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„Wir sollten doch eigentlich in der Lage sein, dieser Sache auf den Grund zu gehen“, sagte Jaina, während sich Zorn – eine Emotion, die sie nur höchst selten empfand – in ihre Stimme stahl. „Wir haben einen blauen Drachen, zwei äußerst talentierte Magier und eine scharfsinnige Schülerin. Und sogar auf die Hilfe der Kirin Tor können wir bauen.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar und zwang die Emotion zurück, bevor sie ihre Gedanken trübte. Wut und Verzweiflung waren ein Luxus, den sie sich im Augenblick nicht leisten konnte. Sie musste logisch nachdenken.

„Lady, es gibt nirgendwo Aufzeichnungen über einen Zauber, der ein magisches Objekt vor den Sinnen eines überlegenen Magiers verbergen könnte“, entgegnete Kinndy. „Und wir können ja wohl davon ausgehen, dass Kalecgos hier jedem Magier der kurzlebigeren Rassen von Azeroth überlegen ist. Verzeiht mir außerdem, wenn ich sage, dass es nicht einfach ist, hier ruhig sitzen zu bleiben, nachzudenken, zu grübeln und Däumchen zu drehen, während die Nordwacht womöglich jetzt gerade der Horde in die Hände fällt!“

„Es liegt mir fern, Eure Bedenken auf die leichte Schulter zu nehmen, Kinndy“, warf Kalecgos ein, „aber falls ich die Fokussierende Iris nicht rechtzeitig wiederfinde, könnte sie eine Woge der Zerstörung über diese Welt bringen, gegen die sich der Fall der Feste Nordwacht wie ein verlorener Bauer in einem Schachspiel ausnimmt.“

Kinndy runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. „Wir alle sind abgelenkt“, erklärte Jaina, während sie ihren Geist zur Ruhe zwang. „Aber Kalec hat recht. Je schneller wir herausfinden, wie die Diebe die Fokussierende Iris vor seinen Sinnen verbergen, desto sicherer werden wir alle sein.“

Das Gnomenmädchen nickte. „Ich weiß, ich weiß“, murmelte sie. „Es ist nur so … schwer.“

Jaina musterte ihre Schülerin und dachte dabei an das letzte Mal, als sie ihren eigenen Meister, Antonidas, gesehen hatte. Gemeinsam hatten sie in seinem auf sympathische Weise chaotischen Studierzimmer gestanden, und sie hatte ihn gebeten – oder vielmehr darum angefleht –, bleiben zu dürfen, um gemeinsam mit ihm Dalaran gegen Arthas Menethil zu verteidigen. Arthas war zu diesem Zeitpunkt bereits in der Stadt gewesen; um die Wahrheit zu sagen, er hatte sogar schon direkt vor der Tür gestanden und höhnische Bemerkungen gerufen, die Jaina so hart getroffen hatten, als wären es echte Pfeile. Wie verzweifelt ihr Wunsch doch gewesen war, die wunderschöne Stadt der Zauberer zu verteidigen – und wie bitter die Erkenntnis gewesen war, dass es Arthas, ihr Arthas, war, der sie bedrohte. Doch Antonidas hatte ihr nicht erlaubt, noch länger zu bleiben. „Du hast andere Aufgaben“, hatte er gesagt. „Schütze jene, um die dich zu kümmern du geschworen hast, Jaina Prachtmeer. Ob hier nun einer mehr oder weniger ist … das wird keinen Unterschied machen.“

Jaina war davon überzeugt, dass sie und Kalec bei der Nordwacht einen Unterschied machen konnten, falls sie rechtzeitig dort einträfen. Doch selbst wenn ihnen dies gelang, was dann? Jetzt zählte jede Minute, und sie wussten noch immer nicht, in wessen Händen sich dieses verfluchte Artefakt befand, oder was er oder sie damit plante. Ebenso, wie es damals das Richtige gewesen war, Antonidas zurückzulassen, auch wenn er gestorben und Dalaran gefallen war, so war es jetzt das Richtige, hierzubleiben und die Iris zu finden. Zumindest versuchte sie, sich das einzureden.

Auch nach all dieser Zeit spürte sie bei einer solchen Erinnerung noch Tränen in den Augen. Sie streckte den Arm aus, um Kinndys schlaff herabhängende Hand zu drücken. „Wenn man ein Magier werden und mit dieser großen Verantwortung umgehen will, dann muss man auch lernen, schwere Entscheidungen zu treffen. Ich verstehe, wie du dich fühlst, Kinndy. Aber wir sind dort, wo wir jetzt sein müssen.“

Das Gnomenmädchen nickte. Sie war müde, so wie sie alle; ihr rosafarbenes Haar war schlampig zu Zöpfen gebunden, und unter ihren großen Augen lagen dunkle Ringe. Tervosh wirkte um Jahre älter, als er eigentlich war, und selbst Kalec hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Jaina wollte gar nicht wissen, wie sie aussah. In letzter Zeit hatte sie einen großen Bogen um jeden Spiegel gemacht.

Ihre Stirn furchte sich, während sie sich der nächsten Schriftrolle zuwandte, dann legte sie sie abrupt beiseite und starrte die anderen an. „Kinndy hat recht: Es gibt keine bekannten Aufzeichnungen über einen Zauber, der bewirken kann, was gerade geschieht. Aber weil es gerade geschieht, muss doch irgendjemand einen Weg gefunden haben. Er verbirgt das Artefakt vor Kalecgos. Und ich weigere mich einfach, zu glauben, dass wir nichts dagegen unternehmen können!“ Sie schlug mit der Hand auf den Tisch, woraufhin ihre Mitstreiter sie erschrocken anblickten. Sonst hatte Jaina eigentlich niemals solche Gefühlsausbrüche. „Falls wir herausfinden, welcher Zauber eingesetzt wurde, oder auch nur abschätzen können, welche Art von Zauber es ist, sollten wir eine Möglichkeit finden können, ihn aufzuheben.“

„Aber …“, begann Kinndy noch, doch dann biss sie sich auf die Lippe, als Jaina ihr einen scharfen Blick zuwarf.

„Kein Aber. Keine Ausflüchte.“

Niemand wusste, was er darauf erwidern sollte. Kalecgos musterte sie neugierig, während sich seine Lippen zu einem leicht besorgten Ausdruck verzogen hatten. Einmal mehr suchte Jaina in ihrem Inneren nach Ruhe. „Es tut mir leid, dass ich meine Stimme erhoben habe, aber ich bin mir sicher, dass wir einen Weg finden werden, dieses Rätsel zu lösen!“

Kinndy stand auf, um ihnen allen frischen Tee zu bringen, und die anderen blieben in Schweigen gehüllt sitzen, bis schließlich Kalecgos mit stockender, unsicherer Stimme die Stille brach.

„Wir sind uns also darin einig, dass es keinen bekannten Zauber gibt, um einen so mächtigen Gegenstand vor einem so begabten Magier wie mir zu verschleiern. Vor allem, da ich außerdem eine besondere Verbindung mit der Fokussierenden Iris habe“, sagte er. Jaina nahm einen Schluck Tee und ließ sich von dem vertrauten Geruch und Geschmack des Getränks beruhigen. Dann bedeutete sie ihm mit einem Nicken, fortzufahren. „Die logische Schlussfolgerung muss darum diejenige sein, dass es dort draußen entweder einen Magier gibt, der schlau genug ist, einen solchen Zauber zu ersinnen …, oder dass wir es hier mit etwas anderem zu tun haben.“

„Was meint Ihr mit etwas anderem?“, keuchte Kinndy. „Was sollte es denn bitte sonst sein?“

Jaina hob die Hand. Sie zitterte leicht … vor neu erwachter Hoffnung. „Warte einen Augenblick“, sagte sie. „Kalec … ich glaube zu wissen, worauf Ihr hinauswollt.“

Er lächelte, strahlend und fröhlich. „Ich nahm an, dass Ihr es erkennen würdet.“

„Die Iris wird nicht wirklich vor Euch verborgen“, fuhr Jaina fort, ermutigt durch seine Reaktion. Im Kopf ging sie es Schritt für Schritt durch, dann erhob sie sich von ihrem Stuhl und wanderte auf und ab, während sie sprach. „Wir glauben es nur, weil wir sie nicht spüren können.“

„Und wir können sie nicht spüren, weil es nicht sie ist, nach der wir suchen“, beendete Kalec den Gedankengang. „Genau!“

„Könnte sich vielleicht jemand erbarmen, auch uns arme Sterbliche einzuweihen?“, fragte Tervosh trocken. Er hatte sich weit zurückgelehnt, sodass die vorderen beiden Stuhlbeine in der Luft schwebten. „Ich verstehe nämlich gar nichts mehr.“

Jaina drehte sich zu ihm herum. „Was warst du während der letzten Schlotternächte?“, fragte sie, während sie versuchte, die stechende Erinnerung an eine ganz besondere Schlotternacht zu verdrängen. Damals hatte Arthas sie nach Lordaeron eingeladen, um dem traditionellen Entzünden des Weidenmannes beizuwohnen. Zweck dieser Figuren war es, auf metaphorische Weise die Dinge, von denen die Zuschauer gerne befreit wären, hinfortzubrennen. Jaina hatte den Weidenmann mit einem Zauber entzündet, sehr zur Freude der Anwesenden, aber später in dieser Nacht hatten sie und Arthas noch einen anderen, wesentlich mächtigeren Zauber gewirkt. Im Licht der Flammen hatte sie seine Hand genommen und ihn zu ihrem Bett geführt, wo sie zum ersten Mal zu Liebenden geworden waren.

„Ich … ich verstehe nicht.“ Tervosh blickte sie an, als hielte er es durchaus für möglich, dass sie den Verstand verloren hatte. Mit einer bewussten Willensanstrengung lenkte Jaina ihre Gedanken zurück in die Gegenwart – und auf das Problem, dessen Lösung sie nun vielleicht gefunden hatten.

„Zu was wurdest du, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen?“, fragte sie den anderen Magier.

Da weiteten sich Tervoshs Augen, und Erkenntnis dämmerte darin auf. Er beugte sich vor, während die Stuhlbeine wieder mit einem Knall auf dem Boden landeten. „Der dumme, kleine Zauber dieses primitiven Stabs hat mich in einen Piraten verwandelt“, sagte er.

„Ich versuche, auf magische Weise einen Gegenstand aufzuspüren, aber man hat ihm eine andere Form gegeben. Dieser ‚dumme, kleine Zauber‘, von dem Ihr sprecht, ist gerade Ablenkung genug, dass ich mich nicht auf die Fokussierende Iris konzentrieren kann“, erklärte Kalecgos. Kurze Zeit schien sein Blick abwesend, aber dann lächelte er wieder. „Zumindest … bis jetzt!“

„Ihr spürt die Iris wieder!“, rief Kinndy aufgeregt.

Er nickte. „Ja – und nein. Das Gefühl kommt und geht.“

„Das kann nur eines bedeuten: Wer auch immer das Artefakt mit diesem dummen, kleinen Zauber belegt hat, weiß, dass er ihn von Zeit zu Zeit verändern muss, damit seine Wirkung nicht nachlässt“, meinte Jaina.

„Exakt!“ Kalec, der während der Unterhaltung ebenfalls aufgestanden war, reichten drei Schritte seiner langen Beine, um die Entfernung bis zu ihr zu überbrücken. Kurze Zeit glaubte Jaina, er werde sie umarmen, aber dann schloss er lediglich seine Hände um ihre und drückte sie fest. Seine Berührung fühlte sich warm und beruhigend an.

„Jaina, Ihr seid ein Genie“, sagte er.

Die Röte stieg ihr ins Gesicht. „Ich habe lediglich Euren Gedanken nachvollzogen“, wiegelte sie ab.

„Ich hatte eine vage Ahnung“, entgegnete er. „Doch Ihr habt herausgefunden, was genau geschehen ist und wie man diese Illusion durchschauen kann. Jetzt, da ich weiß, wo sich die Iris befindet, muss ich sofort aufbrechen.“ Er zögerte. „Ich weiß, dass Ihr Euch wegen der Nordwacht Sorgen macht, aber … bitte bleibt hier! Ich kann der Spur des Artefakts folgen, aber noch habe ich es nicht zurück. Vielleicht brauche ich ein zweites Mal Eure Hilfe.“

Jaina stellte sich dem schmerzhaften Gedanken, was womöglich jetzt gerade an der Feste Nordwacht geschah – oder was bereits geschehen war. Einen Moment lang biss sie sich auf die Lippe, anschließend nickte sie.

„Ich werde hierbleiben“, versprach sie.

Er hob ihre Hände an seine Lippen und küsste sie. „Danke! Ich weiß, wie schwer das für Euch sein muss.“

„Viel Glück, Kalecgos“, sagte Tervosh.

„Ich hoffe, Ihr findet die Iris möglichst schnell wieder“, fügte Kinndy hinzu.

„Ich danke Euch. Jetzt stehen meine Chancen zumindest um ein Vielfaches besser. Ich hoffe, dass ich mich bald wieder mit guten Neuigkeiten an Euch wenden kann.“

Er machte sich auf den Weg zum Ausgang, und Jaina folgte ihm. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als sie die gewundene Treppe ins Erdgeschoss hinabstiegen. Aber die Stille fühlte sich nicht unbehaglich an. Schließlich trat Kalecgos ins Sonnenlicht hinaus und drehte sich ein letztes Mal zu ihr herum.

„Ihr werdet sie finden“, erklärte Jaina fest.

Er lächelte sanft. „Wenn Ihr das mit solcher Überzeugung sagt, fange ich sogar selbst an, daran zu glauben“, erwiderte er.

„Gebt auf Euch acht“, sagte sie, auch wenn sie sich sofort wie eine Idiotin vorkam. Schließlich war er ein Drache, und mehr noch, nicht nur irgendein Drache, sondern ein früherer Aspekt. Was auf diesem Kontinent konnte ihm schon gefährlich werden? Doch dann wanderten ihre Gedanken zu den Drachen, die getötet worden waren, als die Diebe die Fokussierende Iris geraubt hatten, und plötzlich fühlte sich ihre Sorge gar nicht mehr so töricht an.

„Das werde ich“, erklärte er ernst, aber dann konnte er sich ein Grinsen nicht länger verkneifen. „Ich werde zurückkommen. Allein schon, um noch ein wenig von Euren köstlichen Plätzchen zu kosten, die Ihr mit dem Tee serviert.“

Jaina lachte. Einen Moment lang blieb er noch stehen – warum, vermochte sie nicht zu sagen –, dann verbeugte er sich und ging davon.

Seine Gestalt veränderte sich dabei so schnell, dass es ihr den Atem verschlug. Wo gerade noch der attraktive Halbelf gestanden hatte, war nun plötzlich ein gewaltiger blauer Drache, auf seine eigene Art nicht weniger attraktiv, aber unglaublich mächtig und auch ein wenig angsteinflößend. Ihn einfach nur blau zu nennen, war eigentlich eine Beleidigung, wenn man all die verschiedenen Schattierungen dieser Farbe betrachtete, die seinen Leib zierten. Azur, Kobalt, Cölinblau, ja sogar der einmalige, helle Farbton von Eis – Kalecgos, der Drache, vereinte sie alle. Er spannte seine mächtigen Flügel, und sie war sich sicher, dass er dieses Gefühl genoss, nachdem er so lange in seiner Halbelfenform verblieben war. Wunderschön, tödlich, gefährlich, prächtig – all das war er, und Jaina wurde plötzlich ganz blass, als sie daran dachte, wie grob sie ein paarmal mit ihm umgesprungen war.

Er konnte ihre Gedanken nicht lesen, aber vielleicht musste er das auch gar nicht. Kalecgos schwenkte seinen Schwanz, der mit Stacheln wie Eiszapfen geschmückt war, dann drehte er den gewaltigen, hörnerbewehrten Schädel auf seinem langen, sehnigen Hals und blickte sie an. Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden.

Schließlich zwinkerte er ihr zu. Ja, er war Kalecgos, der mächtige Drache, der frühere Aspekt, aber er war auch Kalecgos, der fröhliche, verständnisvolle Freund, der ihr die wahre Schönheit und Großartigkeit des Arkanen gezeigt hatte.

Die beinahe schon ängstliche Ehrfurcht, die sie vor einem Augenblick noch vor ihm empfunden hatte, schmolz wie eine Schneeflocke im Sonnenschein dahin, und die Spannung wich von ihrem Körper, beinahe so, als würde sie einen zu schweren Mantel abwerfen. Sie lächelte ihm zu und winkte, und dann neigte er ganz kurz anerkennend den Kopf, bevor er zum Himmel emporblickte. Die riesigen Beine unter seinem Leib angewinkelt, spannte er sich wie eine Katze vor dem Sprung.

Einen Moment später hatte sich Kalecgos bereits in die Lüfte emporgeschwungen, und seine gewaltigen Flügel erzeugten bei jedem Schlag einen angenehmen Windhauch, als er entschlossen in die Höhe schoss. Jaina schirmte die Augen gegen die Sonne ab, während er seinen Steigflug fortsetzte und zu einem winzigen Punkt in der Ferne zusammenschrumpfte, bevor er schließlich ganz verschwand.

Kurz blieb sie noch stehen, und als sie sich umdrehte und in den Turm zurückkehrte, wunderte sie sich, warum sie plötzlich so traurig war.


Schlotternachtkostüme.

Kalecgos schnaubte, während er dahinflog, und obwohl er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, musste er sich doch selbst tadeln. Wie hatte er etwas so Simples nur übersehen können? Andererseits: Die Analogie, die Jaina auf die Natur des Zaubers aufmerksam gemacht hatte, gründete sich auf einen Feiertag, den es in seiner Kultur nicht gab. Die Schlotternächte waren kein Drachenfest, und auch sonst trugen die riesigen Kreaturen keine Kostüme … es sei denn, natürlich, man bezeichnete ihre Menschengestalt als Kostüm. Doch sie war eigentlich nur eine andere Manifestation ihrer selbst, kein Trick und keine Illusion. Sie diente nicht als Verkleidung.

Oder vielleicht doch? Schließlich benutzten die Drachen ihre Fähigkeit zur Körperwandlung, um sich unbemerkt unter die jüngeren Rassen zu mischen. Kritische Stimmen mochten es also durchaus als Trick bezeichnen, selbst wenn Kalecgos nie das Gefühl gehabt hatte, dass er sich verkleidete, wenn er zu Kalec wurde. Er war noch immer er selbst und sah einfach nur anders aus.

Diese Vorliebe der jüngeren Rassen, Magie auf so leichtfertige Weise einzusetzen, war mehr als verwirrend. Erst durch Jainas Hilfe – die sich mit solchen kleinen, schlichten Zaubern auskannte – war es ihm gelungen, zwei und zwei zusammenzuzählen. Darin sah er ein weiteres Beispiel dafür, dass die Drachen anfangen mussten, Dinge anzuerkennen, die sie einst als frivol abgetan hatten, wenn sie in dieser Welt, die der Stunde des Zwielichts entgangen war, bestehen wollten.

Nun, da er wusste, was für ein Spiel seine Gegner spielten, konnte er die Fokussierende Iris wieder fühlen, genauso wie er es Jaina erzählt hatte. Er musste nur mit seiner Magie nach dem suchen, was sie wirklich war, nicht nach dem, was die Diebe in ihr sahen; er musste sich auf die wahre, arkane Essenz des Artefakts konzentrieren und das Kostüm vergessen, in das sie gehüllt war. Zwar spürte er die Aura der Iris nicht mehr so deutlich wie vor ihrem Verschwinden, aber das Gefühl war noch immer da, wie eine vage Duftfahne in seinem Geist. Immer wieder gab es Momente – lang andauernde Momente –, in denen er das Gefühl hatte, die Verbindung würde wieder abreißen. Doch dann zehrte Kalecgos von der Geduld seiner Rasse und verharrte einfach in der Luft, im Vertrauen auf sein neues Verständnis der Fokussierenden Iris, bis sich ihm das Artefakt wieder zeigte.

Etwas, das ihn zugleich verwirrte und besorgte, war die Geschwindigkeit, mit der das verteufelte Ding dahinraste. Es schien geradezu, als würde es … fliegen. Eigentlich sollte keine der jüngeren Rassen in der Lage sein, sich so schnell zu bewegen. Wie also konnte das sein? Wer war zu einer solchen Geschwindigkeit in der Lage? Falls es ihm gelänge, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, könnte er sicher auch den Rest dieses Mysteriums lösen.

Ein Gedanke, ebenso verlockend wie herzzerreißend, stahl sich in seinen Geist: Würde er die Fokussierende Iris vielleicht schneller finden, wenn er noch die Kräfte eines Aspekts besäße?

Wütend schüttelte er den Kopf. Solche Gedanken führten auf einen gefährlichen Pfad, der in Verzweiflung enden mochte. Er hatte jetzt keine Zeit für diese so kleinen und doch so gewaltigen Worte wie hätte, wäre und wenn. Das war der Sirenengesang des Verderbens, gekleidet in das Kostüm des Wunschdenkens. Er musste der Realität ins Gesicht sehen, und er brauchte all die Weisheit, Klarheit und Zuversicht, die er nur mobilisieren konnte, um das Schlimmste noch zu verhindern.


Jaina überraschte es selbst ein wenig, aber sie erkannte, dass sie Kalecs Gegenwart vermisste. Er hatte den Ernst ihrer Lage niemals auf die leichte Schulter genommen – die Aufgabe, die Iris zu finden, lastete schwerer auf ihm als auf sonst jemandem, schließlich gehörte das Artefakt seinem Schwarm –, aber er hatte dieser sonst so düsteren und beängstigenden Aufgabe eine gewisse Leichtigkeit verliehen. Sein Humor war ebenso angenehm wie sein Geist scharf und sein Verhalten zuvorkommend und gütig. Außerdem war er äußerst verständnisvoll gewesen. Er schien genau zu wissen, wann er eine Pause in ihrer Arbeit vorschlagen sollte und wann er weiter auf der Suche nach einem Durchbruch beharren musste, ebenso wie er stets wusste, wo sie zu suchen hatten und welche frischen Ansätze er einbringen konnte, um den anderen einen neuen Blickwinkel zu zeigen. Er hatte es geschafft, sie alle vier zu motivieren, obwohl die Chancen auf den Erfolg so verschwindend gering gewesen waren.

Davon abgesehen musste sie zugeben, dass er in seiner Halbelfengestalt gar nicht mal so schlecht ausgesehen hatte. Mit leiser Überraschung erkannte sie, wie lange es schon her war, dass sie sich solche einfachen Freuden wie männliche Gesellschaft und entspannte Unterhaltungen gegönnt hatte. Noch länger war es aber her, seit sie sich zum letzten Mal wirklich … nun … sicher genug gefühlt hatte, um sich jemandem zu öffnen und so uneingeschränkt mit ihm zusammenzuarbeiten. Bittere Erfahrungen hatten Jaina gelehrt, dass man nur dann ein guter Diplomat sein konnte, wenn man stets wachsam blieb und sich nicht in die Karten schauen ließ. Wer sich nicht daran hielt, der gab sich eine Blöße und machte sich verwundbar. Und auch wenn die Gesten des Vertrauens selbstverständlich zur Arbeit eines Diplomaten gehörten und er aufrichtig und ehrlich auf das hinarbeiten musste, was das Beste für die Allgemeinheit war – er durfte doch niemals verwundbar werden, denn das hieß dann, alles zu verlieren. Jaina hatte auch einmal geglaubt, alles verloren zu haben, damals, als Arthas der Dunkelheit anheimgefallen war. Und selbst wenn es ein Irrtum gewesen war, wie sie später erkannt hatte, so hatte sie doch nie wieder jemanden so nahe an sich herangelassen – nicht als Diplomatin und auch nicht als Frau.

Nun wurde ihr klar, dass sie sich bei Kalecgos verwundbar gemacht hatte. Ohne es überhaupt zu merken, kitzelte er dieses Gefühl der Vertrautheit aus ihr heraus. Wie bizarr, dachte sie, und die Komik der Situation verzog ihre Lippen zu einem Schmunzeln. Ich fühle mich ausgerechnet bei einem Drachen sicher. Andererseits hatte sie sich doch auch bei Go’el sicher gefühlt, und der war ein Orc, beim Licht! Mehr noch, er war der Kriegshäuptling der Horde gewesen. Doch bei ihm hatte sie es nie gewagt, ihre Deckung ganz sinken zu lassen.

Auch wenn sie alle hofften, dass Kalec die Fokussierende Iris finden würde, nun, da er sie wieder richtig erkennen konnte, es gab doch noch immer mehr als genug für sie zu tun; schließlich konnten sie nicht ausschließen, dass die Fährte wieder kalt wurde. Tervosh widmete sich gerade dem Studium von Zaubersprüchen, mit denen man jemanden über große Distanzen hinweg bewegungsunfähig machen konnte, und Kinndy war wieder nach Dalaran zurückgekehrt, um eine Truhe mit Schriftrollen zu durchforsten, die sie in der hintersten Ecke der Bibliothek entdeckt hatte. „Ihr würdet mich beneiden“, hatte das Gnomenmädchen gesagt, als Jaina sich das letzte Mal durch den Spiegel mit ihr unterhalten hatte. „Da ist überall Staub.“

Doch sie konnten sich nicht allein auf ihre Hoffnungen verlassen, und auch wenn es brutal war, sie mussten praktisch denken. Darum hatten Jaina, Tervosh und die Leidende begonnen, sich Mittel und Wege zu überlegen, sowohl magische als auch weltliche, um die großen Allianzstädte schnellstmöglich zu evakuieren, sollten die Diebe beschließen, die Fokussierende Iris für einen Angriff zu benutzen. Jaina hatte sich gerade laut gefragt, ob sie vielleicht auch der Horde über die Gefahr berichten sollten, aber die Leidende warf ihr daraufhin einen schneidenden Blick zu. „Mylady“, erklärte sie, „wir können nicht ausschließen, dass Mitglieder der Horde für diesen Diebstahl verantwortlich sind.“

„Ebenso wenig können wir aber ausschließen, dass Mitglieder der Allianz hinter der Sache stecken“, entgegnete Jaina. „Beide Seiten können mit Magie umgehen, Leidende. Kel’Thuzad zum Beispiel war früher ein Mitglied der Kirin Tor. Vielleicht gehören die Täter aber auch zu einer völlig anderen Spezies. Kalimdor ist schließlich ein großer Kontinent.“

„Dann sollten wir uns auch ein paar Szenarien überlegen, um die Horde zu schützen“, schlug Tervosh vor, der sich schon vor langer Zeit daran gewöhnt hatte, einen Kompromiss zwischen den Ansichten dieser beiden Frauen zu finden. „Es kann ja nicht schaden.“

„Und sollte die Horde tatsächlich angegriffen werden, dann können wir ihr Vertrauen gewinnen, wenn wir ihnen rasch zu Hilfe eilen“, meinte Jaina, die Diplomatin. Die Leidende schnitt eine Grimasse, sagte aber nichts weiter dazu.

Nachdem sie so lange das Gefühl gehabt hatte, mit leerer Luft zu ringen, ohne einen Plan oder auch nur eine klare Vorstellung von dem, wonach sie suchten, war es eine gewaltige Erleichterung, sich nun etwas so Konkretem wie einer Evakuierungsstrategie für die großen Städte von Kalimdor zu widmen. Jainas Geist schaltete mühelos, beinahe wie von selbst, auf logisch-rationales Denken um. Kalec hatte ihr gezeigt, was sie bereits gewusst, aber nie bewusst zur Kenntnis genommen hatte: dass Magie Mathematik war. Es gab immer eine Möglichkeit, die Dinge in einer passenden Gleichung zu vereinen. Und falls man diese Möglichkeit nicht erkannte, nun gut, dann hatte man einfach noch nicht gründlich genug gesucht.

Der Nachmittag ging in den Abend über, und nachdem sie die letzten Tage bis weit in die Nacht wach geblieben und schon früh am Morgen wieder aufgestanden war, genoss sie es nun, sich einfach ausruhen zu können. Sie kroch in ihr Bett, kaum dass die Sonne untergegangen war. Die Zuversicht, dass Kalec die Iris bald schon finden würde und sie dann zumindest von diesem Problem befreit wären, wiegte sie schnell in den Schlaf.


„Mylady.“

Jaina war so benommen, dass sie zunächst glaubte, die drängende Stimme nur in einem Traum zu hören. Aber als sie blinzelnd erwachte, sah sie eine hochgewachsene Gestalt mit langen Ohren, die sich als Silhouette vor dem Fenster abzeichnete. „Leidende?“, murmelte sie.

„Ein Bote ist hier. Wir haben ein Mitglied der Horde gestellt. Der Gefangene“ – die Stimme der Leidenden gab deutlich ihre Zweifel wieder – „sagt, er müsse unbedingt mit Euch sprechen.“

Jetzt war Jaina wach. Sie rutschte aus dem Bett und griff nach einem Überwurf, während sie mit einer schnellen Handbewegung die Lampen entzündete. Wie üblich trug die Leidende ihre Rüstung. „Er behauptet, man hätte ihn von der Feste Nordwacht losgeschickt, wo die Allianz von der Horde überrannt wurde.“

Jainas Atem stockte. Vielleicht hätte sie doch zur Nordwacht gehen sollen, nachdem Kalecgos aufgebrochen war. Sie seufzte bitterlich. „Ich sollte wahrscheinlich schon froh sein, dass ihm die Männer, die ihn gefasst haben, nicht sofort an die Kehle gegangen sind.“

„Er ist ihnen offen entgegengetreten“, teilte ihre Leibwächterin mit. „Und er hatte dies hier dabei, als Zeichen seiner Ernsthaftigkeit. Er hat den Wachen versichert, Ihr würdet es erkennen und mit ihm sprechen wollen. Die Männer waren zumindest bereit, so lange zu warten, bis Ihr seine Geschichte bestätigt hättet.“

Die Leidende hielt ihr ein großes, in weißes Tuch gehülltes Bündel hin, und als Jaina es entgegennahm, fiel ihr auf, wie schwer es war. Behutsam faltete sie den Stoff auseinander. Ihre Augen weiteten sich.

Es war ein Streitkolben, eine Waffe von gewaltiger Schönheit und beeindruckender Handwerkskunst, deren Spitze silberglänzend und mit ineinander verwobenen goldenen Bändern verziert war. Hie und da schimmerten kleine Edelsteine, und auch Runen waren in den Kolben geritzt.

Jaina starrte die Waffe einen Augenblick lang fasziniert an, dann blickte sie zur Leidenden hoch. „Lass ihn herbringen“ war alles, was sie sagte.

Ein paar Augenblicke später führten die Wachen den Boten der Horde – Jaina hielt ihn nicht länger für einen Spion – herein.

Er war von hünenhafter Gestalt, sein Körper unter einem weiten Umhang verborgen. Und so, wie er die Wachen überragte, bekam Jaina das Gefühl, dass er die beiden Männer in Sekundenschnelle hätte überwältigen können, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Doch stattdessen ließ er sich grob vor ihnen herschubsen.

„Lasst uns allein!“, befahl Jaina.

„Mylady?“, fragte einer der Soldaten. „Wir sollen Euch mit dieser … dieser Kreatur … … allein lassen?“

Sie maß die Wache mit einem scharfen Blick. „Er ist in gutem Glauben zu mir gekommen, und ich werde nicht dulden, dass man so über ihn spricht.“

Der Mann errötete sichtlich, während er und sein Kamerad sich vor ihrer Herrin verbeugten. Dann zogen sie sich zurück und schlossen hinter sich die Türen des Salons.

Die massige Gestalt richtete sich auf, und eine Hand tauchte zwischen den Falten des Umhangs auf, um die Kapuze zurückzuschieben. Nun blickte Jaina in das beherrschte, stolze Gesicht eines Tauren hinauf.

„Lady Jaina Prachtmeer“, sagte er und neigte den Kopf. „Mein Name ist Perith Sturmhuf. Ich komme auf Befehl meines Oberhäuptlings zu Euch. Er hat mir aufgetragen, Euch den Streitkolben zu geben. Er meinte … Ihr würdet meinen Worten eher glauben, wenn ihr ihn gesehen habt.“

Jaina schloss ihre Finger fester um die Waffe. „Ich würde den Furchtbrecher an jedem Ort erkennen“, erklärte sie und erinnerte sich noch an jenen Tag, als Baine Bluthuf und Anduin Wrynn in diesem Raum hier zusammengesessen hatten. Gerührt von Baines Verlust und seiner Verunsicherung, da er den Titel seines ermordeten Vaters übernehmen sollte, war der Menschenprinz in sein Gemach geeilt. Und als er zurückgekehrt war, hatte er diesen Streitkolben in Händen gehalten. Er war ein Geschenk von König Magni Bronzebart gewesen, und es hatte Jaina tief bewegt, als Anduin die Waffe an Baine weitergereicht hatte: Der Sohn eines Königs der Allianz schenkte dem Sohn eines Häuptlings der Horde etwas so Schönes und Wertvolles. Als Baine den Streitkolben angenommen hatte, hatte auch der Furchtbrecher sein Einverständnis gezeigt, indem er in der riesigen Hand des Orcs leicht aufgeglüht war.

„Darauf hat er gezählt. Lady Jaina – mein Oberhäuptling denkt voller Wertschätzung und Respekt von Euch, und wegen des Gedenkens an jene Nacht, als er den Furchtbrecher erhalten hat, lässt er Euch diese Warnung überbringen. Die Feste Nordwacht ist an die Horde gefallen.“ Er sprach diese Worte ohne jede Freude aus; tatsächlich wirkte Perith grimmig und betrübt. „Was meinen Oberhäuptling noch weiter besorgt, ist, dass dieser Sieg durch den Einsatz dunkler Schamanenmagie errungen wurde. Er verachtet dieses Vorgehen, aber um sein Volk zu beschützen, hat sich Baine einverstanden erklärt, der Horde weiter zu dienen, sollten seine Dienste wieder erbeten werden. Er möchte jedoch betonen, dass ihm diese Pflichten keinerlei Freude bereiten.“

Jaina nickte. „Das glaube ich ihm nur zu gern. Dennoch hat er sich an einem Akt der Aggression gegen die Allianz beteiligt. Die Feste Nordwacht …“

„Ist nur der Anfang“, unterbrach Perith sie. „Höllschrei will viel mehr einnehmen als nur einen simplen Außenposten.“

Was?

„Sein Ziel ist nichts anderes als die Eroberung des gesamten Kontinents“, fuhr Perith fort, und nicht einmal die ruhige Stimme dieses Tauren konnte den Worten etwas von ihrem gnadenlosen Schrecken nehmen. „Schon bald wird er der Horde den Befehl geben, gegen Theramore zu marschieren. Und hört auf meine Worte, wenn ich sage, dass seine Armee gewaltig ist. So, wie es im Moment steht, werdet Ihr unterliegen.“

Diese Aussage machte er nicht, um sie einzuschüchtern. Er konfrontierte sie einfach nur ehrlich und direkt mit der Wahrheit. Jaina schluckte.

„Mein Oberhäuptling hat nicht vergessen, wie Ihr ihm einst geholfen habt, darum hat er mich gebeten, Euch zu warnen. Er möchte nicht, dass Euch der Angriff unvorbereitet trifft.“

Diese Geste überwältigte Jaina. „Euer Oberhäuptling“, sagte sie mit überquellendem Herzen, „ist wahrlich ein ehrenwerter Taure. Es erfüllt mich mit Stolz, dass er eine so hohe Meinung von mir hat, und ich danke ihm für diese frühzeitige Warnung. Bitte sagt ihm, dass er auf diese Weise geholfen hat, unschuldige Leben zu retten!“

„Er bedauert, nicht mehr für Euch tun zu können, als Euch zu warnen, Mylady. Und … er bittet Euch, den Furchtbrecher entgegenzunehmen und ihn demjenigen zurückzugeben, der ihn ihm einst so großzügig zum Geschenk machte. Mein Oberhäuptling glaubt, dass er diese Waffe nicht länger tragen sollte.“

Jaina nickte, obwohl rasch emporsteigende Tränen in ihren Augen brannten. Sie hatte gehofft, jene Nacht möge der Beginn eines Heilungsprozesses gewesen sein, der Beginn eines gegenseitigen Verständnisses. Doch dies hatte nicht sein sollen. Was ihr Baine auf die für ihn so typische, sanfte Weise mitteilte, war, dass ihre Freundschaft nur bis zu einem gewissen Grad reichte – er war kein Mitglied der Allianz und würde auch niemals eines sein. Nein, er würde bei der Horde bleiben und mit ihr kämpfen. Sie verstand das, da sie wusste, wie verwundbar das Volk der Tauren wäre, falls es sich jetzt gegen Garrosh stellte. Und auch sie wollte nicht, dass ihnen Leid widerfuhr.

„Ich werde dafür sorgen, dass der Furchtbrecher seinem vorherigen Besitzer zurückgegeben wird“, versprach sie, und in diesen wenigen Worten klangen all die Schattierungen und die Widersprüche in ihrem Herzen wider.

Perith war ein ausgezeichneter Kurier. Er begriff, was sie meinte, und verbeugte sich tief, während Jaina zu dem kleinen Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes hinüberging. Nachdem sie Pergament, Tinte, Federkiel und Wachs hervorgeholt hatte, schrieb sie mit flinker Hand einen kurzen Brief, anschließend stäubte sie Puder auf die Tinte, damit sie schneller trocknete. Dann faltete sie das Pergamentpapier zusammen. Zu guter Letzt versiegelte sie den Brief noch mit rotem Wachs und ihrem eigenen, persönlichen Stempel, dann stand sie auf und hielt ihn dem wartenden Tauren hin.

„Das garantiert Euch sicheres Geleit durch das Gebiet der Allianz, solltet Ihr gefangen genommen werden.“

Er lachte. „Niemand wird mich gefangen nehmen, aber ich weiß Eure Sorge zu schätzen.“

„Und sagt Eurem noblen Oberhäuptling, dass es keine Gerüchte über einen Taurenspäher geben wird, der mich besucht hat! Allen, die mich fragen, werde ich sagen, dass wir die Nachricht von einem Kundschafter der Allianz erhalten haben, der vom Schlachtfeld entkommen konnte. Nehmt Euch Proviant und kehrt sicher zu Eurem Volk zurück!“

„Möge die Erdenmutter auf Euch herablächeln, Lady“, sagte Perith. „Jetzt, da ich Euch begegnet bin, kann ich die Entscheidung meines Oberhäuptlings noch besser verstehen.“

Sie lächelte ihn traurig an. „Das Licht sei mit Euch, Perith Sturmhuf.“

„Das Licht? Vielleicht eines Tages. Aber heute ist dieser Tag noch nicht gekommen.“

Sie blickte ihm nach und musste den unsinnigen Drang unterdrücken, ihm nachzurufen und allen Tauren Asyl anzubieten. Sie wollte Baine nicht in der Schlacht gegenüberstehen, wollte nicht Zauber wirken müssen, die diese sanften, weisen Kreaturen töten würden. Doch die Tauren waren Jäger, Krieger, und als solche würden sie sich nie vor ihrer Pflicht drücken. Baine hatte bereits alles getan, was er tun konnte – und um ehrlich zu sein, war es sogar viel mehr, als Jaina erwartet hatte. Nicht wenige würden eine solche Warnung als Hochverrat bezeichnen.

Sie konnte nur hoffen, dass diese Geste für den Oberhäuptling der Tauren nicht zu einem Stolperstein wurde.

Jaina begrub das Gesicht in den Händen und sammelte Stärke. Als sie sich wieder gefasst hatte, rief sie nach der Leidenden.

„Weck Tervosh und ruf Kinndy zurück! Sie sollen sich in der Bibliothek mit mir treffen.“

„Darf ich fragen, worum es geht?“

Jaina blickte ihre Leibwächterin und Freundin mit müdem Gesicht an. „Krieg“ war alles, was sie sagte.

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