5

Sanft, aber beharrlich bahnte sich das Licht der Morgenröte einen Weg durch die Spalten in den Vorhängen von Jainas Schlafgemach. Doch sie war daran gewöhnt, um diese Zeit aufzustehen, und so blinzelte sie mit einem verschlafenen Lächeln und streckte ihre Glieder. Anschließend schwang sie die Beine aus dem Bett, stand auf, um sich eine Robe überzuwerfen, und zog die dunkelblauen Vorhänge zurück.

Es war ein wundervoller Morgen, rosa, golden und lavendelfarben, denn die Sonne hatte die Schatten der Nacht noch nicht gänzlich vertrieben, und als sie das Fenster öffnete und die salzige Luft tief einatmete, brachte der Wind ihr vom Schlaf zerzaustes Haar noch ein wenig mehr durcheinander. Das Meer, immer das Meer. Sie war die Tochter eines Lordadmirals, und ihr Bruder hatte einmal gescherzt, dass in den Adern der Familie Prachtmeer Salzwasser fließe. Ein Schleier der Melancholie fiel über sie, als sie an ihren Vater und ihren Bruder dachte. Einen Moment lang blieb sie noch an dem offenen Fenster stehen, in Erinnerungen versunken. Dann wandte sie sich um.

Nachdem sie ihr Haar gekämmt hatte, setzte sie sich an einen kleinen Tisch. Hier entzündete sie durch ihre Gedanken eine Kerze und starrte dann in die flackernde Flamme. Sie begann jeden Tag auf diese Weise, falls sie Zeit dafür hatte; es half ihr, sich zu konzentrieren und sich auf all die Herausforderungen vorzubereiten, die die Welt heute für sie bereithalten …

Ihre blauen Augen weiteten sich, und mit einem Mal war sie hellwach. Etwas würde geschehen. Sie erinnerte sich an das Gespräch, das sie gestern Abend mit Kinndy geführt hatte (das Gnomenmädchen schlief sicher noch – sie hätte ebenso gut als Nachtelfin geboren sein können, so lange, wie sie immer aufblieb) – an das, was ihre Schülerin über den Besuch in Dalaran gesagt hatte, und an ihr besorgtes Gesicht nach diesen Worten. Es ist nur – ich hatte das Gefühl, etwas in Dalaran würde nicht stimmen. Man konnte es in der Luft spüren.

Jaina spürte nun ebenfalls etwas, so wie ein alter Seemann, der es in seinen Knochen fühlt, wenn ein Sturm heraufzieht. Da war ein vages Zittern der Vorahnung in ihrer Brust. Ihr morgendliches Ritual würde warten müssen. Rasch badete sie und zog sich an, und als einer ihrer vertrautesten Berater, der Erzmagier Tervosh, an der Tür klopfte, war sie bereits unten und hatte Tee gemacht. Im Gegensatz zu Kinndy hatte er keine offiziellen Bande mit den Kirin Tor; er war lieber auf sich allein gestellt, so wie Jaina, und während ihrer Zeit in Theramore war zwischen den beiden Einzelgängern eine tiefe und bereichernde Freundschaft entstanden.

„Lady Jaina“, begrüßte er sie. „Ich – nun – da ist jemand, der dich sehen möchte.“ Dabei machte er keinen sehr glücklichen Eindruck. „Er will seinen Namen nicht nennen, aber er hatte diesen Geleitbrief von Rhonin. Ich habe ihn bereits überprüft; er ist echt.“

Er reichte ihr die Schriftrolle, die mit dem vertrauten Augensymbol der Kirin Tor versiegelt war. Als Jaina das Siegel gebrochen hatte und zu lesen begann, erkannte sie sofort Rhonins Handschrift.

Werte Lady Jaina,

ich bitte Euch, diesem Mann zu geben, was immer er benötigt. Seine Aufgabe ist von erschreckender Wichtigkeit, und er braucht alle Unterstützung, welche wir, die wir die Magie beherrschen, ihm nur bieten können.

– R.

Jaina atmete schwer aus. Was ging hier vor, dass Rhonin solch drastische Worte wählte?

„Führ ihn herein“, sagte sie. Tervosh, der so bestürzt dreinschaute, wie Jaina sich fühlte, nickte und zog sich zurück. Während sie wartete, schenkte sie sich eine Tasse Tee ein und nippte nachdenklich daran. Einen Augenblick später trat ein Mann mit einem Mantel in den Salon, die Kapuze tief vors Gesicht gezogen. Er trug schlichte Reisekleidung, die allerdings keine der Spuren aufwies, wie man sie nach einer so langen Strecke erwarten könnte. Ein blauer Umhang aus edlem Stoff flatterte bei seinen geschmeidigen, schnellen Bewegungen hinter ihm her, als er sich verbeugte und dann wieder aufrichtete.

„Lady Jaina“, begann er mit höflicher Stimme. „Verzeiht, dass ich Euch zu so früher Stunde und ohne Ankündigung aufsuche. Ich wünschte, meine Ankunft hier hätte unter besseren Umständen stattfinden können.“

Mit diesen Worten zog er die Kapuze zurück, die seine Züge bislang verborgen hatte, und warf ihr ein verunsichertes Lächeln zu. In seinem Gesicht vermischten sich die besten Eigenschaften von Mensch und Elf, eingerahmt von blauschwarzem Haar, das bis auf seine Schultern herabfiel, mit blauen Augen, die vor Entschlossenheit leuchteten.

Sie erkannte ihn sofort. Ihre Augen weiteten sich, die Tasse entglitt ihren Fingern und zersprang auf dem Boden.

„Oh, das ist meine Schuld“, sagte Kalecgos, der einstige Aspekt des blauen Drachenschwarms, rasch. Er machte eine Handbewegung, und der verschüttete Tee verschwand, während die Tasse sich wieder zusammensetzte und leer in Jainas Hand zurückkehrte.

„Danke“, brachte sie hervor, gefolgt von einem leicht schiefen Lächeln. „Da Ihr mich außerdem der Möglichkeit beraubt habt, mich auf gebührende Weise vorzustellen, lasst mich Euch wenigstens eine Tasse Tee anbieten.“

Er erwiderte das Lächeln, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. „Das wäre jetzt wirklich wohltuend, danke! Ich bedaure, dass wir keine Zeit für Formalitäten und Höflichkeiten haben. Aber es ist schön, Euch wiederzusehen, selbst unter diesen Umständen.“

Jaina schenkte ihnen beiden mit ruhiger Hand Tee ein – von dem anfänglichen Schock hatte sie sich in Sekundenschnelle erholt. Sie war Kalecgos bei der Bindungszeremonie von Go’el und Aggra begegnet und hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden, obwohl sie keine Zeit für eine längere Unterhaltung gehabt hatte. Nun hielt sie ihm die Tasse hin und sagte voller Aufrichtigkeit: „Lord Kalecgos vom blauen Drachenschwarm, ich kenne Eure noblen Taten und weiß, dass Ihr ein gutes Herz habt. Ihr seid in Theramore willkommen. Der Brief, den Ihr bei Euch hattet, enthielt eine Anweisung, Euch all die Hilfe zu gewährleisten, die ich anbieten kann, und genau das will ich tun.“

Sie nahm auf dem kleinen Sofa Platz und bedeutete ihm, sich zu ihr zu setzen. Zu ihrer Überraschung wirkte dieses Wesen, das so mächtig und uralt war, beinahe … schüchtern, als es den Tee entgegennahm.

„Auch mir ist es eine Ehre, mit Euch zusammenzuarbeiten, Lady“, erklärte Kalecgos. „Euer Ruf ist weithin bekannt – und ich bewundere Euch schon seit langer Zeit. Euer Verständnis der Magie und die Besonnenheit, mit der Ihr diese Macht einsetzt – ebenso wie Eure, nun, sagen wir, weltlicheren Talente der Diplomatie und der Führung – dies alles gebietet Respekt.“

„Oh!“, machte Jaina. „Nun – danke! Aber so geschmeichelt ich mich auch fühle, ich bezweifle, dass Ihr den ganzen Weg von Nordrend gekommen seid, um Komplimente auszutauschen.“

Er seufzte und nahm einen Schluck Tee. „Unglücklicherweise habt Ihr recht. Lady …“

„Jaina, bitte! In meinem eigenen Zuhause gibt es keinen Grund für solche Förmlichkeiten.“

„Jaina …“ Als er wieder zu ihr aufblickte, lag keinerlei Freude mehr in seinen blauen Augen. „Wir sind in Gefahr. Wir alle.“

„Euer Schwarm?“

„Nein, nicht nur mein Volk. Jedes Wesen auf Azeroth.“

„Das kann doch nur eine Lüge sein.“ Kinndy stand in der Tür und blickte sie gleichermaßen verwirrt wie skeptisch an. „Oder zumindest eine Übertreibung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jedes einzelne Wesen auf Azeroth von den Schwierigkeiten in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, die sich der blaue Drachenschwarm eingehandelt hat.“

Ihr Haar sah zum Fürchten aus, und Jaina vermutete, dass sie es zu Zöpfen gebunden hatte, ohne es vorher überhaupt zu kämmen. Kalecgos schien ob der scharfen Zunge des kleinen Gnomenmädchens mehr amüsiert denn empört, und als er fragend zu Jaina hinüberblickte, erinnerte sich diese an Kinndys Behauptung, niemand nehme sie ernst. Sie war sicher, dass zumindest dieser blaue Drache schon bald lernen würde, sie ernst zu nehmen.

„Kalecgos, darf ich Euch meine Schülerin vorstellen, Kinndy Funkenleuchter.“

„Guten Tag“, sagte Kinndy, während sie sich selbst ein wenig Tee einschenkte. „Ich habe gehört, wie Ihr draußen mit Erzmagier Tervosh gesprochen habt. Da bin ich neugierig geworden.“

„Es freut mich, Euch kennenzulernen, Schülerin Funkenleuchter. Ich bin sicher, jeder, den Lady Prachtmeer ihrer Mentorschaft für wert hält, muss ein würdiger Lehrling sein.“

Kinndy roch an dem Tee und trank einen Schluck. „Vergebt mir, mein Herr“, meinte sie. „Nach all dem, was in jüngster Zeit geschehen ist, sind ich und die anderen dalaranischen Magier ein wenig … misstrauisch, was Euren Scharm betrifft. Ich meine, Ihr wisst schon – der Krieg, der Versuch, alle Magier abzuschlachten, dies alles.“

Innerlich zuckte Jaina zusammen. Eine zweiundzwanzigjährige Schülerin beschuldigte hier vor ihren Augen den ehemaligen Aspekt des blauen Drachenschwarms, dass er die Verantwortung für die Taten seines Vorgängers trage, wenn nicht gar, dass er selbst verräterische Absichten hege.

„Kinndy, Kalecgos ist ein Drache des Friedens. Er ist nicht wie Malygos. Er …“

Kalec hob die Hand und unterbrach sie höflich. „Das ist schon in Ordnung. Niemand weiß besser als ich, was mein Volk jenen angetan hat, die auf dieser Welt ebenfalls der arkanen Magie mächtig sind. Ich bin inzwischen daran gewöhnt, dass jeder, der … nun, der kein blauer Drache ist, mir mit derselben Einstellung begegnet wie … Kinndy.“ Er schenkte dem Gnomenmädchen ein schmales Lächeln. „Ich bin kein Aspekt mehr, aber doch noch immer der Anführer meines Schwarms, und als solcher war es in jüngster Zeit eine meiner Hauptaufgaben zu beweisen, dass nicht alle von uns den Nexuskrieg wollten. Und darauf hinzuweisen, dass wir seit dem Tod von Malygos keinerlei Versuche unternommen haben, andere, die das Arkane beherrschen, zu kontrollieren oder zu manipulieren.“

„Aber ist nicht genau dies die Aufgabe des Schwarms?“, hakte Kinndy nach. „Wurde der Aspekt nicht mit eben dieser Pflicht betraut? Und füllt Ihr nicht in gewisser Weise noch immer dieses Amt aus, auch wenn Eure Fähigkeiten nun verschwunden sind?“

Ein abwesender Ausdruck trat in Kalecgos Augen, und als er antwortete, war seine Stimme sanfter und tiefer als zuvor, wenngleich es immer noch unverkennbar seine eigene war. „Die Magie muss geregelt, verwaltet und kontrolliert werden. Aber ebenso muss sie geschätzt und respektiert werden. Man darf sie nicht horten. Das ist der Widerspruch, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.“

Jaina spürte, wie ein Schauder über ihren Rücken rann, und selbst Kinndy wirkte mit einem Mal kleinlaut. Kalecgos Augen wurden wieder hell und aufmerksam, als er sie beide anblickte. „Das waren die Worte, die einst Norgannon sprach, der Titan, der Malygos die Kräfte eines Aspekts verlieh.“

„Womit Ihr all meine Vorbehalte bestätigt hättet“, sagte Kinndy.

Inzwischen war offensichtlich, dass Kalecgos keinen Anstoß an den Worten des Gnomenmädchens nehmen würde, und so lehnte sich Jaina auf den Polstern zurück. Es war wohl das Beste, wenn sie sich aus dieser Sache heraushielt, damit die beiden sie allein klären konnten; fürs Erste wollte sie sich damit begnügen, zuzuhören und zu beobachten.

„Es hängt immer davon ab, wie man die Worte interpretiert“, meinte Kalecgos. „Malygos hat es so verstanden, dass er der höchste Wächter über die Magie ist. Weil ihm nicht gefiel, wie andere die Magie benutzten, beschloss er, die gesamte arkane Macht für sich und seinen Schwarm zu beanspruchen – in dem Glauben, dass nur er sie wirklich wertschätzen und respektieren konnte. Ich hingegen ziehe es vor, nur meine eigene Magie zu regulieren, zu verwalten und zu kontrollieren. Ich will den anderen mit meinem Beispiel vorangehen, sie ermutigen, die Magie ebenfalls zu schätzen und zu respektieren. Denn, Kinndy – wenn man etwas wirklich schätzt und respektiert, dann möchte man es auch richtig nutzen. Dann möchte man es nicht nur für sich beanspruchen, sondern teilen. Diesem Ziel habe ich mich verschworen, als ich zum Wächter über die Magie in dieser Welt wurde. Jetzt bin ich kein Aspekt mehr, nur noch der Anführer eines Schwarms, und, Kinndy, Ihr könnt mir glauben, in dieser neuen Rolle weiß ich jede Unterstützung durch die Kirin Tor oder jeden anderen, der mir helfen will, sehr zu schätzen.“

Kinndy dachte darüber nach und ließ dabei einen ihrer Füße baumeln, der auch hier nicht den Boden berührte. Die Gnomen-Kultur schätzte kaum ein Gut höher als die Logik, und ihr methodisch arbeitendes Gehirn würde gewiss anerkennen, was Kalec gerade gesagt hatte. Nach einer Weile nickte sie.

„Dann erzählt uns mal, was für eine Gefahr das ist, die jedes Wesen auf Azeroth bedroht“, forderte sie. Sie würde sich nicht für ihr Benehmen entschuldigen, aber zumindest hatte sie ihr Misstrauen dem Anführer des blauen Drachenschwarmes gegenüber überwunden.

Auch Kalec schien diesen Wandel in ihrer Haltung zu bemerken, und als er antwortete, richtete er seine Worte an beide Frauen. „Ich nehme an, Ihr seid vertraut mit dem, was man die Fokussierende Iris nennt. Seit langer Zeit schon befindet sie sich in der Obhut des blauen Drachenschwarms.“

„Malygos hat diese Iris benutzt, um die Sognadeln zu erschaffen, die die Leylinien von Azeroth zum Nexus umgeleitet haben“, sagte Kinndy. Jaina kam ein schrecklicher Verdacht, aber selbst jetzt noch hoffte sie, dass sie sich irrte.

„Ja“, nickte Kalec. „Das war die Iris. Und nun wurde dieses uralte Relikt gestohlen.“

Jaina starrte ihn voller Grauen an. Kinndy sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie sich dann erst Kalecgos fühlen musste. Der erste Gedanke, der nach seinen Worten durch ihren Geist raste, platzte aus ihr heraus.

„Danke – danke, dass Ihr bereit seid, uns um Hilfe zu bitten“, sagte sie. Dann streckte sie aus einem Impuls heraus den Arm vor und drückte seine Hand. Er blickte erst auf ihre Hand hinab, danach zu ihrem Gesicht hoch. Dann nickte er.

„Ich habe nicht übertrieben, als ich sagte, diese Gefahr betreffe uns alle“, erklärte er. „Ich sprach mit Rhonin darüber, dann bin ich direkt hierher geflogen. Ihr, junge Dame“, fuhr er mit einem Blick zu Kinndy fort, „seid erst der dritte Nicht-Drache, der davon erfährt.“

„Ich – fühle mich geehrt“, stammelte Kinndy. Die Abneigung, mit der sie Kalec eingangs begegnet war, hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst, und nun enthielt sie sich weiterer Bemerkungen über „Lügen“ oder Übertreibungen. Kalecgos sagte die Wahrheit.

„Was könnt Ihr uns über den Diebstahl erzählen?“, fragte Jaina, um die Unterhaltung endlich auf die praktischen Aspekte ihres Problems zu lenken – was sie wussten, was es noch herauszufinden galt, und hoffentlich auch, was sie tun konnten, um das Schlimmste zu verhindern.

In knappen Worten erklärte ihnen Kalecgos die Lage, und mit jedem Satz wurde Jainas Herz schwerer. Unbekannte Feinde sollten die Iris gestohlen haben, nachdem sie fünf Drachen überwältigt hatten?

„Hat Rhonin dir Unterstützung angeboten?“, fragte sie, erschrocken über den schwachen, hoffnungslosen Klang ihrer eigenen Stimme. Kinndys Gesicht war so bleich wie Pergament geworden, sie hatte schon seit einer ganzen Weile nichts mehr gesagt.

Kalecgos schüttelte unter dem blauschwarzen Haar den Kopf. „Nein, jedenfalls noch nicht. Ich konnte spüren, in welche Richtung die Iris gebracht wurde – zwar nur schwach, aber die Verbindung war da. Darum bin ich nach Kalimdor gekommen – und zu Euch, Jaina.“ In einer beschwörenden Geste breitete er die Hände aus. „Ich bin der Anführer der blauen Drachen. Wir kennen uns mit Magie aus. Wir haben unsere alten Bücher, die noch viel älter sind als alle Schriften, die Ihr kennt. Aber wir verfügen nicht über Eure Mittel. Ich bin nicht so arrogant zu glauben, wir wüssten alles. Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass Magier, die nicht als Drachen geboren wurden, Entdeckungen gemacht haben, zu denen kein Drache je in der Lage war. Darum bitte ich Euch, mir zu helfen – falls Ihr dazu bereit seid.“

„Natürlich“, rief Jaina. „Ich hole den Erzmagier Tervosh, dann können wir alle gemeinsam nach einer Lösung suchen.“

„Wie wäre es vorher mit einem Frühstück?“, fragte Kinndy.

„Natürlich“, nickte Kalecgos. „Wer kann sich schon mit einem leeren Magen konzentrieren?“

Langsam fasste Jaina wieder Mut, zumindest ein wenig. Kalec konnte dem Weg des gestohlenen Artefakts folgen, und er war bereit, Hilfe anzunehmen – mehr noch, er bat sogar darum. Zudem hatte er recht: Wer konnte sich schon mit einem leeren Magen konzentrieren?

Ihre Blicke trafen sich, und als er lächelte, fühlte sich Jaina gleich noch ein wenig besser. Sie mussten daran glauben, dass sie die Iris rechtzeitig finden konnten. Gemeinsam mit Kalecgos und Kinndy ging sie ins Speisezimmer, und jetzt hatte sie die Hoffnung, dass es ihnen wirklich gelingen würde.


Zu fünft – Jaina, Kalecgos, der Erzmagier Tervosh, die Leidende und Kinndy – machten sie sich an die Arbeit, mehr herauszufinden. Kinndy würde aus diesem Grunde wieder nach Dalaran zurückkehren, wo sie mit Rhonins Erlaubnis Zugang zu der Bibliothek erhalten sollte. Jaina beneidete sie um dieses Privileg.

„Ich erinnere mich noch an die Zeit, als das meine Aufgabe war“, erzählte sie dem Gnomenmädchen, nachdem sie es zum Abschied kurz umarmt hatte. „Nichts tat ich lieber, als mich in diesen alten Bänden und Schriftrollen zu vergraben und einfach nur zu lernen.“ Sie spürte einen kurzen Stich; das neue Dalaran war wunderschön, aber sie gehörte nicht mehr dorthin.

„Vermutlich macht so etwas mehr Spaß, wenn einem dabei nicht das Schicksal der Welt auf den Schultern lastet“, bemerkte Kinndy verdrießlich. Jaina konnte ihr nicht widersprechen.

Die Leidende, die Jainas Netzwerk von Spionen überwachte, brach ebenfalls auf, nachdem sie von den Ereignissen erfahren hatte. „Ich werde mich selbst unter die Leute mischen und herausfinden, was ich kann“, erklärte sie. „Meine Spione sind fleißig, aber vielleicht wissen sie nicht, wonach sie in dieser Situation Ausschau halten müssen.“ Ihr Blick wanderte zu Kalecgos hinüber. „Ich hoffe, Ihr seid hier sicher mit dieser … Person.“

„Ich denke doch, meine eigenen Fähigkeiten und die Talente eines ehemaligen Aspekts sollten ausreichen, mich zu beschützen, für den Fall, dass wir uns einer Gefahr gegenübersehen“, entgegnete Jaina, wobei sie aber jegliche Ironie aus ihrer Stimme verbannte. Sie wusste genau, wie ernst die Leidende ihre Pflichten nahm. Die Augen der Nachtelfin huschten noch ein letztes Mal zu Kalec und wieder zurück, dann salutierte sie.

„Lady.“

Nachdem Kinndy und die Leidende losgezogen waren, um ihre jeweiligen Aufgaben zu erfüllen, wandte sich Jaina Tervosh und Kalecgos zu und sagte mit einem kurzen Nicken: „Dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen. Kalec – vorhin habt Ihr erwähnt, dass Ihr die Fokussierende Iris fühlen könnt. Warum seid Ihr dieser Spur nicht einfach gefolgt? Warum habt Ihr stattdessen mich aufgesucht?“

Er senkte den Blick, sah aber aus, als wäre ihm übel. „Ich sagte, ich konnte fühlen, wohin sie gebracht wurde. Aber die Spur … sie ist verschwunden, kurz nachdem ich Kalimdor erreichte.“

„Wie?“ Tervosh war irritiert. „Eine solche Verbindung kann nicht einfach abbrechen.“

„Doch“, sagte Jaina mit schwerer Stimme. „Es gibt eine Möglichkeit. Wer immer dieses Artefakt gestohlen hat, sie müssen auf große Macht zurückgreifen können, sonst wären sie nicht in der Lage gewesen, fünf Drachen zu besiegen. Aber zum Zeitpunkt des Diebstahls wussten sie noch nicht genug über die Iris, um sie vollständig verbergen zu können. Darum konnte Kalec sie bis hierher verfolgen.“

„Genau das denke ich auch“, bestätigte Kalec. „Entweder haben sie selbst einen Weg gefunden, die Aura der Iris vor mir zu verbergen, oder sie haben einen Magier gefunden, der mächtig genug war, es für sie zu tun.“

Tervosh vergrub einen Moment lang das Gesicht in den Händen. „Das – müsste aber wirklich jemand sehr Mächtiges sein.“

„Richtig“, stimmte Jaina zu. Trotz dieser schlechten Neuigkeiten schob sie das Kinn vor. „Sie mögen einen mächtigen Zauberer auf ihrer Seite haben, vielleicht auch mehr als nur einen, aber das Gleiche gilt für uns. Außerdem haben wir einen Vorteil: Wir kennen jemanden, der alles über die Fokussierende Iris weiß. Kalec sollte uns also erst einmal auf den neuesten Stand bringen.“

„Was möchtet Ihr denn wissen?“

„Alles“, antwortete sie mit fester Stimme. „Erzähl uns nicht nur das Wesentliche! Wir brauchen alle Einzelheiten. Selbst das, was du zum jetzigen Zeitpunkt für unbedeutend hältst, könnte sich als nützlich erweisen. Tervosh und ich müssen alles wissen, was du weißt.“

Kalecgos lächelte reuevoll. „Das könnte eine Weile dauern.“


Und das tat es auch. Er erstattete Bericht, bis es Zeit fürs Mittagessen war, und nachdem sie eine kurze Pause gemacht hatten, um sich zu stärken, erzählte er bis zum Abendessen weiter, doch auch dann war er noch nicht fertig. Selbst die Stimme eines Drachen, so schien es, konnte heiser werden, wenn man sie überforderte. Es wurde spät, und in jener Nacht schlurften sie alle drei mit schweren Lidern in ihre jeweiligen Schlafgemächer. Jaina wusste nicht, wie die anderen schliefen, aber sie jedenfalls hatte schreckliche Albträume.

Als sie am nächsten Tag aufwachte, fühlte sie sich benommen und alles andere als erholt. Diesmal konnte ihr das morgendliche Ritual keine Zuversicht schenken, und der Himmel draußen war wolkenverhangen und unheilvoll. Jaina spürte, wie sich ein schweres Gewicht auf ihre Brust herabsenkte – und seufzte. Sie wollte nicht in diesen grauen Tag hinausblicken müssen, und so schob sie die Vorhänge wieder zu und ging nach unten.

Kalecgos schenkte ihr ein freundliches Lächeln, als sie den kleinen Salon betrat, doch dann fiel ihm auf, wie blass sie war, und das Lächeln verschwand wieder.

„Habt Ihr gut geschlafen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Und Ihr selbst?“

„Es ging. Auch wenn ich von schlechten Träumen geplagt wurde. Aber daran hat sicher Euer Koch Schuld. Das Abendessen war zwar köstlich, doch irgendwo muss sich da in diesem vorzüglichen Mahl ein Bissen halbgare Kartoffel versteckt haben.“

Obwohl der Ernst der Lage nur allzu deutlich war, musste Jaina kichern. „Dann könnt Ihr von jetzt an selbst all unsere Gerichte zubereiten. Das wird Euch lehren, Euch zu beschweren!“, tadelte sie ihn.

Er warf ihr einen Blick gespielten Entsetzens zu, doch als sie diesem Blick begegnete, wurden sie rasch wieder ernst.

„Es fühlt sich … falsch an, in einer solchen Situation Scherze zu machen“, sagte sie mit einem weiteren Seufzen, dann bereitete sie den Tee vor, mit dem präzisen Augenmaß, das sie schon immer gehabt hatte, und stellte den Kessel auf den Ofen.

„Es mag sich falsch anfühlen“, stimmte Kalec ihr zu, während er sich an den Eiern, der Eberwurst und dem heißen Haferbrei gütlich tat, ungeachtet seiner vorherigen, scherzhaften Kritik an den Fähigkeiten des Kochs. „Aber es ist nicht falsch.“

„Allerdings – sicher ist Humor doch unangebracht in solchen Zeiten.“ Jaina füllte ihren eigenen Teller und setzte sich neben Kalec.

„Manchmal“, erwiderte er und nahm einen Bissen Eberwurst. „Aber Freude ist nie unangebracht. Zumindest nicht, wenn es echte Freude ist – die Art von Leichtigkeit in der Seele, die unsere Last erträglicher macht.“ Während er kaute und schluckte, blickte er sie aus den Augenwinkeln an. „Ich habe Euch und Kinndy nicht alles berichtet, was Norgannon damals … nun, erzählt ist nicht das richtige Wort. Wohl eher, was er uns übermittelt hat.“

Der Kessel begann zu pfeifen, und Jaina stand auf, um ihn zu holen, dann schenkte sie ihnen beiden Tee ein. „Wirklich? Was hat er denn noch gesagt?“

„Fräulein Kinndy schien mir nicht die richtige Einstellung zu haben, um es unvoreingenommen aufzunehmen.“

Sie reichte ihm die Tasse und nahm wieder Platz. „Habe ich denn die richtige Einstellung?“

Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Vielleicht.“

„Dann erzählt schon!“

Er schloss die Augen. Seine Stimme veränderte sich wieder, wurde tiefer, wurde … zu der Stimme eines anderen.

„Ich bin sicher, ihr werdet erkennen, dass mein Geschenk an euch nicht nur eine bedeutsame Pflicht ist – und das ist sie durchaus – sondern ebenso eine Freude. Auch das ist sie! … Mögt ihr eure Pflicht erfüllen … und dabei Freude empfinden.“

Bei diesen Worten spürte Jaina ein seltsames Stechen in ihrem Herzen, und erst als Kalec die blaue Augenbraue nach oben zog, um sie zu einer Entgegnung aufzufordern, wurde ihr bewusst, dass sie mehrere Sekunden lang schweigend in seine Augen gestarrt hatte. Sie blickte auf ihre Schale hinab und stocherte in dem Haferbrei herum.

„Was ich Kinndy erzählt habe, traf zu. Ich habe es genossen zu lernen“, sagte sie schließlich, ein wenig zögerlich. „Ich habe es sogar geliebt, um die Wahrheit zu sagen. So, wie ich alles an Dalaran geliebt habe.“ Ihre Mundwinkel wanderten nach oben, als sie sich erinnerte. „Ich weiß noch … ich habe gesummt, während ich meine Arbeiten erfüllte“, fuhr sie fort und lachte, als die Hitze der Scham in ihre Wangen stieg. „Die Gerüche, der Sonnenschein, das Vergnügen, wenn ich Zaubersprüche erlernte und übte und sie dann schließlich meisterte, wenn ich mich mit Käse und Äpfeln und Schriftrollen zurückzog …“

„Freude“, kommentierte Kalec leise.

Vermutlich war es das gewesen, ja. Sie verweilte in dieser Erinnerung, genoss ihren süßen Geschmack. Doch da kristallisierte eine weitere Erinnerung in ihrem Geist … wie Kael’thas sie eines Tages angesprochen hatte, und dann später … Arthas. Das Lächeln verschwand.

„Was ist geschehen?“, fragte Kalec sanft. „Die Sonne ist hinter einer Wolke verschwunden.“

Jaina presste die Lippen zusammen. „Es ist nur … wir alle haben Geister, die uns verfolgen. Drachen vermutlich auch.“

„Ah!“, sagte er mit einem Blick in ihr Gesicht. „Du denkst an jene, die du geliebt und verloren hast.“ Sie zwang sich, mehr Haferbrei zu essen, auch wenn das für gewöhnlich so köstliche Frühstück nun in ihrem Mund wie Schlamm schmeckte, und nickte stumm. „Geht es vielleicht um … Arthas?“

Jaina schluckte hart und öffnete den Mund, um das Thema zu wechseln, doch da fuhr Kalec bereits fort. „Wir alle haben Geister, Jaina. Selbst Drachen. Sogar Aspekte. Die Trauer um ihren Geist hat einst beinahe Alexstrasza zerstört, die große Lebensbinderin selbst.“

„Korialstrasz“, murmelte Jaina. „Krasus. Ich sah ihn oft, als er in Dalaran war, aber ich habe ihn nie richtig kennengelernt. Ich hatte keine Ahnung, wer er wirklich war.“

„Das wusste kaum jemand. Und ja, du hast recht, Korialstrasz war dieser Geist. Er gab sein Leben, um uns alle zu retten, und wir hielten ihn zunächst für einen Verräter.“

„Selbst du und Alexstrasza?“

„Wir wollten es nicht glauben, aber die Zweifel stahlen sich auch in unsere Herzen.“ Kalec gestand das nur zögernd ein. „Selbst ich habe einen solchen Geist, Jaina. Es ist ein Menschenmädchen. Mit blondem Haar“, fügte er mit einem leichten Nicken hinzu, „und einem großen Herzen. Aber sie war … so viel mehr als nur ein Mädchen. Sie war etwas Wunderschönes und Tiefgründiges und unbeschreiblich Mächtiges, doch ihre Zeit als einfache junge Frau bereicherte diese Macht um Mitgefühl und Liebe.“

Jaina blickte ihn nicht an. Sie wusste, von wem er sprach – Anveena, die einst die reinkarnierte Kraft des Sonnenbrunnens gewesen war. Und sie wusste auch, was mit ihr geschehen war. Das Mädchen, das kein Mädchen war, hatte diese Gestalt für ihr wahres Wesen aufgegeben, und dadurch ihr Leben geopfert.

„Dann gibt es da noch einen Geist, ein Drachenweibchen, so lieblich wie Eis und Sonnenlicht, das einst mein Partner werden sollte.“ Erst jetzt schien ihm wieder aufzufallen, dass Jaina ihm gegenüber saß, und er warf ihr rasch ein Lächeln zu. „Ich denke nicht, dass Ihr Euch sonderlich gut mit ihr verstündet. Sie hat nie begriffen, warum ich solches Interesse an den, ähm …“

„Niederen Rassen?“

„Niemals habe ich Euch so genannt“, erklärte Kalec, und zum ersten Mal sah Jaina einen Funken von Zorn in den Augen des blauen Drachen. „Nur weil jemand kein Drache ist, heißt das noch nicht, dass er ein niederes Wesen ist. Es hat lange gedauert, bis Tyrygosa dies begriffen hat. Ihr seid einfach … anders als wir. Und in mancherlei Hinsicht vielleicht sogar besser.“

Jaina zog die goldenen Brauen in die Höhe. „Wie um alles in der Welt könnt Ihr so etwas nur sagen?“

Er lächelte. „Käse, Äpfel und Bücher“, antwortete er. „Ihr kanntet wahre, einfache Freude, bevor noch Euer zweites Lebensjahrzehnt angebrochen war. Das macht Euch … bemerkenswert.“

Загрузка...