21

Mit Wunden am Körper und Schmerz im Herzen kehrte Kalecgos nach Nordrend und zum Nexus zurück. Trotz Jainas Worten war er ihr gefolgt, teils, weil er um ihre Sicherheit und geistige Gesundheit fürchtete, teils aber auch, weil er gespürt hatte, dass sich die Fokussierende Iris noch immer in Theramore befand. Er war hinter ihr zurückgefallen – schließlich musste er fliegen, behindert durch die nicht unerheblichen Wunden, die er aus der Schlacht davongetragen hatte, während sie sich einfach teleportieren konnte.

Kalec hatte den gewaltigen Krater gesehen, und das wenige – das schrecklich wenige –, was die Manabombe von Theramore übrig gelassen hatte. Doch die Fokussierende Iris hatte er nirgendwo gefunden. Jemand musste sie geholt haben, und der Drache vermutete, dass es Garrosh war; die Leben von ein paar hordetreuen Untertanen waren nichts im Vergleich zur Macht dieses Artefakts. Gewiss hatte der Kriegshäuptling eine Bergungsmannschaft losgeschickt, die ihm die Iris zurückbringen sollte.

Also hatte Kalec Kalimdor verlassen und war mühsam und gequält nach Norden geflogen. Er wusste, dass seine Suche außer einer verwüsteten Stadt, die stumm Zeugnis von seinem Versagen ablegte, keine Resultate erbracht hatte, von denen er seinen Brüdern und Schwestern beim blauen Schwarm erzählen konnte. Gewiss, er hatte sich ebenso unerwartet wie unzweifelhaft verliebt, aber wegen seiner Taten – oder seiner Versäumnisse – war Jaina nun am Boden zerstört. Ein Teil von ihm wollte einfach abdrehen, in irgendeine Richtung davonfliegen und nie wieder anhalten. Doch das war natürlich unmöglich. Die blauen Drachen hatten ihr Vertrauen in Kalecgos gesetzt. Es war seine Pflicht, ihnen zu berichten, was geschehen war, außerdem musste er herausfinden, welche Vorgehensweise sie nun von ihm erwarteten.

Kirygosa flog ihm entgegen, als er sich dem Nexus von Süden näherte. Einen Augenblick lang sauste sie um ihn herum, um ihre Freude über seine Rückkehr zu zeigen, dann setzte sie sich für den Rest des Weges neben ihn.

„Du bist verwundet“, sagte sie besorgt. Viele Schuppen waren von Kalecgos azurblauem Körper gerissen worden, und auf der Haut darunter prangten hässliche Blutergüsse. Er vermochte zwar noch zu fliegen, aber jeder Flügelschlag bereitete ihm Schmerzen.

„Ein wenig tut es weh, ja“, erklärte er.

„Das glaube ich“, erwiderte sie. „Was ist geschehen? Wir haben etwas Schreckliches gespürt … und warum hast du die Fokussierende Iris nicht bei dir?“

„Das ist eine Geschichte, die ich nur einmal erzählen möchte“, erklärte er, und seine Stimme verriet, wie tief der Schmerz in seinem Herzen war. „Würdest du bitte die anderen versammeln, liebste Kiry.“

Zur Antwort ließ sie sich unter ihn sinken, wobei sie seinen Kopf zärtlich mit ihrem eigenen streifte, dann eilte sie davon, um seinen Befehl auszuführen. Als er im Nexus eintraf, wurde er bereits erwartet, und voll stiller Verzweiflung nahm er zur Kenntnis, dass der Schwarm in seiner Abwesenheit weiter zusammengeschrumpft war. Doch es freute ihn, dass zumindest Narygos, Teralygos, Banagos und Alagosa noch geblieben waren.

Er landete zwischen ihnen und blickte sich um, wobei er seine Drachengestalt beibehielt. „Ich bin zurück, doch die Nachrichten, die ich bringe, sind alles andere als erfreulich.“ Sie standen schweigend um ihn herum, während er Bericht erstattete – über die Unterstützung, die Rhonin und die Kirin Tor ihm gewährt hatten, ebenso wie Jaina; über seine Probleme, den Standort der Fokussierenden Iris zu orten; und schließlich auch darüber, wie die Horde das Artefakt auf so verheerende Weise gegen die Allianz eingesetzt hatte. Dabei hielt er seine Stimme bewusst kühl, denn er hätte es nicht ertragen, all diese Dinge noch einmal zu durchleiden.

Die anderen lauschten schweigend, niemand stellte Zwischenfragen, keiner unterbrach ihn. Er hatte erwartet, dass sie wütend sein würden, stattdessen schien der Gedanke, dass ihre Magie, ihre Fokussierende Iris, für solch bösartige Verwüstung missbraucht worden war, sie nur noch melancholischer zu machen. Es sah aus, als wäre etwas in ihrem Inneren zerbrochen. Kalec konnte sie verstehen. Er empfand denselben Schmerz.

Mehrere Minuten lang sagte niemand etwas, dann schließlich hob Teralygos den Kopf, um traurig zu Kalecgos hinüberzublicken. „Wir haben versagt“, meinte er. „Unsere Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Magie weise eingesetzt werde. Wir sollten sie hüten. Aber nun seht, wie wenig wir dieser Pflicht gerecht geworden sind.“

„Ich trage die Schuld für dieses Versagen, Teralygos“, entgegnete Kalec. „Ich war der Aspekt. Ich konnte die Fokussierende Iris spüren. Und ich habe es nicht geschafft, sie noch rechtzeitig zu finden.“

„Sie wurde unter unser aller Augen gestohlen, nicht nur unter deinen, Kalecgos. Wir alle müssen die Verantwortung für dieses grausige Ereignis übernehmen.“

„Ich bin euer Anführer, solange ihr mich an eurer Spitze wollt“, erklärte Kalec, obwohl die Worte in seinem Mund wie Asche schmeckten, als er sie aussprach. „Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sie wieder zurückzuholen.“ Auch wenn sie jetzt wieder verschwunden ist. Hätte ich sie doch nur zerstören können, als sie noch unter der Himmelsgaleone hing!

„Du bist genauso ratlos wie zu Beginn dieser Misere“, meinte Alagosa, und obwohl jetzt nur Trauer in ihrer Stimme lag und kein Tadel, trafen die Worte Kalecgos tief. Sie hatte recht.

„Die Iris befand sich in Theramore“, sagte er. „Sie wurde während des Angriffs nicht zerstört. Jemand hat sich wieder damit davongestohlen, und ich bin sicher, dass es die Horde gewesen ist.“

„Ich bin mir da nicht so sicher. Ich vermute, dass sie sich im Besitz von Jaina Prachtmeer befindet. Du sagtest, sie habe Theramore vor dir erreicht, und als du dann dort eintrafst, war die Fokussierende Iris verschwunden.“

Es waren nicht so sehr die Worte selbst, die Kalecgos überraschten, vielmehr war es die Person, von der sie kamen. Die Anschuldigung, ausgesprochen in sanftem Tonfall, deshalb aber nicht weniger verblüffend, stammte nämlich aus Kirygosas Mund. Sie hatte sich in die letzte Reihe zurückgezogen und stumm zugehört, doch nun trat sie nach vorn.

„Jaina hat mir geholfen, sie zu finden“, entgegnete Kalec, der instinktiv Partei für die Lady Prachtmeer ergriff. „Sie wusste bereits vor der … sie wusste, welche Vernichtung die Iris anrichten könnte. Warum sollte sie das Artefakt denn willentlich an sich nehmen, ohne mir etwas davon zu sagen?“

„Vielleicht vertraut sie nicht darauf, dass sie bei dir sicher wäre“, meinte Kiry. Auch jetzt war keine Kritik in ihrer Stimme zu hören oder in ihrem Gesicht zu lesen, aber Kalec fühlte sich nichtsdestotrotz verletzt. „Vielleicht hat sie auch vor, das Artefakt gegen die Horde einzusetzen.“

„Jaina würde nie …“

„Du weißt doch gar nicht, was sie tun würde und was nicht“, unterbrach ihn Kirygosa. „Sie ist ein Mensch, Kalec, und du bist ein Drache. Ihr Königreich wurde von der Weltkarte getilgt, als hätte man es mit Tinte übermalt. Sie ist eine mächtige Magierin, und die Fokussierende Iris – das Instrument, das den Tod ihrer Untertanen herbeiführte – war in ihrer Reichweite. Wir dürfen diese Möglichkeit also nicht ausschließen. Vielmehr gilt es, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Falls sie über die Iris verfügt, müssen wir das herausfinden … und sie uns zurückholen. Ganz gleich, um welchen Preis. Dieses Artefakt gehört uns, ein Teil des Blutes, das vergossen wurde, klebt also an unseren Händen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es noch ein weiteres Mal eingesetzt wird.“

An ihrer Logik gab es nichts auszusetzen. Kalec erinnerte sich daran, dass Jaina vor Zorn und Trauer ganz außer sich gewesen schien, als sie durch das Portal vor ihm geflohen war. Davon abgesehen hatte die arkane Magie der Explosion deutlich sichtbare Spuren an ihr hinterlassen. Ihr Haar war weiß verfärbt, ihre Augen glühten – wenn das schon die Folgen für ihren Körper waren, wie mochte die Manabombe dann erst ihr Wesen beeinflusst haben?

„Ich werde die Fokussierende Iris finden“, erklärte er mit schwerer Stimme. „Wer immer sie bei sich hat – Garrosh oder Jaina.“

Kiry zögerte kurz und wechselte einen Blick mit Teralygos. „Vielleicht wäre es das Beste, wenn dich einige von uns bei der Suche begleiten würden.“

Kalec musste die wütende Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, hinunterschlucken. Kiry war ihm stets eine gute Freundin gewesen; sie war ihm eine Schwester im Geiste, wenn auch keine Gefährtin. Sie lenkte den Verdacht nicht einfach nur auf Jaina, um ihn zu verletzen, sondern weil sie sich Sorgen machte. Darüber, dass seine Gefühle für die Lady Prachtmeer stark genug sein könnten, um ihn bei seinen Pflichten dem Schwarm gegenüber zu behindern. Zudem wusste sie, dass – falls sie recht hatte und Jaina die Iris besaß und einsetzte – Kalec sich das niemals verzeihen könnte.

„Ich bin dankbar für deine Sorge“, sagte er, „und ich weiß, du hast nur das Wohl unseres Volkes im Sinn, wenn du so sprichst. Bitte glaube mir, auch ich habe kein größeres Anliegen. Aber ich kann – und muss – mich allein um diese Angelegenheit kümmern.“

Anschließend wartete er. Sollte aus den Reihen der Drachen vehementer Protest erschallen, würde er nachgeben und tun, was der Rest des Schwarms für das Beste hielt. Schließlich hatten ihnen seine eigenen Entscheidungen bislang wirklich nicht zum Vorteil gereicht.

Glücklicherweise teilten die meisten der blauen Drachen Kirys Skepsis nicht. Vermutlich hielten sie es für ausgeschlossen, dass Jaina, eine einzelne Menschenfrau, eine echte Bedrohung darstellen konnte. Allein Kiry wusste, wie außergewöhnlich mächtig die Lady Prachtmeer wirklich war. Und das war auch der Grund dafür, warum sie sich nicht der Meinung der anderen anschloss.

„Dann ist es also entschieden“, meinte Kalec. „Ich werde euch nicht noch einmal enttäuschen.“

Er sprach die Worte ohne echte Überzeugung, aber wider alle Wahrscheinlichkeit hoffte er, dass sie am Ende doch der Wahrheit entsprechen würden. Denn wer konnte schon sagen, ob die verwundete Erde es überstünde, sollte er sich wieder irren?


Vor nicht allzu langer Zeit hatte der damalige Kriegshäuptling der Horde ein Gelage abgehalten, um die Veteranen zu empfangen, die im Nexuskrieg in Nordrend gegen Arthas gekämpft hatten. Garrosh erinnerte sich noch lebhaft an die prächtige Parade nach Orgrimmar – er selbst hatte sie schließlich vorgeschlagen. Davon abgesehen hatte ihn Thrall an jenem Abend geehrt und ihm die Waffe seines Vaters überreicht, deren beruhigendes Gewicht er nun auf seinem Rücken spürte.

Garrosh war stolz auf die Art, wie die Kämpfer der Horde in jenem Krieg gekämpft hatten. Doch noch größer war sein Stolz auf das, was er bei der Feste Nordwacht erreicht hatte. In Nordrend hatte zumindest ein Teil des Sieges der Allianz gebührt, und bei diesem Gedanken schmeckte er Abscheu, so trocken wie Asche, auf seiner Zunge. Jetzt hingegen war alles ganz so, wie es sein sollte. Jetzt kämpften sie gegen die Allianz. Gewiss, auch Thrall hätte einen solchen Krieg beginnen können, an der nötigen Macht hätte es ihm nicht gemangelt. Doch er hatte vor dieser hellhaarigen Menschenmagierin klein beigegeben und stattdessen für den Frieden gekämpft, als ob es zwischen den Orcs und ihren einstigen Unterdrückern überhaupt so etwas geben könnte. Garrosh war fest entschlossen, das für die Allianz zu werden, was Grommash Höllschrei für die Dämonen gewesen war; und genauso, wie sein Vater die Unterdrückung und Versklavung durch die Dämonen beendet hatte, als er Mannoroth tötete, so würde sein Sohn die nur auf den ersten Blick unscheinbareren Ketten des Friedens mit der Allianz sprengen. Früher oder später, da war er sich sicher, würden sogar Sturköpfe wie Baine und Vol’jin von der Richtigkeit seiner Entscheidungen überzeugt sein, und dann könnte es einen echten Frieden geben – nach den Regeln der Horde, auf Blut errichtet und durch Blut bewahrt.

Darum hatte er befohlen, dass dieser Empfang, dieser Triumphzug der Sieger in die Hauptstadt der Horde, selbst Thralls Feierlichkeiten in den Schatten stellen sollte. Zudem würde es nach der Parade weit mehr geben als nur ein Festgelage. Nein, Garroshs Anweisungen lauteten, dass sechs Tage lang gefeiert werden sollte. Es würde Raptorkämpfe in der Arena geben, Sparringskämpfe, in denen die besten Krieger der Horde ermittelt und mit großen Säckeln voll Gold belohnt werden sollten! Dazu ein Gelage nach dem anderen, begleitet von Lok’tras und Lok’vandnods, während man die Straßen der Stadt mit gutem orcischem Bier überfluten würde.

Als er sich mit seinem Gefolge nun den Toren von Orgrimmar näherte, sah Garrosh voller Freude, dass sich die Menge jubelnder Hordemitglieder nicht vor ihm teilte. Stattdessen riefen sie seinen Namen, bis er laut wie Donner erschallte, und Garrosh warf Malkorok einen zufriedenen Blick zu, während er die Lobpreisungen in sich aufsaugte.

„Garrosh! Garrosh! Garrosh! Garrosh!“

„Sie lieben Euch zu sehr, um Euch einfach durchzulassen“, meinte der Schwarzfelsorc. Er musste schreien, um das Johlen zu übertönen. „Erzählt Ihnen von Eurem Sieg! Sie möchten die Geschichte von Euren Lippen hören!“

Garrosh ließ seinen Blick noch einmal über die Menge schweifen, dann brüllte er: „Soll ich Euch von meiner Vision erzählen?“

Er hatte nicht gedacht, dass es möglich wäre, doch das Jubeln der Orcs wurde jetzt noch ohrenbetäubender. Garroshs Grinsen zog sich in die Breite, als er ihnen mit einer Handbewegung bedeutete, still zu sein.

„Mein Volk! Ihr könnt euch glücklich schätzen. Nicht alle Orcs leben in einer so geschichtsträchtigen Zeit wie dieser. In einer Zeit, da ich, Garrosh Höllschrei, Kalimdor für die Horde zurückerobern werde. Die Menschen sind wie eine Krankheit, und sie haben sich in Theramore festgesetzt. Die Insel musste durch die Essenz arkaner Magie gereinigt werden. Jetzt gibt es dort keine Menschen mehr! Jaina Prachtmeer wird unser Volk nicht länger mit ihren sanftmütigen Parolen des Friedens kastrieren. Wir haben uns nicht von ihren Worten lenken lassen, und jetzt ist ihr Königreich nichts weiter als Staub. Doch das ist noch nicht genug. Als Nächstes werden wir uns um die Nachtelfen kümmern. So lange schon haben sie uns die grundlegendsten Bedürfnisse verwehrt. Wir werden ihnen ihre Städte nehmen und ihr Leben, und die wenigen, die wir nicht töten, sollen Flüchtlinge in den Östlichen Königreichen werden. Ich, Garrosh, werde ihnen ihren Hochmut austreiben und dafür sorgen, dass sie um ein paar Brotkrümel und einen Platz zu schlafen betteln, während wir, die Horde, uns ihre Reichtümer aneignen. Ihre Städte sind durch die mächtigen Kriegsschiffe der Horde von jeder Unterstützung abgeschnitten, und sobald wir bereit sein werden, in ihre Gebiete einzufallen, werden sie unter unseren Klingen fallen wie das Getreide unter der Sense!“

Darauf folgte weiteres Jubeln, Lachen, Applaudieren, und schon bald erhob sich ein weiterer Gesang, ganz plötzlich, aber von seinen Worten inspiriert.

„Tod der Allianz! Tod der Allianz! Tod der Allianz!“


Baine saß in einer Ecke des dunklen, nasskalten Gasthauses bei Klingenhügel. Das wenige Licht, das durch die Tür hereinfiel, reichte nicht aus, um die Schatten aus dem Schankraum zu verscheuchen; alles, was die Sonnenstrahlen enthüllten, waren Staubpartikel, die in der Luft tanzten. Das Bier war schlecht, das Essen noch schlechter, aber der Taure war lieber hier als einige Kilometer im Norden, wo jetzt gerade ein Festmahl abgehalten wurde, wie die Horde noch nie eines erlebt hatte.

Garrosh hatte erklärt, die Armee dürfe sich nicht auflösen. Sämtliche Krieger der Horde mussten in Durotar bleiben, der Kriegshäuptling hatte Baine jedoch nicht angewiesen, an den Gelagen in Orgrimmar teilzunehmen. Dieses Versäumnis war eine Beleidigung – und Baine zeigte sich genug, um das zu erkennen. Doch er war froh, nicht dort sein zu müssen. Der Kriegshäuptling hatte die Horde unnötiger Gefahr ausgesetzt und einen unendlich feigen Massenmord begangen. Der Taure war sicher, hätte er auch nur einen Moment länger mit anhören müssen, wie man ihn dafür mit Lobpreisungen überschüttete, hätte er vermutlich die Beherrschung verloren und diesen grünhäutigen Narren zum Duell herausgefordert – und hätte er das getan, so hätte die Horde darunter gelitten, ganz gleich, wer den Kampfplatz als Gewinner verließ.

Doch es gab noch andere, die heute keineswegs in Feierlaune waren. Während er sich an dem schlechten Bier gütlich tat, behielt er den Eingang im Blick, und so sah er, wie nach und nach weitere Tauren eintraten. Sie nickten ihm zu, bevor sie sich setzten, und eine Weile später kam auch Vol’jin herein. Der Troll nahm nicht an Baines Tisch Platz, aber ihre Blicke trafen sich kurz. Ein paar Minuten später blickte der Oberhäuptling erneut auf, und zu seiner Überraschung sah er nun das helle Gold und Rot von Sin’dorei-Roben … und daneben die abgewetzten Fetzen der Verlassenen. Der Gedanke, dass andere sahen, was er sah, und fühlten, was er fühlte, gab ihm neuen Mut. Vielleicht gab es ja doch noch eine Möglichkeit, Garroshs Wahnsinn aufzuhalten – bevor die Horde einen schrecklichen Preis dafür bezahlen musste.


Die salzgeschwängerte Luft vibrierte unter den Geräuschen reger Tätigkeit, und das schon seit zwei Tagen – seit die Nachricht vom Untergang Theramores Varian erreicht hatte. Es stand zu bezweifeln, dass wieder Ruhe einkehren werde, bevor diese Krise vorüber wäre. Die Geräuschkulisse war von Hektik gezeichnet – Bretter wurden zurechtgeschnitten, Nägel in Holz geschlagen, Kriegsmaschinen adjustiert. Das Bellen von Zwergen und die hellen Stimmen von Gnomen setzten die Akzente in diesem Lärm, der von beständiger Betriebsamkeit herrührte.

Nicht ein Bürger von Sturmwind beschwerte sich über die Ruhestörung, denn diese Geräusche bedeuteten Hoffnung. Sie waren wie die Stimme der Allianz, die damit erklärte, dass sie sich nicht durch einen einzelnen feigen Akt einschüchtern ließ.

Broll Bärenfell, Varian und Anduin standen nebeneinander und blickten auf den Hafen hinaus. Der Tag war gerade erst angebrochen, und die Segel, die auf einem der großen, neuen Schiffe gehisst wurden, leuchteten im Schein der rosafarbenen Sonne, die über den Horizont spähte.

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viele Arbeiter auf einem Fleck gesehen zu haben – nicht einmal in Eisenschmiede“, sagte Anduin. Der Junge hatte darum gebeten, in Sturmwind bleiben zu dürfen, bis die Flotte aufbrach. Erst dann wollte er wieder zu den Draenei und seinen Lehrbüchern zurückkehren. Die Begegnung mit Jaina hatte sowohl Vater als auch Sohn verwirrt und erschüttert, und vor allem Anduin kämpfte noch immer unter dem Schock, die sonst so friedliebende Tante Jaina derart hasserfüllt erlebt zu haben. Nach ihrem Besuch hatten sich die beiden bis spät in die Abendstunden unterhalten, der Mann, der einst Jainas neue Einstellung geteilt hatte, und der Junge, der vor solchen Gedanken zurückschreckte. Sie hatten darüber gesprochen, wie Trauer und Verlust einen Menschen verändern konnten, und über das, was Krieg und Gewalt mit einem anzustellen vermochten.

Schließlich hatte Anduin traurig, aber entschlossen zu seinem Vater aufgeblickt. „Ich weiß, das sind schreckliche Dinge“, hatte er gesagt. „Und … ich weiß auch, dass wir die Horde angreifen müssen. Sie haben uns gezeigt, wozu sie in der Lage – und auch bereit – sind, und wir dürfen nicht zulassen, dass noch mehr unschuldige Personen zu Schaden kommen. Aber ich möchte nicht wie Jaina sein. Nicht, wenn es um diese Sache geht. Wir müssen unser Volk beschützen – aber das heißt nicht, dass wir es mit Hass in unserem Herzen tun sollten.“

Bei diesen Worten hatte Varians Herz vor Stolz höher geschlagen. Diese Einsicht, so widerstrebend sie auch über Anduins Lippen gekommen war, hatte er nicht von seinem Sohn erwartet. Gleichzeitig war er verblüfft, dass er selbst Jainas Gefühle nicht teilte. Da hatte er einmal mehr erkannt, wie sehr sich der Mann, der er einmal gewesen war, gewandelt hatte.

Einst war er so voller Zorn und Hass gewesen, ein Teil von ihm hatte ständig im Krieg mit der Welt gestanden. Damals war er im wahrsten Sinn des Wortes in zwei Persönlichkeiten gespalten gewesen, und diese beiden Hälften körperlich wieder zusammenzuführen, war nur ein Teil des Kampfes gewesen.

Anschließend hatte man ihm beigebracht, wie er mit dem Segen des Wolfgottes, Goldrinn, diesen wütenden Teil seiner selbst wieder in seine Seele zurückholen konnte. Seit jener Zeit hatte er fürwahr große Fortschritte gemacht.

Vielleicht würde er eines Tages ja sogar so weise wie sein Sohn sein.

Broll war auf magischem Wege von Teldrassil hierhergekommen, eine Fähigkeit, die die meisten seiner Leute jetzt wohl gerne besäßen. Die Nachricht von der Blockade war ernüchternd gewesen, aber nicht unerwartet gekommen.

„Es tut gut, diese Vorbereitungen zu sehen“, bemerkte der Druide, als die drei nun Seite an Seite standen. „Aber glaube nicht, dass ihr allein segeln werdet, Varian. Ein großer Teil unserer Flotte sitzt zwar hinter dem Blockadegürtel der Horde fest, aber wir haben auch andernorts Schiffe. Und Malfurion und Tyrande brennen ebenfalls darauf, dich nach Kräften zu unterstützen. Nicht mehr lange, dann siehst du vermutlich auch ein paar Dutzend unserer stolzen Schiffe neben den deinen vor Anker liegen.“

Anduin drehte sich herum und musterte den Druiden, aber er musste schon den Hals strecken, um zu diesem Freund seines Vaters hochzublicken. Der Junge wusste, dass auch Broll schon mit Verlust und Zorn und Hass gerungen hatte. Dass der Druide und Varian, beides ehemalige Gladiatoren, nun hier standen und sich so über das Geschehene unterhielten, ohne Freude, sondern eher mit Bedauern, das gab dem Prinzen gewiss neue Hoffnung, überlegte der König. Mehr noch, beim Licht, es schien ihn zu ermutigen.

„Dann werdet Ihr also nicht versuchen, Euch einen Weg durch die Blockade freizukämpfen?“, fragte Anduin.

„Nein. Unsere Energien sind zu diesem Zeitpunkt am sinnvollsten genutzt, wenn wir zusammenarbeiten. Die Leben, die wir opfern, sollen nicht umsonst zugrunde gehen, Anduin. Und unsere Chancen auf einen Sieg stehen besser, wenn wir gemeinsam an unserer Strategie arbeiten.“

Anduins goldenes Haupt wandte sich wieder den Schiffen im Hafen zu. „Warum hat die Horde das getan? Sie wussten nicht, dass wir die Zivilisten in Sicherheit gebracht hatten. Sie haben einfach …“ Seine Stimme verhallte, und sanft legte Varian die Hand auf die Schulter seines Sohnes.

„Die einfache Antwort ist, dass die Horde nur aus Monstern besteht. Was sie getan haben, war ohne Zweifel monströs. Außerdem fallen mir zu Garrosh und seinen Kor’kron noch ein paar Worte ein, die ich nicht in der Gegenwart eines Kindes aussprechen möchte.“ Kurz lag der Hauch eines Grinsens auf Anduins Lippen, dann wurde er wieder ernst, als Varian fortfuhr: „Ich weiß nicht, warum, Sohn. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, warum manche Personen solch schreckliche Dinge tun. Ich weiß, dass auch viele, die nicht zur Allianz gehören, im Stillen Kritik an Garrosh üben, aber das kann nichts an meinem Beschluss ändern.“

„Allerdings … wir werden doch nicht so kämpfen wie Garrosh, oder?“

„Nein“, antwortete Varian. „Das werden wir sicherlich nicht.“

„Aber falls er bereit ist, Dinge zu tun, vor denen wir zurückschrecken … bedeutet das denn nicht, dass er uns besiegen wird?“

„Nicht, solange noch Leben in diesem Körper steckt“, brummte Broll.

„Oder in diesem“, fügte Varian hinzu. „Die Welt ist … aus den Fugen geraten. Ich habe in der Grube Gewalt und Blut und Wahnsinn gesehen, aber niemals hätte ich erwartet, dass ich einmal so etwas sehen würde wie das, was Jaina miterleben musste.“

„Glaubst … glaubst du, sie wird sich wieder erholen? Von dem Schmerz, den ihr diese Ereignisse zugefügt haben?“

„Ich hoffe es.“ Diese Worte waren alles, was Varian darauf erwidern konnte. „Ich hoffe es.“

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