22

Die Violette Zitadelle wirkte still und düster, als Jaina die Steinstufen aus der Eingangshalle langsam hinaufstieg. Schmerz erfüllte diesen Ort. Einst hatte sie sich in Dalaran fröhlich und unbeschwert gefühlt, was natürlich zum einen Teil an der Eleganz der Bauwerke und Verzierungen lag, vor allem aber daran, dass die Magie an diesem Ort allgegenwärtig schien. Jetzt hingegen fühlte sich die Stadt an, als lastete … ein schweres Gewicht auf ihr. Jaina, die ihre eigenen Bürden tragen musste, konnte es spüren, und sie empfand ein tiefes Mitgefühl mit all denen, die so viel verloren hatten.

Mehrere äußerst mächtige Magier, einschließlich des Anführers der Kirin Tor, dazu ein Verräter, der zumindest einen Teil der Verantwortung für diese bitteren Verluste trug. Kein Wunder, dass selbst die Luft in Dalaran mit Trauer vollgesogen schien.

„Lady Prachtmeer“, sagte eine brüchige Stimme hinter ihr, und als Jaina sich umdrehte, traf sie ein erneuter Stich des Mitgefühls.

Vereesa Windläufer stand allein in der großen Eingangshalle, gekleidet in einen neuen Plattenpanzer, der in mehreren Silber- und Blautönen schimmerte. Alle Wunden, die sie während der Schlacht davongetragen haben mochte, waren inzwischen wieder vollständig oder zumindest größtenteils verheilt – alle bis auf eine, die nie verheilen würde, wie Jaina wusste.

Die Witwe von Rhonin wirkte so teilnahmslos, als wäre sie nicht mehr als eine zum Leben erwachte Statue. Allein der Zorn, der in ihren blauen Augen funkelte, störte dieses Bild, und Jaina fragte sich, ob diese Wut wohl der Horde galt, die ihren Ehemann umgebracht hatte, oder vielleicht ihr? Oder gar sich selbst, weil sie überlebt hatte?

„Waldläufergenerälin Vereesa“, grüßte sie. „Ich … mir fehlen die Worte.“

Vereesa schüttelte den Kopf. „Worte sind bedeutungslos“, erklärte sie rundheraus. „Allein Taten zählen. Ich habe auf Euch gewartet, seit ich hörte, dass Ihr noch lebt, denn ich wusste, Ihr würdet kommen. Nun stehe ich also vor Euch und bitte Euch: Helft mir, das zu tun, was ich tun muss. Ihr habt überlebt; mein geliebter Gatte nicht. Ihr, ich und eine Handvoll Nachtelfen aus der Schildwache sind die Einzigen, die noch Zeugnis von dem Blutbad in Theramore ablegen können. Ihr seid gewiss hier, um mit den Kirin Tor zu sprechen. Dürfte ich fragen, was Ihr ihnen zu sagen gedenkt?“

Jaina wusste, dass Vereesa die Leiterin des Silberbundes war, einer Vereinigung, die die Hochelfin selbst gegründet hatte, um einem möglichen Verrat durch die Sonnenhäscher entgegenzuwirken – das waren jene Blutelfen, denen man Zutritt zu den Reihen der Kirin Tor gewährt hatte. In dieser Funktion suchte Vereesa die Öffentlichkeit und übte auch offen Kritik, im Kreise der Kirin Tor hatte sie jedoch offiziell keine Stimme. Jaina eigentlich ebenso wenig, aber sie war die einzige Überlebende, die aus erster Hand von dieser Katastrophe berichten konnte. Außerdem hatte Rhonin ausgerechnet sie durch ein Portal in Sicherheit gebracht, noch während er die Manabombe zu sich herangezogen hatte – Vereesa wusste also, dass man ihr eine Audienz gewähren würde. Jetzt, da Rhonin fort war, musste Jaina plötzlich wieder an ihre Unterhaltung denken, daran, wie er ihr gesagt hatte, dass viele bei den Kirin Tor wünschten, sie hätte einen anderen Pfad gewählt und sich ihren Reihen angeschlossen.

Es traf zu, Jaina war kein Mitglied der Kirin Tor, aber sie würde ohne jeden Zweifel vor ihnen sprechen dürfen.

Vereesa blickte sie noch immer an, ihr Gesicht stellte eine undurchdringliche Maske dar, hinter der sich sicherlich ein Mahlstrom aus Verzweiflung und Wut verbarg. Plötzlich von ihren eigenen Gefühlen überwältigt, trat Jaina auf sie zu, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Rhonin dachte nur an zwei Dinge, als er starb. Er wollte die Gewissheit, dass Ihr überlebt – und er wollte mich in Sicherheit bringen. Er hat unser beider Leben gerettet, indem er sein eigenes opferte.“

„… was?“

„Die Bombe landete nur deshalb an dieser Stelle, weil Rhonin sie zu sich heranzog. Der Turm war schwer befestigt und durch Magie geschützt. Er glaubte, dort richte die Explosion weniger Schaden an als …“

Erste Risse zeigten sich in der Fassade, als Vereesa eine zitternde Hand an die Lippen hob, doch sie lauschte weiter auf Jainas Worte.

„Er – er sagte mir, ich müsse überleben, weil ich die Zukunft der Kirin Tor wäre, und dass wir beide sterben würden, falls ich nicht durch das Portal ginge, das er unter solchen Mühen offen hielt – dann wären all seine Anstrengungen umsonst gewesen. Als ich mich weigerte zu gehen, da stieß er mich hindurch. Vereesa, ich weiß nicht, warum er das getan hat. Theramore war doch meine Stadt; ich hätte für sie sterben sollen. Stattdessen war er es, der sich opferte. Und solange ich lebe, werde ich das nicht vergessen. Ich werde alles tun, um mich seines Opfers als würdig zu erweisen. Ich war dort, Vereesa. Ich weiß, was er getan hat. Und ich werde dem Rat vorschlagen, dafür zu sorgen, dass die Horde nie, niemals wieder eine so mächtige Stellung innehaben wird. Damit niemals wieder jemand so entsetzlich leiden muss wie wir.“

Vereesas Lippen verzogen sich zu einem bebenden Lächeln. Bevor sich Jaina versah, hatte die andere Frau sie fest umarmt, und sie spürte warme Tränen an ihrem Hals.


Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche stand Jaina in der Kammer der Luft. Alles sah genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch, sofern etwas, das sich ständig veränderte, überhaupt genauso aussehen konnte. Der schlichte graue Steinboden unter ihren Füßen war derselbe, und das Bild eines ewig von Tag zu Nacht und von Sturm zu Sternenzelt wechselnden Himmels schien ihr zumindest vertraut zu sein. Dennoch war nun nichts mehr so wie noch vor ein paar Tagen. Der erhabene Ausblick faszinierte sie nicht länger, ebenso wenig fühlte sie sich geehrt, vor dem Rat der Sechs sprechen zu dürfen. Völlig ungerührt blickte sie in die Gesichter der verbliebenen Ratsmitglieder.

Neben ihnen – wenn sie auch nicht offiziell eine von ihnen war – stand die wie versteinert wirkende Vereesa. Jaina war froh, dass man ihr gestattet hatte, an diesem Treffen teilzunehmen. Das Recht dazu hatte sie sich teuer verdient, als sie den einen verlor, den sie mehr liebte als alles andere in der Welt.

„Der Anlass, der Lady Jaina Prachtmeer ein zweites Mal in diese Hallen führt, ist ein äußerst betrüblicher. Dennoch freut es uns zu sehen, dass Ihr überlebt habt.“ Es war Khadgar, der das Wort ergriff, und so, wie er dastand, schien er plötzlich wirklich so alt zu sein, wie sein Aussehen glauben machte. Seine Stimme war müde, außerdem stützte er sich schwer auf seinen Stab. Und selbst seine einst so lebhaften Augen wirkten trübe und alt. Seine Gefährten machten einen ebenso ausgelaugten Eindruck. Modera hatte dunkle Ringe unter den Augen, und der disziplinierte Karlain hatte ganz offensichtlich die größte Mühe, seinen Zorn und Schmerz zurückzuhalten. Aethas, der Anführer der Sonnenhäscher, der Thalen Sangweber nach Theramore geschickt hatte, trug noch immer seinen Helm. Darum konnte Jaina seine Miene nicht erkennen, aber sein Körper wirkte angespannt.

„Danke, dass Ihr mich empfangt“, sagte Jaina. „Vergebt mir, wenn ich für Formalitäten keine Zeit verschwende! Als ich vor nicht allzu langer Zeit hierherkam, war es, um die Hilfe der Kirin Tor bei der Verteidigung von Theramore zu erbitten. Ihr habt mir diese Unterstützung gewährt, und ich bin Euch dafür dankbar. Doch nun trauere ich mit Euch, denn Erzmagier Rhonin ist tot. Er starb als Held, und nur ihm verdanke ich es, dass ich noch lebe. Seine Geste ehrt mich, und ich habe geschworen, ihr gerecht zu werden, so gut ich nur kann. Aber ich will keine langen Reden halten, also werde ich direkt zum Punkt kommen: Ich bin hier, weil ich möchte, dass Ihr die Allianz bei einem Angriff auf die Horde unterstützt. Garroshs Armeen haben sich in Orgrimmar versammelt, um zu speisen und zu trinken und ein Massaker zu feiern. Falls wir jetzt zuschlagen, können wir sie so vernichtend besiegen, dass sie nie wieder in der Lage sind, solche Gräueltaten zu begehen.“

„Dalaran ist neutral“, erklärte Modera. „Wir sind nur nach Theramore gekommen, um zu beraten und zu beschützen.“

„Und hättet Ihr mehr als nur das getan, würde Theramore auf zukünftigen Karten vielleicht noch verzeichnet sein“, schnappte Jaina. „Rhonin gab sein Leben, um die Zerstörung durch die Manabombe möglichst gering zu halten. Wären mehr Magier dort gewesen – hätten die Kirin Tor ihre ganze Macht auf die Seite von Theramore gestellt –, dann könnte er jetzt noch leben.“

„Ich bin … angewidert von Garroshs Grausamkeit“, sagte Aethas. „Und ich übernehme die volle Verantwortung für den Schaden, den einer meiner Sonnenhäscher angerichtet hat. Aber Orgrimmar anzugreifen, das kann unmöglich die Antwort sein.“

„Euch Sonnenhäschern darf man nicht trauen“, zischte da plötzlich Vereesa. Beschwörend blickte sie die anderen Mitglieder des Rates an. „Warum ist er überhaupt noch hier? Sie sind Verräter, bis zum letzten Blutelfen! Ich habe Euch gewarnt! Ihr hättet nie gestatten dürfen, dass sie den Kirin Tor beitreten!“

„Die Geschichte ist voller menschlicher und hochelfischer und gnomischer und orcischer Verräter“, entgegnete Aethas mit bemerkenswerter Beherrschung. „Ich werde tun, was ich kann, um Wiedergutmachung für den Verrat dieses Sonnenhäschers zu leisten. Ich habe ihn als Zeichen meines guten Willens nach Theramore geschickt, und die bittere Ironie dieser Tatsache ist mir durchaus bewusst. Aber wir dürfen uns nicht in Rachegedanken ergehen. Wir müssen an unserer Neutralität festhalten.“

Ein paar andere nickten, und Khadgar blickte nachdenklich drein, als ginge er alles Gehörte in seinem Kopf noch einmal durch. Jaina war fassungslos ob dieser Reaktionen, ob dieses Zögerns.

„Was muss noch geschehen, bevor Ihr erkennt, dass sich die Horde früher oder später auch gegen Euch wenden wird? Sie wissen nicht, was das Wort neutral bedeutet, ebenso wenig wie Diplomatie oder Anstand zu ihrem Wortschatz gehören. Sie werden Kalimdor einnehmen, und danach werden sie sich den Östlichen Königreichen zuwenden. Und dann werden sie hierherkommen. Wenn Ihr Euch heute weigert, sie aufzuhalten, werden sie morgen oder übermorgen ihre Klauen nach Dalaran selbst ausstrecken! Darum bitte ich Euch: Schlagt mit uns zu, solange wir es noch können! Wir haben die Stadt schon einmal angegriffen – lasst es uns nun ein zweites Mal tun! Tragen wir den Krieg nach Orgrimmar. Greifen wir von oben an, während sie noch betrunken auf dem Boden liegen und von weiteren Eroberungen träumen! Ihr habt Rhonin und eine ganze Stadt verloren? Reicht Euch das denn nicht? Wollt Ihr erst handeln, wenn Teldrassil gefallen ist? Wenn sie einen Weltenbaum niedergebrannt haben?“

„Lady Jaina“, sagte Modera, „Ihr habt unaussprechliches Leid durchstanden. Ihr musstet zahlreiche Gräuel mit ansehen und erleben, wie ein Freund starb, um Euch zu retten. Glaubt mir, hier gibt es niemanden, der die Taten der Horde gutheißt. Aber … wir müssen uns besprechen, bevor wir über unser weiteres Vorgehen entscheiden. Sobald wir eine Übereinkunft getroffen haben, werden wir es Euch mitteilen.“

Jaina biss sich auf die Zunge, um die Flut an wütenden Entgegnungen zurückzuhalten. Der Rat der Sechs würde das Richtige tun. Er musste es ganz einfach.


Pakke und Jaxi Funkenleuchter fand sie in einer ruhigen Nische des Gasthauses Zum Gefeierten Helden. Das sonst so lebhafte und helle Gasthaus war von Stille und Schatten erfüllt; „Gefeiert“ wurde hier im Augenblick beileibe nichts. Jaina zögerte auf der Türschwelle, unsicher, ob sie das Ehepaar nicht vielleicht doch besser alleine trauern lassen sollte. Zudem wusste sie nicht, ob sie das Leid ertragen könnte, das sie in den Augen der beiden zu sehen bekäme. Sie hatten ihr Kinndy anvertraut, und sie hatte es nicht geschafft, ihre Tochter zu beschützen. Es war nicht einmal genug von ihr übrig geblieben, um sie zu beerdigen.

Jaina schloss die Augen gegen das Brennen der Tränen und wandte sich ab, um das Gasthaus zu verlassen. Doch genau in diesem Moment drang eine Stimme an ihre Ohren. „Lady Prachtmeer?“

Sie zuckte zusammen, drehte sich aber wieder herum. Die beiden Gnome waren hinter ihrem Tisch hervorgerutscht und kamen auf sie zu. Wie alt sie inzwischen wirkten!, dachte die Lady von Theramore. Kinndy war Pakke und Jaxi erst spät geschenkt worden, ein kleines Wunder hatten sie sie genannt. Nun hallten auch Jainas eigene Worte in ihrem Kopf wider: Ich gebe Euch mein Wort, ich werde sie beschützen, so gut ich nur kann.

Sie hatte vorgehabt, Kinndy wortreich zu loben, um dem Mädchen gerecht zu werden und ihrer trauernden Familie etwas Trost zu spenden. Sie sollten wissen, dass ihre Tochter gut und tapfer gekämpft hatte, dass sie das Leben jeder Person erhellt hatte, der sie begegnet war. Dass sie bei dem Versuch gestorben war, andere zu verteidigen.

Was stattdessen aus ihr hervorplatzte, war: „Es tut mir leid. Es tut mir so leid!“ Nun waren es die Funkenleuchters, die Jaina Prachtmeer Trost spenden mussten. Nach einigen Sekunden setzten sie sich wieder an den Tisch und begannen über Kinndy zu sprechen, allesamt erfüllt von dem Wunsch, dass ihr persönlicher Heilungsprozess bereits weiter vorangeschritten wäre.

„Ich habe die Kirin Tor um Hilfe gebeten“, sagte Jaina schließlich, als sie das Gefühl hatte, ihre Gefühle würden sie überwältigen, wenn sie noch weiter über ihre Schülerin sprach. „Ich hoffe, sie werden sich der Allianz beim Angriff auf Orgrimmar anschließen. Damit nicht noch mehr Leute so enden müssen wie – wie Kinndy.“

Pakke wandte einen Moment den Blick ab, und Jaina erkannte, dass er dem Läuten des Glockenturms lauschte. Doch bevor sie sich dafür entschuldigen konnte, dass sie die beiden so lange aufgehalten hatte, rutschte der Gnom von seinem Stuhl. „Es ist neun Uhr.“

„Oh ja!“ Jetzt fiel es ihr wieder ein. „Ihr entzündet die Straßenlaternen in Dalaran. Ich möchte Euch nicht weiter aufhalten.“

Der kleine Magier schluckte hart, und dann funkelten seine hellen Augen noch heller, als sie sich mit Tränen füllten. „Begleitet mich doch auf meiner Runde“, schlug er vor. „Ich habe … eine Sondergenehmigung. Zwar nur für einmal, aber … es würde mir viel bedeuten.“

Kurz flackerte wieder Jaxis altes Selbst auf, während sie die beiden vor sich her zum Eingang des Gasthauses scheuchte. „Ich habe ihn schon auf seiner Runde begleitet“, erklärte sie. „Ich glaube, es wäre gut, wenn Ihr mit ihm ginget.“

Jaina war verwirrt, aber Schmerz und Schuldgefühle hatten sie noch immer so fest in ihrem Griff, dass sie vermutlich alles tun würde, worum die Funkenleuchters sie bitten mochten. So folgte sie Pakke nach draußen, wobei sie ihre Schritte verlangsamte, damit sie den Gnom nicht sofort überholte.

Er schlurfte auf die Straße, und nachdem er unter einer der Laternen stehen geblieben war, zog er einen kurzen Stab mit einem beinahe schon kindisch wirkenden Stern an der Spitze hervor. Mit mehr Anmut, als man ihm eigentlich zutrauen wollte, richtete er den Stab auf die Lampe.

Ein Funke stob von der Spitze und tanzte wie ein Glühwürmchen durch die Luft. Doch die glühende magische Flamme entzündete die Laterne nicht sogleich; stattdessen malte sie Linien in die Luft oberhalb der Lampe. Jainas Augen weiteten sich, dann füllten sie sich mit Tränen.

Denn das goldene Licht zeichnete die Gestalt eines lachenden Gnomenmädchens mit Zöpfen nach. Nachdem die letzte Linie gezogen war, erwachte die winzige Gestalt kurz zum Leben, und als sich kleine Hände vor einen lachenden Mund hoben, hätte Jaina schwören können, dass sie Kinndys Stimme hörte. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, und als sie zu Pakke hinabblickte, sah sie, dass auch der Gnom weinte. Seine Lippen hatten sich jedoch zu einem liebevollen Lächeln verzogen. Einen Moment später lösten sich die goldenen Linien auf und flossen zu einem größeren Feuerball zusammen, der anschließend unter den Schirm der Lampe glitt. Nun, da die Laterne entzündet war, schlurfte Pakke zur nächsten hinüber. Jaina blieb, wo sie war, und beobachtete, wie der Magier seiner ermordeten Tochter auch dort Tribut zollte, indem er sie für ein paar Sekunden wieder zum Leben erweckte. Sie war sich sicher, dass er dieses Ritual von nun an jede Nacht zelebrieren würde. Irgendwann, wenn die Tragödie aus dem Gedächtnis der Leute von Dalaran verblasst wäre, würde man ihn wahrscheinlich bitten, die Straßenlaternen wieder auf die übliche Weise zu entzünden. Doch fürs Erste sollten die Bewohner der schwebenden Stadt Gelegenheit bekommen, Kinndy noch einmal so zu sehen, wie Jaina und ihre Eltern sie gekannt hatten – strahlend und fröhlich, mit einem Lachen auf dem Gesicht.


Es dauerte nicht lange, und Jaina wurde wieder in die Kammer der Luft bestellt. Zum nunmehr dritten Mal stand sie in der Mitte jenes bizarren, aber wunderschönen Raumes und musterte die Mitglieder des Rates mit erzwungener Ruhe.

„Lady Jaina Prachtmeer“, sagte Khadgar. „Bevor ich Euch unsere Entscheidung mitteile, sollt Ihr dies wissen: Jedes einzelne Mitglied dieses Rates verurteilt den Angriff auf Theramore aufs Schärfste. Es war ein Akt der Grausamkeit und Feigheit. Wir werden unser Missfallen der Horde gegenüber unmissverständlich zum Ausdruck bringen und sie warnen, nie wieder eine derart skrupellose Zerstörung zu säen. Aber dies sind schwere Zeiten, vor allem für jene von uns, die Magie beherrschen, einsetzen und kontrollieren. Vor wenigen Tagen beschlossen wir, Euch mit unserer Erfahrung und unserer Weisheit zu unterstützen. Wir erklärten uns sogar bereit, bei der Verteidigung von Theramore mitzuwirken. Wegen dieser Entscheidung wurden wir durch einen unserer eigenen Magier verraten und haben mehrere wertvolle Mitglieder verloren, darunter auch unseren Anführer, Erzmagier Rhonin. Die Magie steht in dieser Welt nun auf schwerem Posten, Lady. Niemand weiß, wer was tun soll. Die blauen Drachen haben nicht länger einen Aspekt, sie haben ein wertvolles Artefakt verloren. Und nun wurde dieser Gegenstand benutzt, um eine Stadt zu zerstören. Auch wir haben keinen Anführer mehr, der uns führen oder die Verantwortung übernehmen könnte.“

Jaina spürte ein Prickeln in ihrer Magengegend und musste an sich halten, um die Hände nicht zu Fäusten zu ballen. Sie wusste, was jetzt kommen würde.

„Wir können uns nicht um Azeroth kümmern, solange wir nicht Ordnung in unsere eigenen Reihen gebracht haben“, fuhr Khadgar fort. „Wir müssen uns neu sammeln und herausfinden, was in der Vergangenheit fehlgegangen ist. Wir können Euch nicht anbieten, was wir nicht haben, Lady. Und wir haben keine Gewissheit darüber, was als Nächstes geschehen muss. Ihr habt darum gebeten, dass wir die geballte Macht aller Magier gegen Orgrimmar wenden und eine ganze Stadt mit Zerstörung überziehen. Das können wir nicht tun, Jaina. Es ist unmöglich. Erst vor Kurzem sind wir reif genug geworden, um Vertreter der Horde – die Sonnenhäscher – in unseren Reihen zu akzeptieren, und nun sollen wir auf Euer Drängen hin Orgrimmar vernichten? Die Welt würde in einem Bürgerkrieg versinken. Mehr noch, wir selbst würden dafür sorgen, dass diese Stadt, die schon so viel durchleiden musste, ebenfalls auseinanderbräche. Doch auch, wenn dem nicht so wäre, falls Dalaran und die Kirin Tor so fest geschlossen wären – es gibt Händler und Handwerker und Gastwirte und Reisende in Orgrimmar, die nicht gegen Theramore marschiert sind. Beim Licht, es gibt sogar ein Waisenhaus in der Stadt, Mylady! Wir können – und wir werden – nicht Krieg gegen Unschuldige führen.“

Es dauerte eine Weile, bevor sich Jaina wieder so weit beruhigt hatte, um beherrscht sprechen zu können. „Die Waisen werden zu Kriegern der Horde heranwachsen“, sagte sie. „Man wird ihnen beibringen, uns zu hassen und gegen uns zu kämpfen. Es gibt keine Unschuldigen in dieser vom Licht verlassenen Stadt, Khadgar. Es gibt überhaupt keine Unschuldigen. Nicht mehr.“

Bevor Khadgar etwas erwidern konnte, öffnete Jaina ein Portal. Das Letzte, was sie sah, bevor sie hindurchtrat, war, wie sich die jungen – alten – Augen des Magiers mit Bedauern füllten.


Sie teleportierte sich nicht weit fort. Ihr Ziel war die Hauptbibliothek, ein Ort, den sie zum letzten Mal gesehen hatte, als sie noch in Dalaran gelebt und studiert hatte. Als sie, von einem der Bibliothekare begleitet, über die Schwelle trat, spürte sie kurz, wie die Luft in dem Raum gegen ihren Körper drückte, bevor sie sich teilte. In der Vergangenheit hatte sie einen Erkennungszauber wirken müssen, um die Bibliothek sicher betreten zu können; diesmal hatte der Bibliothekar, der sich noch immer an sie erinnerte, dies für sie übernommen.

Der Mann respektierte ihren Wunsch, sich allein zwischen den Büchern umzusehen. Er blickte sie mit einem traurigen, mitfühlenden Lächeln an, das sie an Khadgar erinnerte, und auch wenn sie sein Mitgefühl nicht wollte, würde sie es doch bereitwillig benutzen, um ihr Ziel zu erreichen. Denn ihre Bitte, er möge sie in dem gewaltigen Saal mit den unzähligen Büchern allein lassen, hatte nichts mit dem Bedürfnis nach Ruhe und Reflexion zu tun, das sie ihm vorspielte.

Sobald das Geräusch seiner Schritte verhallt war und sie sicher sein konnte, nicht mehr gestört zu werden, wandte Jaina ihre Aufmerksamkeit den Regalen zu. Es war eine einschüchternde Aufgabe, die sie sich gestellt hatte. Reihe um Reihe an Büchern erstreckte sich über die ganze Weite des Raumes, bis hoch unter die Decke. Jaina wusste aus Erfahrung, dass es keine echte Ordnung gab; Chaos und willkürliche Ablagesysteme sollten gewöhnliche Diebe verwirren, ohne Magier bei ihrer Suche zu behindern.

Sie hob die rechte Hand, und kleine glühende Punkte erschienen über ihren Fingerkuppen. Anschließend presste sie die Finger einen Augenblick lang gegen ihre Schläfen, und als sie nun wieder den Arm ausstreckte, lösten sich die schwachen, violett leuchtenden Lichter von ihren Fingerspitzen und glitten zum obersten Fach eines Regals hoch, wie winzige Ranken aus glühendem Dunst. Während Jaina mit ihren normalen Sinnen die Titel der Bücher und die Beschriftungen auf den Kästchen überflog, in denen Schriftrollen gesammelt waren, unterstützten die arkanen Dunstfäden ihre Suche auf magische Weise.

Die Zeit verging. Immer wieder stieß sie auf Wälzer, mit denen sie sich früher bereitwillig mehrere Tage lang in ihr Zimmer zurückgezogen hätte. Nun hatte Jaina jegliches Interesse an ihnen verloren. Ihre Gedanken galten einzig und allein ihrem Ziel. Titel um Titel arbeitete sie sich an den Reihen der Bücherrücken entlang, und ein ums andere Mal schüttelte sie nur den Kopf. Doch es musste hier sein. Dies war schließlich Dalaran.

Da sah sie plötzlich aus den Augenwinkeln, wie in einer Ecke der Bibliothek ein Licht aufglühte. Sie drehte sich mit einem Lächeln herum. Eine der kleinen arkanen Ranken war fündig geworden, in einem Regal, das einige der seltensten und gefährlichsten Bände in der gesamten Bibliothek enthielt. Dort standen Bücher, die man mit magischen Siegeln verschlossen hatte, und sogar solche, die unsichtbar waren.

Rasch huschte Jainas Blick über die Titel. Träumen mit Drachen: Die Wahre Geschichte der Aspekte von Azeroth. Tot, Untot und Was Dazwischen Liegt. Das Wissen der Titanen.

Das Sechste Element: Fortführende Methoden der Arkanen Verstärkung und Manipulation.

Vorsichtig legte sie die Hand auf den Rücken des Buches. Es fühlte sich an, als würde sie ein lebendes Wesen berühren. Es … schien sich unter ihren behutsamen Fingern regelrecht zu winden, und kaum dass sie es aus dem Regal gezogen hatte, begann es violett zu glühen, während das Summen von Warnzaubern ertönte. Jaina keuchte, und beinahe hätte sie das Buch fallen gelassen, als eine Wolke purpurnen Rauches aufstob und ein Bild formte.

Es war das Gesicht von Erzmagier Antonidas, der sie ernst und warnend anzublicken schien. „Dieses Buch ist nicht für unvorsichtige Hände oder neugierige Augen bestimmt“, erklärte seine vertraute, geliebte Stimme. „Wissen darf nicht verloren gehen, aber es darf auch nicht leichtfertig eingesetzt werden. Also halte deine Hand zurück – oder fahre fort, so du denn den Weg kennst!“

Jaina biss sich auf die Lippe, als sich Antonidas Züge auflösten. Jeder Magier, der ein Buch in die Bibliothek stellte, belegte es mit seinem oder ihrem eigenen Siegelzauber. Das bedeutete, dass Antonidas diesen Folianten einst entdeckt und anschließend hier auf dieses Regal gestellt haben musste, beides vermutlich schon lange vor Jainas Geburt. Der Staubschicht nach zu urteilen, die sich darauf gebildet hatte, war es seither nicht mehr gelesen worden. Musste dies vielleicht als eine Art Zeichen verstanden werden? War es ihr bestimmt gewesen, diesen Wälzer zu finden?

Das Buch glühte weiter vor sich hin, und da Jaina nicht die entsprechenden Worte kannte, um es zu öffnen, musste sie auf eine weniger vornehme Methode zurückgreifen. Es war möglich, das arkane Siegel zu brechen, aber dabei war schnelles Handeln gefragt, weil sonst die magischen Alarme ausgelöst würden. Sie ließ sich auf einen der bequemen Stühle in der Bibliothek fallen und legte das Buch auf ihren Schoß, dann holte sie tief Luft, um ihre Atmung zu beruhigen und ihren Geist zu befreien. Anschließend blickte sie auf ihre rechte Hand hinab und murmelte eine Zerschlagungsbeschwörung. Ein heller violetter Schein hüllte ihre Finger ein.

Nun hob sie auch die Linke und konzentrierte sich. Die Hand begann, vor ihren Augen zu verschwinden, und nur der blasse purpurne Schimmer rings herum blieb sichtbar.

Es konnte gelingen, aber sie musste schnell handeln. Nach einem letzten, beruhigenden Atemzug legte sie ihre rechte Hand auf das Buch.

Brich das Siegel!

Das violette Glühen, das ihren Fingen entströmte, tanzte und zuckte in winzigen Blitzen über den Einband. Jaina konnte spüren, wie die magischen Ketten, die Antonidas um das Werk geschlungen hatte, zerbrachen, wie sich das Buch … unter Schmerzen wand, als es gegen seinen Willen aufgezwungen wurde. Sie starrte darauf hinab, wagte es nicht zu blinzeln, und dann, genau in dem Augenblick, in dem die violetten Blitze verblassten, schlug sie mit der linken Hand auf das Buch hinunter.

Still!

Ein Feld aus hellem, weißem Licht hüllte den Wälzer ein und brachte den magischen Schrei zum Verstummen, der den Seiten entfloh. Nach ein paar Sekunden ließ der Schimmer um ihre Hände nach, während gleichzeitig ihre Linke wieder sichtbar wurde.

Sie hatte es geschafft.

Rasch, aber vorsichtig, mit Rücksicht auf das Alter des Buches, blätterte sie sich durch die Seiten, auf denen Illustrationen zahlreicher magischer Artefakte abgebildet waren. Die meisten von ihnen erkannte Jaina nicht; so vieles, schien es, war im Laufe der Zeit verloren gegangen …

Ah, da war es! Die Fokussierende Iris. Hastig las Jaina, wobei sie die faszinierenden, im Moment aber für sie uninteressanten Abschnitte übersprang, in denen erklärt wurde, wie die blauen Drachen den Gegenstand dereinst erschaffen hatten. Auch das, wofür die Iris in der Vergangenheit eingesetzt worden war, kümmerte sie jetzt nicht. Schließlich hatte sie schon mit eigenen Augen gesehen, was das Artefakt anrichten konnte. Nein, sie wollte viel eher wissen, was sie nun mit der Iris tun konnte.

… Verstärkung. Jeglicher arkane Befehl gewinnt an Macht, wenn das Objekt in die entsprechende Richtung gerichtet wird. Es ist die Theorie dieses Autors, dass das Arkane ein eigenes Element darstellt, und er verweist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, dass die Fokussierende Iris in mindestens einem dokumentierten Fall benutzt wurde, um mehrere Elementarwesen zu versklaven, zu führen und zu kontrollieren.

Jaina wurde beinahe schwindelig. Sie stand auf, und nachdem sie sich noch einmal umgeblickt hatte, um sicherzugehen, dass sie allein sich in dem gewaltigen Saal befand, hüllte sie das Buch behutsam in ihren Umhang. Anschließend ging sie zur Tür und stieg dann hastig die Stufen der Treppe hinab. Einen einzigen Ort gab es noch, den sie in Dalaran besuchen musste, bevor sie sich auf ihren einsamen Rachefeldzug begab.

Загрузка...