10

Es schien, als wären der Fokussierenden Iris Flügel gewachsen, so schnell bewegte sie sich, und Kalecgos hatte den Großteil des Tages damit verbracht, ihrer Spur pflichtbewusst zu folgen, wie eine Dogge, die einer Fährte nachging. Als er von Theramore aufgebrochen war, hatte ihn das Artefakt von der Insel aus nach Nordosten geführt, und Kalecgos hatte vermutet, dass sie sich nun in Mulgore befand, vielleicht in der Nähe von Donnerfels. Als der Drache dann das Große Tor erreichte, verharrte die Iris einen Moment lang und begann anschließend nach Nordwesten zu wandern, in Richtung Orgrimmar. Kalec folgte ihrer Aura, so schnell ihn seine Flügel durch die Luft tragen konnten, um den Abstand zu verringern. Aber kaum dass er das Wegekreuz passiert hatte, schlug die Iris einen weiteren Haken, und nun bewegte sie sich beinahe direkt nach Süden.

Da traf eine plötzliche Erkenntnis den Drachen – so heftig wie ein Blitz. Kurz stockte sein Flügelschlag.

„Ihr seid schlau, meine Feinde“, flüsterte er.

Man konnte ihnen jedenfalls nicht vorwerfen, Narren zu sein. Er hingegen hatte sich während dieser Reise schon mehr als einmal wie ein solcher verhalten. Erst war es ihm nicht gelungen, einen schlichten Zauber zu durchschauen, und dann war er in seiner Überheblichkeit davon ausgegangen, dass die Diebe, die mit der Fokussierenden Iris geflohen waren, nicht mit einem Verfolger rechneten.

Doch natürlich hatten sie geahnt, dass man ihnen nachsetzen würde. Man stahl einem Drachenschwarm nicht einfach so ein unschätzbar wertvolles Artefakt, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Sie hatten gewusst, dass sich ein Drache, vermutlich Kalecgos selbst, auf die Suche nach der Iris machen würde. Darum hatten sie mehr getan, als diesen Gegenstand nur zu tarnen. Auf irgendeine Weise transportierten sie ihn jetzt von Ort zu Ort, um ihren Verfolger zu erschöpfen, der den Bewegungen der Iris folgte, ohne jemals nahe genug heranzukommen, um sie tatsächlich zu finden.

Wenn er sich nicht irrte, nannten die Menschen so etwas einen Metzgergang.

Einen Moment lang konnte er sein Temperament nicht mehr beherrschen und brüllte seine Wut hinaus. Nicht einmal ein Drache konnte endlos weiterfliegen. Er würde die Iris nie einholen, wenn sie in Bewegung blieb. Noch während diese Erkenntnis in sein Bewusstsein sickerte, änderte das Artefakt einmal mehr seinen Kurs und raste in südwestlicher Richtung weiter.

Kalecgos’ Schwanz peitschte die Luft, seine Flügel schlugen heftig, aber dann beruhigte er sich wieder. Es stimmte: Solange die Diebe weiter so mit ihm spielten, würde er ihnen nie nahe genug kommen, um sich die Fokussierende Iris zurückzuholen.

Aber auch sie konnten nicht ständig in Bewegung bleiben. Doch solange das Artefakt in wildem Zickzackkurs durch das Land transportiert wurde, war Azeroth sicher; um den Gegenstand einzusetzen, müssten Kalecgos’ Feinde schon haltmachen.

Er war zwar gezwungen gewesen, eine Pause einzulegen, um sich zu erholen, aber während der vergangenen Stunden hatte ihn sein Weg dennoch über Silithus, den Krater von Un’Goro und Feralas hinweggeführt, dann weiter durch Mulgore und das Brachland, und jetzt …

Dort lag die Feste Nordwacht vor ihm, oder besser: das, was noch davon übrig war.

Einst hatte die Burg ihre Türme emporgereckt und die Bewohner mit ihren Mauern geschützt. Sie war ein militärisches Bollwerk gewesen, von dem aus Späher und Belagerungswaffen, Krieger und Generäle ins Feindesland vorstießen. Die Truppen, die Camp Taurajo zerstört hatten, waren hier stationiert gewesen. Jetzt aber sah es aus, als hätte die Hand eines Riesen die Feste wie ein Spielzeug zerschmettert. Von den Türmen zeugten nur noch Trümmerhaufen, ebenso von den Mauern. Die Kanonen schwiegen und Rauch stieg in einer dünnen grauen Linie von einem großen Feuer auf. Rings um die Ruinen des einst so stolzen Allianzstützpunktes schwärmten Hunderte winziger Gestalten umher.

Die Horde. Kalec flog zwar zu hoch, um ausmachen zu können, welche Rassen dort unten versammelt waren, aber er erkannte doch die Hauptfarben der einzelnen Banner. Alle Stämme waren hier versammelt. Da drehte der Wind, und der Drache verzog das Gesicht, als seine empfindliche Nase einen säuerlichen Geruch wahrnahm. Die Sieger verbrannten Leichen in der Feste – aber ob es nun eine andächtige Zeremonie war, um ihre eigenen Gefallenen zu bestatten, oder ob sie ihre Feinde auf den Scheiterhaufen warfen, Kalec konnte es nicht mit Gewissheit sagen – und er wollte es auch gar nicht wissen.

Die Spur der Fokussierenden Iris zog sich unbeeindruckt von alledem weiter dahin, dann beschrieb sie einen zusätzlichen Knick, wieder zurück in Richtung Mulgore. Doch Kalec beschloss, ihr nicht weiter zu folgen. Mit einem mächtigen Flügelschlag drehte er stattdessen seinen Körper und änderte den Kurs, sodass er direkt nach Süden flog. Er hatte einen neuen Plan gefasst.

Kalec konnte der Aura der Fokussierenden Iris auch von Theramore aus folgen – genau dies würde er also tun. Er würde warten, bis das Artefakt endlich an einem Ort verharrte, bis die Diebe ihres Spieles müde wurden, und dann würde er so schnell wie möglich dorthin fliegen. In der Zwischenzeit wollte er zu Jaina Prachtmeer zurückkehren.

Nach dem, was er gerade gesehen hatte, würde sie jede Hilfe brauchen, die sie nur bekommen konnte.


„Wie viele, hat er gesagt?“, fragte die Leidende. Sie, Tervosh, Kinndy und Jaina hatten sich in der Bibliothek versammelt, aber der lange Tisch, an dem sie in letzter Zeit so viele Stunden verbracht hatten, war nun nicht länger mit Büchern und Schriftrollen bedeckt. Stattdessen hatte man dort eine große Karte von Kalimdor ausgebreitet, und die einzigen Bücher, die noch auf der Tischfläche lagen, dienten dazu, die Ecken des Pergamentpapiers niederzudrücken.

„Er hat keine Angaben gemacht“, antwortete Jaina. „Zumindest keine genauen. Er meinte nur, die Armee der Horde werde gewaltig sein.“

„Seid Ihr sicher, dass Ihr ihm vertrauen könnt?“, wollte Kinndy wissen. „Ich meine, kommt schon – er ist ein Mitglied der Horde. Das könnte eine Falle sein. Wir rufen Verstärkung und ziehen unsere Truppen um Theramore zusammen, und dann greifen sie stattdessen Sturmwind an oder so etwas.“

„Für jemanden, der noch so jung ist, seid Ihr schon bemerkenswert misstrauisch“, sagte in diesem Augenblick eine Stimme.

Jaina wirbelte herum, und ihr Herz schlug leichter, als sie Kalec in das Zimmer treten sah. Ihre Freude wurde jedoch deutlich getrübt, als sie in sein Gesicht blickte. Es war noch immer attraktiv, und der Drache lächelte auch, aber er war bleicher, als sie ihn in Erinnerung hatte. Tiefe Furchen hatten sich in seine Stirn gegraben.

„Ihr konntet sie nicht finden“, stellte sie leise fest.

Kalec schüttelte den Kopf. „Sie spielen ein kleines Spiel mit mir“, erklärte er. „Wann immer ich mich der Fokussierenden Iris nähere, bringen sie sie an einen anderen Ort.“

„Sie versuchen, Euch zu ermüden“, nickte die Leidende. „Keine schlechte Strategie.“

„Schlecht oder nicht, es ist ebenso frustrierend, wie mit einem Goblin zu feilschen“, meinte Kalec. „Ich kann das Artefakt von hier aus spüren, also werde ich warten, bis sie langsamer werden und anhalten. Dann will ich wieder danach suchen.“

„Könnt Ihr es Euch denn leisten zu warten?“, fragte die Leidende.

Jaina antwortete an seiner statt. „Wir wissen nicht, was sie vorhaben, aber ein so altes Artefakt für ihre Pläne vorzubereiten – wie immer die auch aussehen mögen –, wird sie Zeit und Mühe kosten. Vor allem, da sie keine blauen Drachen sind und daher auch keine tiefer gehende Verbindung mit der Fokussierenden Iris haben. Kalecgos hat recht. Sobald die Iris zur Ruhe kommt, kann er sie aufspüren.“

„Ich hoffe nur, Ihr habt genug Zeit, sie zu erreichen“, sagte Kinndy.

„Wäre es Euch lieber, ich würde dort draußen endlos herumfliegen?“

„Nun, wenn Ihr so fragt – nein.“

Er nickte und wandte sich an Jaina. „Ich bin auch aus einem anderen Grund zurückgekehrt“, erklärte er. „Ich vermute, Ihr habt schon davon gehört, aber die Feste Nordwacht wurde von der Horde gestürmt. Ich habe gesehen, was noch von ihr übrig ist.“

„Wir wissen davon“, bestätigte sie. „Durch eine äußerst vertrauenswürdige Quelle. Aber – nun, Ihr habt es selbst gesehen. Außerdem wurde ich gewarnt, dass die Horde von dort gegen Theramore marschieren will.“

Kalec wurde noch ein wenig blasser. „Jaina – Ihr seid nicht im Geringsten auf einen solchen Angriff vorbereitet.“

„Man hat uns gesagt, ihre Streitmacht sei groß“, fügte Jaina hinzu. „Ja, und auch, dass wir ihnen zurzeit nichts entgegensetzen können. Aber dank dieser Warnung habe ich nun die Gelegenheit, eine Bitte um Hilfe an die Völker der Allianz zu schicken.“

„Ich weiß nicht, ob das reichen wird“, brummte Kalec. „Jaina, sämtliche Rassen der Horde waren dort. Sie haben die Nordwacht förmlich vom Angesicht Azeroths getilgt. Das Einzige, was man jetzt noch dort finden kann, sind Trümmer – und Scheiterhaufen. Aber die Truppen haben sich nicht aufgelöst. Ihre Armee ist noch immer eine Armee. Ich wünschte, ich könnte Euch wirklich zeigen, was ich gesehen habe. Falls Eure Bitte um Hilfe abgeschmettert werden sollte, werdet Ihr diesen Angriff nicht überleben.“

„Und dann wird Garrosh auch die restlichen Allianzstützpunkte hier vernichten“, sagte Tervosh. Kalec nickte, seine Augen waren voller Trauer.

Jaina blickte erst die beiden Männer an, dann die Leidende und Kinndy. „Ihr tut ja alle so, als hätte die Horde bereits gewonnen. Ich werde das nicht einfach so hinnehmen.“ Sie kniff die Augen zusammen und schob das Kinn trotzig vor. „Ich glaube Kalec, wenn er sagt, dass eine Armee der Horde bei der Nordwacht ihr Lager aufgeschlagen hat. Aber falls sie jetzt dort sind, dann heißt das doch auch, dass sie noch nicht marschieren. Und falls sie nicht marschieren, sind sie noch nicht bereit, uns anzugreifen. Und dies wiederum bedeutet, dass wir noch Zeit haben.“

Sie ging zu dem Tisch zurück, wobei sie Kalecs neugierigen Blick auf sich spürte. „Seht! Hier liegt die Nordwacht.“ Ihr schlanker Finger tippte auf die Karte. „Und hier, das ist Theramore.“ Ihr Finger glitt nach rechts unten über das Pergament. „Da drüben liegt Brackenwall; einige Mitglieder der Horde leben dort, aber es ist kein militärischer Außenposten. Allerdings liegt dieses Dorf zwischen der Triumphfeste und uns.“ Besagte Triumphfeste war eine noch relativ junge Militärbasis, und Jaina war sicher, dass – wäre mehr Zeit gewesen – die Besatzung dieses Forts Verstärkung zur Nordwacht entsandt hätte. Für die Feste mochte es inzwischen zu spät sein, aber sie betete, dass es für Theramore noch eine Chance gab.

„Falls die Soldaten aus der Triumphfeste durch die Düstermarschen kommen, sollten sie sich unbemerkt an Brackenwall vorbeischleichen können. Sie müssen nur vorsichtig sein. Außerdem können wir Boten zum Gefechtsstand schicken.“

„Falls dort überhaupt noch jemand ist“, warf Kalec ein. „Als ich über den Stützpunkt hinwegflog, machte er einen ziemlich verlassenen Eindruck.“

„Die meisten Soldaten sind wahrscheinlich losgeeilt, um der Nordwacht zu helfen“, vermutete Kinndy.

Was bedeutete, dass die meisten von ihnen nun wohl tot waren, überlegte Jaina. Ein schmerzhafter Stich begleitete den Gedanken, und sie schüttelte das goldene Haupt, wie um das Bild durch eine physische Bewegung vor ihrem inneren Auge zu verscheuchen.

„Alle, die vom Schlachtfeld fliehen konnten, werden sich vermutlich eher bei der Triumphfeste gesammelt haben als in Ratschet“, erklärte sie. „Das ist also der erste Ort, an dem wir nach Überlebenden suchen sollten.“

Kalec trat neben sie und blickte konzentriert auf die Karte hinab. Sie musterte ihn fragend, in der Erwartung, dass er einen Kommentar anbieten werde. Doch er schüttelte nur den Kopf. „Fahrt fort“, sagte er.

„Theramore ist zugleich höchst verwundbar und leicht zu verteidigen. Es kommt ganz darauf an, wie schnell die Verstärkung da sein wird. Falls wir uns beeilen, könnte uns Sturmwind noch rechtzeitig einen Teil seiner Flotte schicken, dann kommen die Schiffe der Horde nicht nahe genug heran, um ihre Mannschaften an Land zu entlassen.“ Sie platzierte ihren Finger auf der Karte und zeichnete einen Halbkreis um Theramore.

„Falls die Horde den Hafen aber zuerst erreicht“, murrte die Leidende, „haben wir nicht die geringste Chance.“

Jaina drehte sich zu ihr herum. „Das stimmt“, sagte sie. „Vielleicht sollten wir einfach unsere Waffen niederlegen und uns am Hafen aufstellen, um die Horde zu begrüßen. So würden wir uns die Mühe sparen, gegen sie kämpfen zu müssen.“

Die lila-rosafarbenen Wangen der Nachtelfin nahmen eine noch tiefere Färbung an. „Ihr wisst, dass ich auf so etwas nicht hinauswollte.“

„Natürlich wolltest du das nicht. Aber wir müssen mit der Hoffnung – nein, mit der Überzeugung – an diese Schlacht herangehen, dass wir gewinnen werden. Falls jemand Fehler in meinem Plan entdeckt, kann er das gerne sagen.“ Das galt vor allem Kalecgos; die Leidende, Kinndy und Tervosh wussten bereits, dass sie für konstruktive Kritik jederzeit offen war. „Aber solche Kommentare, Leidende, senken nur unsere Moral. Theramore hat sich in der Vergangenheit schon oft verteidigt. Und wir werden es wieder tun.“

„Wem habt Ihr bislang schon Hilfeschreiben geschickt?“, fragte Kalec.

Jaina lächelte schwach. „Hilfeschreiben? Niemandem. Und ich habe mich auch nirgendwohin teleportiert. Ich habe eine Möglichkeit, mich direkt mit König Varian, dem jungen Anduin und dem Rat der drei Hämmer in Verbindung zu setzen.“

„Das müssen interessante Gespräche sein“, meinte Kalec. „Nach dem, was ich gehört habe, scheinen die drei Zwerge nur in den wenigsten Dingen einer Meinung zu sein.“

Vor gar nicht allzu langer Zeit war Magni Bronzebart noch das Oberhaupt von Eisenschmiede gewesen. Doch als die Erde vor dem Kataklysmus immer mehr in Aufruhr geriet, hatte er versucht, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, und darum ein Ritual durchgeführt, das ihn „eins mit der Erde“ werden lassen sollte. In gewisser Weise war es auch ein Erfolg gewesen, denn Magni war im wahrsten Sinne des Wortes eins mit der Erde geworden: Er hatte sich in einen Diamanten verwandelt.

In dem folgenden Chaos hatte Magnis Tochter Moira versucht, mithilfe der Dunkeleisenzwerge den Thron und die Macht für sich in Anspruch zu nehmen. Doch schon bald war die Ordnung wiederhergestellt worden, und anstatt die Tradition eines einzelnen Herrschers fortzusetzen, hatten die Zwerge einen Rat ins Leben gerufen, in dem jeder Klan – Bronzebart, Wildhammer und Dunkeleisen – durch einen Repräsentanten vertreten war. Dieses Führungsgremium wurde der Rat der Drei Hämmer genannt, und auch, wenn die einzelnen Mitglieder zusammenarbeiteten, war es doch jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung für sie, eine einstimmige Entscheidung zu finden.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass einem von ihnen die Vorstellung gefällt, die Horde beherrsche Kalimdor“, sagte Jaina. „Über einige Details mögen sie streiten, aber in der Sache werden sich alle drei einig sein.“

Plötzlich wirkte Kalecgos beklommen, und Jaina glaubte, auch zu wissen, warum. Sanft legte sie ihm die Hand auf den Arm. „Ihr seid ein Drache, Kalecgos“, sagte sie. „Ihr müsst Euch nicht an diesen Vorbereitungen beteiligen. Vor allem, da Ihr ein ehemaliger Aspekt seid und mit der Suche nach einem gestohlenen Artefakt schon genug zu tun habt.“

Er lächelte. „Danke für Euer Verständnis, Jaina! Aber … ich möchte nicht, dass hier jemand zu Schaden kommt.“

„Lady Jaina weiß schon, was sie tut“, meinte Kinndy. „Die Allianz wird kommen und ihre Mitglieder beschützen.“

Kalecgos schüttelte den Kopf. „Das ist mehr als ein Scharmützel oder ein Angriff auf ein kleines Dorf. Falls die Horde Erfolg hat, wären Garroshs Träume, ganz Kalimdor zu kontrollieren, gar nicht mehr so weit hergeholt. Ich … brauche Zeit, um nachzudenken, bevor ich Euch Hilfe anbieten kann. Es tut mir leid, Jaina.“

Er blickte ihr direkt in die Augen, und da erkannte sie ohne jeden Zweifel, wie sehr ihn diese Sache quälte. Als hätten sie einen eigenen Willen, bewegten sich ihre und Kalecs Hand aufeinander zu, dann schlossen sie sich umeinander. Am liebsten hätte Jaina ihn gar nicht mehr losgelassen, aber sie wusste, dass sie sich jetzt ganz auf die Verteidigung von Theramore konzentrieren musste.

„Wir sollten sofort erste Schritte einleiten“, erklärte sie. „Ich werde mit Varian sprechen. Leidende, geh du zu den Soldaten – zu denen hier in Theramore und zu denen, die entlang der Straßen postiert sind. Falls es in der Späherwacht nicht mindestens ein Pferd gibt, besorg ihnen eines. Sie müssen in der Lage sein, schnell wie der Wind in die Stadt zu reiten, um Meldung zu machen, sobald sich die Horde auf der Straße nähert.“

Die Nachtelfin nickte, salutierte und rannte eilends aus dem Raum. „Was ist mit den Zivilisten?“, fragte Kinndy. „Sollen wir es ihnen auch sagen?“

Jaina dachte darüber nach, die Stirn in grüblerische Falten gelegt. „Ja“, sagte sie schließlich. „Ursprünglich war Theramore eine kriegerische Stadt. Wer sich entscheidet, an diesem Ort zu leben, weiß um seine strategische Position. Bislang war uns das Glück hier stets hold. Sie werden die Lage verstehen und unseren Befehlen gehorchen.“

Sie wandte sich Tervosh zu. „Du und Kinndy, ihr geht von Tür zu Tür und sagt den Bürgern Bescheid. Keine Schiffe dürfen den Hafen mehr verlassen – wir brauchen jeden Kahn, den wir haben. Diejenigen Zivilisten, die trotzdem aus der Stadt verschwinden möchten, können das tun, auch wenn ich glaube, dass sie hier sicherer sind als irgendwo draußen in den Marschen, wenn die Horde kommt. Die Tore bleiben noch bis zum Sonnenuntergang geöffnet, dann werden wir sie schließen. Und sie werden erst wieder geöffnet, wenn die Gefahr vorüber ist. Abgesehen davon werde ich eine Ausgangssperre verhängen, die zwei Glockenschläge nach Einbruch der Dunkelheit in Kraft tritt.“

„Warum nicht schon bei Sonnenuntergang?“, wollte Kalec wissen.

„Weil das Menschen sind, Personen, und sie sollen sich auch wie Personen fühlen, nicht wie eingesperrte Tiere. Bis zwei Stunden nach Sonnenuntergang werden sie alle noch einmal Gelegenheit haben, mit ihrer Familie in einer Taverne zu essen oder am Feuer mit ihren Freunden zu trinken. Wenn der Feind kommt, werden gerade so einfache Dinge wie diese sie an das erinnern, wofür sie kämpfen; nicht nur für irgendein Ideal oder für ihr Leben, sondern auch für ihr Zuhause, für ihre Familien und ihre Lebensart.“

Kalecgos wirkte überrascht. „Daran … habe ich gar nicht gedacht.“

„Gleichzeitig sind zwei Stunden aber zu kurz, als dass sich irgendjemand in große Schwierigkeiten bringen könnte“, meinte Kinndy. Jaina warf ihr einen verwirrten Blick zu und fragte sich, woher das Gnomenmädchen solche Dinge nur wusste? „Gute Idee.“

„Danke, Allwissende“, sagte sie, und als Kinndy daraufhin die Augen verdrehte, musste sie lächeln. „Gibt es noch Fragen?“

„Nein“, erklärte Kinndy. „Kommt schon, Tervosh! Ich übernehme den Hafen, und Ihr sprecht mit den Soldaten an der Wehrzitadelle. Und wenn Ihr schon da seid, fragt auch gleich nach, welche Mittel Doktor van Howzen benötigen wird, um die Verwundeten zu behandeln. Es gibt viele Zivilisten in der Stadt, die wissen, wie man Erste Hilfe leistet. Ich bin sicher, sie werden ihm gerne helfen.“

Tervosh unterdrückte ein Grinsen. „Jawohl, Boss“, sagte er, während Kinndy Jaina und Kalec noch kurz und abwesend zuwinkte, um dann schnellen Schrittes die Treppe hinabzusteigen. Mit einem Schulterzucken folgte der Erzmagier ihr.

„Eure Schülerin scheint sehr selbstbewusst zu sein“, kommentierte Kalecgos.

„Und ich hoffe, dass sie das auch bleibt“, meinte Jaina. „Kaum etwas ist gefährlicher als ein verunsicherter Magier. Ein Zögern zu einem kritischen Zeitpunkt kann viele Leben kosten.“

Er nickte. „Wohl wahr. Und … was kann ich tun, um Euch zu helfen?“

„Das lasse ich Euch noch wissen. Jetzt muss ich mich erst einmal mit König Varian in Verbindung setzen“, erklärte sie, bevor sie in entschuldigendem Ton hinzufügte: „Ich fürchte, er wäre nicht gerade glücklich, wenn er wüsste, dass ein blauer Drache bei dieser Unterredung zugegen ist.“

„Oh ja, ich verstehe“, nickte Kalec. „Ich werde in mein Zimmer zurückkehren, bis Ihr nach mir rufen lasst.“

„Nein, Ihr könnt ruhig mitkommen“, sagte Jaina. „Stellt Euch nur nicht vor den Spiegel!“

Sie lächelte, als sie seinen verwirrten Blick auffing.


Kalecgos folgte Jaina aus der Bibliothek, wo sich Tausende von Büchern aneinanderreihten, in ihren Salon, wo es vermutlich nur ein paar Dutzend gab. Die Lady von Theramore trat vor ein Regal und berührte drei dieser Bücher, in einer ganz bestimmten Reihenfolge, wie Kalec auffiel. Daher war er nicht sonderlich überrascht, als das Regal zur Seite glitt und einen ovalen Spiegel enthüllte, der hinter den Büchern verborgen gewesen war. Der Drache blinzelte. Innerhalb des unscheinbaren Rahmens konnte er nur Jainas und seine eigene Reflexion sehen.

„Ihr erwähntet einen Spiegel. Aber ich hoffe doch, dies ist mehr als nur ein diskreter Fingerzeig, dass ich mich rasieren sollte“, scherzte er.

„Viel mehr“, versicherte sie ihm. „Es basiert auf derselben Methodik, derselben Mathematik“ – sie verbeugte sich leicht – „wie ein Portal, nur dass es eben wesentlich schlichter und einfacher ist. Portale müssen in der Lage sein, jemanden an einen anderen Ort zu transportieren. Dieser Spiegel hingegen zeigt mir nur einen anderen Ort und, falls alles richtig abgestimmt ist, auch andere Personen. Ich werde ihn jetzt aktivieren, um Varian zu erreichen. Hoffen wir, dass er in der Nähe ist, sonst müssen wir es später noch einmal versuchen.“

Kalec schüttelte den Kopf, einmal mehr fasziniert von der wundervoll unkomplizierten Herangehensweise der jüngeren Rassen an die Magie. „Ich kenne diese Art von Zauber. Sie ist sehr alt und äußerst simpel, genau wie der Kostüm-Zauber, den die Diebe benutzt haben, um die Fokussierende Iris vor meinen Sinnen zu verbergen.“

„Und Euer Schwarm benutzt sie dennoch nicht?“

„Die meisten Drachen halten es für unter ihrer Würde, solche Wald- und Wiesenzauber einzusetzen“, erklärte er, nur um dann rasch hinzuzufügen: „Aber ich für meinen Teil finde, sie sind brillant.“

„Dann will ich mal versuchen, mich nicht beleidigt zu fühlen“, sagte Jaina. Aber obwohl sie die Worte in freundschaftlichem Ton aussprach, hatten sich ihre Augenbrauen wieder zusammengezogen.

„Verzeiht“, begann Kalec und griff nach ihren Händen, „ich bin unbeholfen und unhöflich. Ich halte diese Zauber wirklich für großartig. Wir Drachen …“ Er überlegte, wie er ihr die Einstellung der Drachenschwärme verständlich machen könnte, vor allem die des blauen Schwarms. „Drachen scheinen zu glauben, dass die Qualität einer Sache mit ihrer Komplexität zusammenhängt. Je länger es dauert, etwas auszuführen, je mehr Zutaten nötig sind, je mehr Personen daran beteiligt sein müssen, desto besser. Das gilt für Kleider, Mahlzeiten, Magie, Kunst – einfach für alles. Sie würden sich eher tagelang zurückziehen und einen komplizierten Zauber ersinnen, der einer Speise die richtige Würze verleiht, als einfach aufzustehen und den Pfefferstreuer zu holen.“

Das entlockte ihr ein Lächeln, wie er erleichtert feststellte. „Dann gefällt Euch also, wie einfach und unkompliziert ich bin?“, fragte sie nach.

Jeglicher Humor schmolz dahin. „Ihr gefallt mir“ war alles, was er sagen konnte. „Ich habe Euch einfach und offen erlebt, und ich habe Euch kompliziert und vielschichtig erlebt. All das steht Euch gut zu Gesicht. Das alles ist Jaina. Und … ich mag Jaina.“

Sie ließ seine Hand nicht los, blickte stattdessen auf sie hinab. „Solche Worte von einem Drachen, das ist ein großes Kompliment“, meinte sie.

Er legte ihr einen Finger unter das Kinn und drückte ihren Kopf sanft nach oben, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. „Falls das ein Kompliment ist, habt Ihr es Euch redlich verdient.“

Ihre Wangen röteten sich, als sie einen Schritt nach hinten machte und seine Hand losließ, dann strich sie ihr Kleid glatt, auch wenn das überhaupt nicht nötig war. „Nun … danke! So … wenn Ihr Euch jetzt bitte dort in diese Ecke stellen würdet. Ihr müsst außerhalb von Varians Blickfeld sein.“

„Euer Wunsch ist mir Befehl, Mylady“, sagte er und zog sich in die Ecke zurück, auf die sie gezeigt hatte.

Jaina wandte sich derweil dem Spiegel zu, und nachdem sie noch kurz innegehalten hatte, um sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn zu streichen, nahm sie einen tiefen, beruhigenden Atemzug. Nun wieder völlig beherrscht, murmelte sie eine Formel und bewegte ihre Hände. Vor Kalecs Augen erhellte ein bleiches blaues Leuchten ihr Gesicht, ein Schein, der weder den Lampen noch der Sonne entstammte.

„Jaina!“, sagte Varian. „Es tut gut, Euch zu sehen.“

„Ich freue mich ebenfalls, Varian. Auch, wenn ich wünschte, ich würde Euch nur sprechen, um mich nach Anduins Fortschritten zu erkundigen.“

„Das klingt, als sollte ich mir dasselbe wünschen. Was ist geschehen?“

Mit knappen Worten weihte sie ihn in die Lage ein. Die Nachricht vom Fall der Feste Nordwacht hatte den König noch nicht erreicht, und er lauschte Jainas Ausführungen größtenteils schweigend, nur ab und zu fragte er nach, um Unklarheiten auszuräumen. Zu guter Letzt erzählte sie ihm auch von der Warnung, dass die Ambitionen der Horde weit über die Nordwacht hinausreichten.

„Garrosh will ganz Kalimdor für sich“, erklärte sie leise. „Erst wird er Theramore einnehmen, und dann wird er seine Truppen über den Kontinent aussenden, bis nach Teldrassil.“

„Und falls Theramore fällt, könnte er damit sogar Erfolg haben“, knurrte Varian. „Verflucht, Jaina, hab ich Euch nicht immer wieder gewarnt, dass die Horde, auf die Ihr so große Stücke haltet, sich eines Tages gegen Euch wenden würde wie eine gezähmte wilde Bestie?“

Kalec zog die Augenbraue hoch, aber Jaina blieb ruhig. „Es ist ganz offensichtlich, dass Garrosh die treibende Kraft hinter diesen Plänen ist. Unter Thralls Führung hätte die Horde niemals etwas Derartiges gewagt.“

„Aber Thrall führt die Horde nicht mehr, und vielleicht muss nun Theramore – oder sogar ganz Kalimdor – den Preis bezahlen!“

Sie ging nicht auf den Vorwurf ein. „Ihr begreift also, wie ernst unsere Lage ist.“

Ein Seufzen. „Allerdings“, sagte Varian dann. „Und um Eure unausgesprochene Frage zu beantworten, ja, Sturmwind wird Theramore beistehen. Ich werde der Flotte der Siebten Legion sofort den Befehl zum Aufbruch geben.“ Kurz zögerte er. „Und da zumindest in einigen Teilen dieser Welt so etwas wie Ruhe eingekehrt zu sein scheint, werde ich auch einige meiner besten Generäle von ihren Posten abziehen und nach Theramore schicken. Sie werden Euch bei der Verteidigung der Stadt helfen, und ich bin mir sicher: Gemeinsam werdet Ihr eine Strategie ausarbeiten, um die Horde zu besiegen, damit diese Hunde mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurückrennen.“

Dankbar lächelte sie ihn an. „Varian – ich danke Euch.“

„Wartet noch etwas mit dem Dank“, ermahnte sie der König von Sturmwind. „Es wird ein paar Tage dauern, schließlich sollt Ihr die Horde mit einer ordentlichen Streitmacht begrüßen können, und einige der Generäle, die ich für diese Aufgabe im Sinn habe, sind zurzeit in entlegenen Gebieten stationiert.“

Kalecs Herz schlug schwerer. Die Horde war nur einen, höchstens zwei Tagesmärsche entfernt, und ihre Armee hatte sich bereits an der Nordwacht gesammelt. Grundsätzlich gab es an Varians Strategie nichts auszusetzen, aber all seine Schiffe und alle seine Generäle würden Theramore nicht retten können, wenn sie eine Stunde zu spät kamen. Er wünschte, er könnte dies dem König sagen, doch stattdessen musste er sich damit begnügen, frustriert die Fäuste zu ballen. Schlimmer als seine eigene Enttäuschung war nur, den verblüfften, sorgenvollen Ausdruck auf Jainas Gesicht zu sehen.

„Seid Ihr sicher? Varian, Ka… einer meiner Späher sagte, dass er die Armee der Horde noch immer in voller Stärke bei der Nordwacht gesehen habe.“

„Nun, solange sie dort sind, marschieren sie zumindest nicht nach Theramore“, übte sich Varian in Zuversicht. „Sie scheinen gar nicht an einer schnellen Eroberung interessiert zu sein. Vermutlich haben sie ganz eigene Pläne. Ich werde alle zur Eile antreiben, Jaina, aber es braucht seine Zeit, eine Flotte zusammenzustellen, die gegen einen solchen Feind etwas ausrichten kann. Und an dieser Tatsache lässt sich auch nichts ändern. Es tut mir leid, das ist alles, was ich tun kann.“

Jaina nickte. „Ich weiß, Varian. Eure Einschätzung gibt mir Hoffnung. Ich werde mich auch mit den anderen Anführern der Allianz in Verbindung setzen. Vielleicht können uns die Kaldorei Schiffe und Soldaten schicken, und die Zwerge Krieger und ein paar Greife. Ich glaube, sogar die Draenei wären unter diesen Umständen bereit, uns zu helfen.“

„Ich werde mit Graumähne sprechen“, versprach Varian. „Ich kenne ein paar Worgen, die auf dem Schlachtfeld selbst den monströsesten Kämpfern der Horde das Fürchten lehren.“

„Danke“, sagte Jaina noch einmal. „Wenn man auf einer Insel lebt, fühlt man sich schnell ein wenig verlassen.“

„Dafür gibt es keinen Grund“, versicherte Varian mit gütiger Stimme. „Meldet Euch in ein paar Stunden noch einmal, dann wollen wir uns darüber austauschen, was wir inzwischen herausgefunden haben. Gebt acht, Jaina! Wir werden gewinnen.“

„Ich weiß“, sagte sie.

Während das sanfte blaue Licht des magischen Spiegels schwand und ihre Züge wieder ihre übliche Farbe annahmen, traf Kalecgos einen Entschluss: Was immer geschehen mochte, er würde alles in seiner Kraft Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Jainas Hoffnung nicht enttäuscht wurde.

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