die völlige Vernichtung, bequem aus der Entfernung ausgelöst. Ein Massenmord, wie er in Jainas Augen brutaler und feiger nicht sein konnte.

Da blitzte etwas auf der toten Erde vor ihr auf, als wäre es ein Leuchtsignal. Sie starrte es einen Moment an, dann stemmte sie sich langsam und unsicher auf die Füße. Sie stolperte, wie eine Betrunkene schwankend, auf dieses merkwürdige Licht zu.

Die Scherbe silbrigen Glases war nicht größer als ihre Handfläche, und als Jaina sie aufhob, dauerte es eine Weile, bis sie durch den Schleier des Schocks hindurch erkannte, um was es sich eigentlich handelte. Doch dann traf sie erneut der Stich des Schmerzes. Viele Erinnerungen stellten sich ein – Anduins fröhliches Gesicht, als er sich mit ihr unterhielt; Varians narbenverzerrte Züge; Kalec, der in der Ecke des Raumes stand, während sie den Spiegel benutzte; Rhonin …

Aus den Augenwinkeln schnappte sie eine Bewegung auf – und wirbelte herum, wider alle Vernunft hoffend, dass vielleicht doch jemand überlebt hatte.

Sie waren groß, die Haut unter ihren Rüstungen schimmerte grün. Da waren mindestens fünfundzwanzig von ihnen, vielleicht sogar dreißig, allesamt Orcs, die eifrig zwischen den Trümmern herumwühlten. Einer von ihnen steckte gerade etwas in seinen Sack, danach wandte er sich an die anderen, und nachdem er etwas Unverständliches gesagt hatte, übertönte raues Orcgelächter die unablässigen, reißenden und ploppenden Geräusche des Himmels.

Jaina ballte die Fäuste, obwohl sie in einer davon noch immer die Spiegelscherbe hielt. Doch sie bemerkte den Schmerz kaum, als das Glas ihre Finger und ihre Handfläche aufschlitzte.

Es dauerte eine ganze Minute, doch dann erkannte einer der Orcs sie schließlich, wie sie inmitten der Verwüstung stand. Er verzog die grünen Lippen hinter seinen gelben Hauern zu einem Grinsen und stieß seine Kameraden an. Der Größte von ihnen, der auch die beste Rüstung trug, grunzte. Unzweifelhaft war es der Anführer dieser kleinen Bande von Plünderern, die der Feigling Garrosh geschickt hatte, um sicherzustellen, dass auch wirklich alle seine Feinde tot waren. Dann rief er etwas in der Gemeinsprache, wenn auch mit starkem Akzent.

„Kleine Menschenlady, keine Ahnung, wie du überlebt hast, aber wir werden diesen Fehler korrigieren.“

Daraufhin zogen sie alle ihre Waffen – Äxte, Breitschwerter und Messer, die nur dumpf schimmerten, weil ihre Klingen mit Gift eingeschmiert waren. Jaina spürte, wie sich ihre eigenen Lippen zu der Grimasse eines Grinsens verzogen. Die Orcs starrten sie an, sichtlich verwirrt ob ihrer unerwarteten Reaktion, bis ihr Anführer lachte. „Wir dürfen Jaina Prachtmeer töten!“, sagte er.

„Bringen wir Kriegshäuptling Garrosh ihren Kopf!“, grollte ein anderer.

Garrosh.

Jaina würdigte sie nicht einmal einer Entgegnung, stattdessen ließ sie die Spiegelscherbe fallen und hob die Hände. Eine Woge arkaner Energie, noch verstärkt durch die Nachwehen der Manabombe, traf die Gruppe der Orcs. Sie taumelten nach hinten, zitternd und geschwächt. Einem von ihnen entglitt der Dolch zwischen den zuckenden Fingern, während er um sein Gleichgewicht kämpfte. Aber die stärkeren unter den Orcs schüttelten den magischen Schlag ab, und nachdem sie ihre Waffen wieder erhoben hatten, stürmten sie auf Jaina los.

Ein Schmunzeln huschte über das Gesicht der Lady von Theramore, und einen Moment später erstarrten ihre Gegner im wahrsten Sinne des Wortes mitten in der Bewegung, ihre Beine waren in einem Panzer aus Eis gefangen. Jainas Finger tanzten durch die Luft und woben einen Zauber. Aus dem Nichts erhob sich zwischen ihren Händen Feuer, dann schoss es als gleißender Ball auf die Orcs zu. Sechs von ihnen, die noch von der ersten Woge arkaner Energie geschwächt waren, erlagen dem Spruch sofort. Sie hatten kaum noch Zeit zu einem letzten Schrei, als sie bei lebendigem Leibe verbrannten. Zehn weitere trugen schwerste Brandwunden davon und krümmten sich vor Schmerz; auch sie würden nicht mehr lange leben. Sekunden später hatte der Zauber seine Wirkung verloren, und die Orcs, die noch auf den Beinen standen, kamen noch immer näher, wenn nun auch deutlich vorsichtiger.

Da hüllte ein Kegel aus gefrorener Luft sie ein. Ihre Bewegungen verlangsamten sich, als würden sie durch Schlamm waten, und Jaina fällte vier weitere mit Feuerbällen. Ihre Opfer gingen sofort zu Boden, und nach einem weiteren arkanen Energiestoß, der Jaina nicht die geringste Mühe kostete, waren plötzlich nur noch zehn Orcs übrig.

Sechs von ihnen konnten sich nur mit Mühe auf den Beinen halten, die vier anderen waren größtenteils unverletzt geblieben. Doch da schoss erneut Feuer von ihren Fingern, und nun brachen alle zehn in sich zusammen. Mit einem letzten Stoß arkaner Energie besiegelte Jaina ihr Schicksal.

Als sie die Hände schließlich wieder senkte, während der Schweiß das Haar an ihr Gesicht klebte, rührte sich keiner ihrer Feinde mehr – bis auf einen. Seine Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, als er krächzend um Atem rang, und sein Körper zitterte und schüttelte sich unter Krämpfen.

Jaina bückte sich und hob die Spiegelscherbe auf, ohne auf das Stück Glas hinabzublicken. Langsam, mit steifen Bewegungen stieg sie über die Leichen hinweg, ohne darauf zu achten, wenn sie auf einen der leblosen Körper trat. Ein eisiges Gefühl des Vergnügens stieg in ihr hoch, als sie sich dem einzigen Überlebenden näherte.

Er hustete, wobei rotschwarzes Blut aus seinem hauerbewehrten Maul floss. Der Großteil seines Körpers war von Verbrennungen bedeckt, der Kettenpanzer auf seiner Haut geschmolzen. Er musste schreckliche Schmerzen leiden, überlegte Jaina.

Gut.

Sie beugte sich über den Orc, sodass ihr Gesicht dicht über seinem hing und sie seinen fauligen Atem riechen konnte, als er nach Luft schnappte. Er blickte zu ihr hoch, seine winzigen Augen hatten sich vor Angst geweitet – Angst vor Jaina Prachtmeer, der Freundin der Orcs, der Diplomatin.

„Dein Volk besteht aus erbärmlichen Feiglingen“, zischte sie. „Ihr seid nichts weiter als tollwütige Hunde, man sollte euch alle töten. Ihr spuckt auf das Gebot der Gnade? Dann sollt auch ihr keine erfahren. Ihr wollt ein Blutbad? Ihr werdet so viel Blut bekommen, dass ihr darin ertrinkt.“

Die Worte verwandelten sich in einen wilden Schrei, und sie rammte die Glasscherbe in den schmalen Spalt zwischen dem Ringkragen und dem Schulterpanzer des Hordekämpfers. Blut spritzte aus der Wunde und besprenkelte ihr Gesicht.

Der sterbende Orc versuchte noch, sich wegzurollen, aber sie hielt seinen Kopf mit ihren Händen fest und zwang ihn, sie anzusehen, während das Leben mit jedem Herzschlag aus seinem Körper herausströmte. Erst als er schließlich völlig still dalag, stand sie auf. Die Scherbe des Spiegels ließ sie in seinem Hals stecken.

Anschließend setzte sie ihre grimmige Expedition durch das Trümmermeer fort, in das die Horde Theramore verwandelt hatte, und bei jeder Facette der Zerstörung, die sie sah, schlugen die Flammen der kalten Wut in ihrem Inneren höher. Der Hafen war vollständig verschwunden, aber während ihr Blick dort über die Ruinen glitt, fühlte sie sich merkwürdigerweise besser als in der Nähe des Kraters, wo …

Sie blinzelte. Sie wollte es nicht, aber ihr Körper zwang sie, kehrtzumachen und zu der Stelle zurückzugehen, wo sich ihr Turm befunden hatte. Das Prickeln, an dem sich die Konzentration der arkanen Energie messen ließ, war hier stärker. Gewiss, die ganze Stadt war in diese Restenergie gehüllt, aber sie spürte, dass sie sich nun dem Brennpunkt der Katastrophe näherte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ebenso wie ihre Schritte. Dann schloss sie kurz die Augen. Sie wollte nicht in den Krater blicken, wusste aber, dass sie es tun musste.

Was sie sah, war ebenso schlicht wie wunderschön – eine einfache glühende Kugel, die vor arkaner Energie pulsierte. Sie wirkte zerbrechlich, doch sie hatte die Explosion, die eine gesamte Stadt in Asche verwandelt hatte, ohne den kleinsten Kratzer überstanden.

Kalecgos hatte nicht übertrieben, was die Macht dieses Artefakts anging – und auch nicht, was die Zerstörung betraf, die es in den falschen Händen anrichten konnte. Bei diesem Gedanken bohrte sich erneut der Stachel der Trauer in Jainas Seele. Sie hatte das Gefühl, die arkane Energie würde hier, in der Nähe der Kugel, fast schon körperlich spürbar um sie herumwallen. Ihre Haare stellten sich auf, und kurz schmerzten auch ihre Augen. Als dieses Stechen nachließ, wusste Jaina instinktiv, dass ihre Augen nun heller leuchteten als noch zuvor. Zielbewusst begann sie, in den Krater hinabzuklettern. Rhonins Überreste waren nirgendwo zu sehen. Es schien, als wäre es ihm gelungen, die Bombe zu sich heranzuziehen, und alles, was jetzt noch von ihm übrig war, bestand in seinen beiden Kindern, einer trauernden Witwe – sofern Vereesa weit genug von der Stadt entfernt gewesen war, um die Explosion zu überleben – und seinem Andenken. Ein bitterer Geschmack breitete sich in Jainas Mund aus, als dieser Gedanke durch ihren Kopf kroch. Er war gestorben, weil er sie hatte retten wollen, und sie würde nicht zulassen, dass dieser Tod umsonst gewesen war.

Schließlich erreichte sie den Grund der Vertiefung. Die Fokussierende Iris war mindestens doppelt so groß wie sie, und vermutlich auch ziemlich schwer. Jaina könnte dennoch mit ihr von hier verschwinden, wenn sie ein Portal benutzte. Aber erst einmal musste sie herausfinden, wie sie das Artefakt vor Kalecgos verbergen konnte. Die Lösung dieses Problems erschloss sich ihr schon nach kürzester Zeit. Kalec kannte sie inzwischen gut, so gut sogar, dass er sich um sie sorgte. Jaina bückte sich, um ihre Hand auf die Iris zu legen, dann, als sie das sanfte Vibrieren der Energie spürte, erfüllte sie es kühl und berechnend mit ihrem tiefsten Selbst. Sie umgab es mit ihren größten Stärken und Schwächen, sodass der Drache nur sie spüren würde, wenn er nach der Fokussierenden Iris suchte. Ja, sie wollte seine Gefühle für sie ausnutzen, um ihn zu täuschen. Als einzige Überlebende und Herrscherin von Theramore beanspruchte Jaina Prachtmeer die Fokussierende Iris für sich.

Die Horde wollte also einen Krieg. Sie hatte sich die größte Mühe gegeben, um ihren Feind zu zermalmen.

Nun, dann sollten sie eben einen Krieg bekommen. Jaina würde ihnen diesen Wunsch erfüllen.

Mit Vergnügen.

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