4

Als Jaina nach ihrem Treffen mit Thrall in Richtung Theramore zurückruderte, begann es zu regnen. Und obwohl die Kälte und Nässe ihr Unbehagen bereiteten, war sie doch froh darum, denn bei solch schlechtem Wetter würden sich nur die wenigsten Leute vor die Tür wagen. Sie machte das kleine Boot bei den Docks fest, wobei sie auf dem glitschigen Holz kurz um ihr Gleichgewicht kämpfen musste, dann huschte sie, unbemerkt im Schutze des beständigen Regens, zu dem Geheimeingang des Turms, der durch Magie verborgen blieb. Kurz darauf war sie schon wieder in ihrem gemütlichen Begrüßungszimmer, wo sie zitternd ein Feuer entzündete, indem sie einen Zauber murmelte und mit den Fingern schnippte. Anschließend trocknete sie mit demselben Zauber ihre Kleider und nahm den Umhang ab.

Nachdem sie Tee aufgebrüht hatte, nahm sie sich ein paar Plätzchen und stellte sie mitsamt der Kanne auf einen kleinen Tisch, dann machte sie es sich vor dem Feuer bequem. Ihre Gedanken kreisten noch immer um das, was Thrall gesagt hatte. Er hatte einen so … zufriedenen Eindruck gemacht. So ruhig. Doch wie konnte er jetzt ruhig sein? Es ließ sich nicht daran rütteln: In gewisser Weise hatte er seinem Volk den Rücken gekehrt, und weil er die Zügel ausgerechnet an Garrosh weitergereicht hatte, sahen sie nun einem unausweichlich erscheinenden Krieg entgegen. Wenn Anduin doch nur älter wäre, dann könnte er ihr jetzt ein wertvoller Verbündeter sein. Aber die Jugend war ohnehin schon viel zu kurz, und Jaina bedauerte sofort, dass sie einen solchen Wunsch auch nur einen Moment lang gehegt hatte. Anduin sollte keinen Tag dieser kostbaren Zeit verpassen.

Was Thrall betraf – Go’el; es würde noch eine Weile dauern, bevor sie sich an diesen neuen Namen gewöhnt hatte –, so war er jetzt verheiratet. Was bedeutete das für die Horde? Wollte er vielleicht, dass sein Sohn oder seine Tochter eines Tages den Thron bestieg? Würde er wieder die Führung der Horde übernehmen, falls ihm seine Aggra ein Kind gebar?

„Habt Ihr mir auch ein paar Plätzchen übrig gelassen, Lady?“ Es war eine weibliche Stimme, jugendlich, ein wenig schrill.

Jaina lächelte, drehte sich aber nicht herum. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie das charakteristische Summen des Teleportationszaubers gar nicht gehört hatte. „Kinndy, falls du Plätzchen möchtest, kannst du dir gern welche backen.“

Ihre Schülerin lachte fröhlich und hüpfte Jaina gegenüber auf einen Stuhl, der neben dem lodernden Feuer stand. Dann griff sie nach einer Teetasse und einem der angesprochenen Plätzchen. „Aber meine sind nur Lehrlings-Plätzchen. Eure sind Meister-Plätzchen. Die schmecken viel besser.“

„Ich bin sicher, du kommst bald dahinter, wie man die Schokoladenstückchen richtig unter den Teig mischt“, erklärte Jaina, noch immer mit unbewegtem Gesichtsausdruck. „Und deine Apfelriegel sind doch schon aller Ehren wert.“

„Freut mich, dass Ihr das so seht“, sagte Kinndy Funkenleuchter. Selbst für einen Gnom war sie außergewöhnlich kess, und so, wie sie ihre hellrosafarbenen Haare zu Zöpfen nach hinten gebunden hatte, wirkte sie viel jünger als zweiundzwanzig – was nach den Maßstäben ihrer Rasse aber ohnehin nur eine Jugendliche aus ihr machte. Es wäre leicht gewesen, sie als munteres kleines Ding abzutun, das zwar süß, aber substanzlos war, ebenso wie die Zuckerwatte, an die ihr rosafarbenes Haar erinnerte. Aber blickte man erst in ihre großen blauen Augen, so konnte man dort einen wachen Geist erkennen, der ihr unschuldiges Gesicht Lügen strafte. Jaina hatte sie vor mehreren Monaten als ihre Schülerin angenommen; nicht, dass sie wirklich eine Wahl gehabt hätte.

Rhonin, der die Kirin Tor durch den Nexus-Krieg geführt hatte und auch jetzt noch ihr Oberhaupt war, hatte Jaina kurz nach dem Kataklysmus zu sich gebeten. Sie hatte ihn noch nie zuvor so nachdenklich gesehen wie an jenem Tag, als er sie im Purpursalon empfangen hatte, einem besonderen Raum, der – soweit Jaina wusste – nur durch ein Portal zu erreichen war. Nachdem er zwei Gläser mit prickelndem dalaranischem Wein gefüllt hatte, hatte er sich neben sie gesetzt und sie durchdringend gemustert.

„Rhonin“, hatte sie leise gefragt, ohne auch nur an dem köstlichen Getränk zu nippen. „Was habt Ihr? Ist etwas geschehen?“

„Nun, mal überlegen“, entgegnete er. „Todesschwinge treibt sein Unwesen; die Dunkelküste ist ins Meer gestürzt …“

„Mit Euch, meine ich?“

Er lächelte schmallippig über seinen eigenen, dunklen Humor. „Mit mir ist alles in Ordnung, Jaina. Na ja, zumindest fast alles – ich habe da eine Sorge, die würde ich gern mit Euch teilen.“

Sie zog die Brauen so zusammen, dass eine kleine Furche auf ihrer Stirn entstand, und stellte das Glas ab. „Mit mir? Warum gerade ich? Ich gehöre nicht zum Rat der Sechs. Ich bin nicht mal mehr ein Mitglied der Kirin Tor.“ Einst hatte sie zu ihnen gehört, als sie noch eng mit ihrem Meister Antonidas zusammengearbeitet hatte. Doch nach dem Ende des Dritten Krieges, als sich die verstreuten Mitglieder der Kirin Tor wieder neu formiert hatten, war es nicht mehr dasselbe für sie gewesen.

„Und genau aus diesem Grund muss ich mit Euch sprechen“, erklärte er. „Jaina, wir haben alle unendlich viel ertragen müssen. Wir waren so beschäftigt damit, zu – nun, zu kämpfen und zu planen und unsere Schlachten zu schlagen. So sehr, dass wir versäumt haben, einer anderen, vermutlich noch wichtigeren Pflicht nachzukommen.“

Ein verwirrtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Malygos zu bekämpfen und uns davon zu erholen, dass die Welt wie eine Ratte im Maul einer Dogge gebebt hat, erscheint mir ziemlich wichtig.“

Rhonin nickte. „Das ist es. Aber mindestens ebenso wichtig ist es, die nächste Generation auszubilden.“

„Was hat das mit mir – oh!“ Entschlossen schüttelte sie das goldene Haupt. „Rhonin, ich würde Euch ja gerne helfen, aber ich kann nicht nach Dalaran kommen. Ich habe meine eigenen Probleme in Theramore, und auch, wenn der Kataklysmus Horde und Allianz gleichermaßen geschwächt hat, gibt es dort noch so viel …“

Er hob die Hand, um sie zu unterbrechen. „Ihr versteht nicht, worauf ich hinauswill“, sagte er. „Ich werde Euch nicht bitten, in der Violetten Zitadelle zu bleiben. Hier haben wir genug Leute – aber draußen in der Welt sind zu wenige.“

„Oh!“, entfuhr es ihr noch einmal. „Ihr … wollt, dass ich einen Schüler nehme.“

„Das ist unser Wunsch. Falls Ihr dazu bereit wärt. Ich habe da schon eine ganz spezielle junge Dame im Auge, und ich möchte, dass Ihr sie Euch einmal anseht. Sie hat große Möglichkeiten, sie ist klug, und sie besitzt eine unersättliche Neugier, was die Welt jenseits der engen Grenzen von Eisenschmiede und Dalaran betrifft. Ich glaube, Ihr zwei würdet gut zueinander passen.“

Da begriff Jaina. Sie lehnte sich auf den bequemen lilafarbenen Kissen zurück und griff nach dem Wein. Nach einem kleinen Schluck sagte sie: „Und ich bin sicher, sie würde Euch über jeden meiner Schritte Bericht erstatten.“

„Na, na, Lady Prachtmeer. Ihr könnt doch nicht erwarten, dass wir eine so mächtige und einflussreiche Magierin dort draußen in Theramore ganz allein lassen.“

„Im Ernst? Ich bin überrascht, dass Ihr mir nicht schon längst einen Aufpasser geschickt habt.“

Er schenkte ihr einen reuevollen Blick. „Im Augenblick herrscht viel Durcheinander“, erklärte er. „Es ist nicht so, als würden wir Euch nicht vertrauen. Wir müssen einfach nur … nun …“

„Ich verspreche, ich werde keine Dunklen Portale öffnen“, sagte Jaina und hob die Hand zu einem spöttischen Eid.

Das entlockte Rhonin ein Lachen, aber er wurde schnell wieder ernst und legte seine Hand auf die ihre, während er sich flüchtig zu ihr hinüberbeugte.

„Ihr versteht doch, nicht wahr?“

„Ja“, nickte sie. Und sie verstand wirklich. Zuvor hatte niemand Zeit für irgendetwas anderes als den bloßen Kampf ums Überleben gehabt, und jeder Magier, der sich Malygos nicht angeschlossen hatte, war von ihm als Bedrohung betrachtet worden. Nun war er zwar besiegt, aber ebenso wie die Welt waren auch die alten Bündnisse zersplittert – und Jaina galt sowohl als eine mächtige Magierin wie auch als eine allseits geschätzte Diplomatin.

Die Erinnerungen an Antonidas, der sie vor einer gefühlten Ewigkeit – und erst nach langem Bitten und Betteln – als Schülerin angenommen hatte, erfüllten ihren Geist. Er war ein weiser und guter Mann gewesen, mit einem ausgeprägten Verständnis von richtig und falsch, mit der Bereitschaft, andere zu beschützen – und er hatte sie inspiriert und geformt. Plötzlich spürte sie den Drang, der Welt zurückzugeben, was sie ihr geschenkt hatte. Sie war eine Magierin mit enormen Fähigkeiten, das wusste sie, und jetzt, da die Rede auf dieses Thema gekommen war, gefiel ihr der Gedanke immer besser, jemandem ihr Wissen zu vermitteln. So müsste sie sich außerdem nicht wieder den Kirin Tor anschließen, um anderen dabei zu helfen, die Magie zu verstehen und einzusetzen, ganz so, wie sie es seinerzeit gelernt hatte. Das Leben war unberechenbar, dieser Tage noch mehr als sonst. Zudem fehlten ihr die gelegentlichen Besuche von Anduin; vielleicht könnte eine junge Person ihr altes, dunkles Zuhause wieder mit neuem Leben erfüllen.

„Wisst Ihr“, meinte sie, „ich erinnere mich noch gut an eine gewisse schrecklich störrische junge Dame, die Antonidas keine Ruhe ließ, bis er sie als Schülerin nahm.“

„Und falls ich mich recht erinnere, hat sie sich prächtig entwickelt. Manche behaupten sogar, sie wäre die beste Magierin in ganz Azeroth.“

„Die Leute sagen viele Dinge.“

„Dann sagt Ihr mir bitte, dass Ihr sie ausbilden werdet“, bat Rhonin, während seine Stimme von nichts anderem als völliger Aufrichtigkeit erfüllt war.

„Ich glaube, es wäre eine gute Idee“, sagte sie fest.

„Sie wird Euch gefallen“, lächelte Rhonin, und ein schelmischer Ausdruck schlich sich in seine Züge. „Sie wird Euch wirklich fordern.“

Doch Kinndy hatte nicht nur sie gefordert, sondern auch die Leidende. Jaina musste ein Lächeln unterdrücken, als sie daran dachte, wie die Nachtelfin zunächst auf das Gnomenmädchen reagiert hatte. Die Leidende war eine Kriegerin, die an Jainas Seite geblieben war, seitdem man sie der Magierin bei der Schlacht am Berg Hyjal zugewiesen hatte. Sie diente ihr als unerschrockene Leibwächterin, ob Jaina nun eine brauchte oder nicht, und wich nur dann von ihrer Seite, wenn die Magierin sie auf eine geheime Mission schickte. Jaina hatte der Leidenden schon oft betont, dass sie jederzeit zu ihren Leuten zurückkehren könne. Die Nachtelfin hatte daraufhin aber meist nur mit den Schultern gezuckt und erklärt: „Lady Tyrande hat mich nicht offiziell von dieser Pflicht befreit“, und damit jede weitere Frage abgeblockt. Jaina verstand die Gründe für die Sturheit der Leidenden und ihre unerklärliche Ergebenheit zwar nicht, war aber nichtsdestotrotz dafür dankbar.

Nun, einmal war Kinndy jedenfalls gerade dabei gewesen zu lernen, während Jaina die Reagenzien in ihrem Schränkchen methodisch durchging, um diejenigen neu zu beschriften, deren Schildchen nicht mehr zu entziffern waren, und jene auszusortieren, die ihre Wirkung verloren hatten, damit man sie später ordnungsgemäß entsorgen konnte. Die Stühle in Theramore waren für Menschen gemacht, weswegen Kinndys Füße den Boden nicht berührten, und so ließ das Gnomenmädchen geistesabwesend die Beine baumeln, während es an einer Tasse Tee nippte und einen Folianten studierte, der beinahe ebenso groß war wie sie selbst. Ganz in der Nähe hatte die Leidende ihr Schwert gereinigt, und aus den Augenwinkeln hatte Jaina bemerkt, wie ihr Blick immer wieder zu Kinndy hinübergewandert war – und jedes Mal hatte sie noch irritierter gewirkt.

Schließlich war es aus der Nachtelfin herausgeplatzt: „Kinndy? Macht es dir etwa Spaß, so fröhlich zu sein?“

Das Gnomenmädchen hatte das Buch geschlossen, den kleinen Finger zwischen die Seiten geklemmt, damit sie wusste, wo sie war, und dann eine ganze Weile über die Frage nachgedacht. Anschließend hatte sie erwidert: „Die Leute nehmen mich nicht ernst. Das verhindert oft, dass ich mich nützlich machen kann. Ich finde das eher frustrierend. Also: Nein, es macht mir keinen Spaß, fröhlich zu sein.“

Die Leidende hatte genickt, gesagt: „Ah, dann ist es ja gut“, und sich wieder ihrem Schwert gewidmet. Jaina hatte sich rasch entschuldigen müssen, um nicht vor ihren Augen laut loszulachen.

Doch abgesehen von ihrer unbeabsichtigten Fröhlichkeit hatte Kinndy auch sie gefordert. Das Gnomenmädchen hatte mehr Energie als sonst jemand, dem Jaina je begegnet war, und der Strom ihrer Fragen kannte kein Ende. Zunächst waren diese Fragen amüsant gewesen, dann nervtötend, und dann war Jaina eines Tages aufgewacht und hatte erkannt, dass sie nun wirklich und wahrhaftig eine Mentorin war. Eine Meisterin, zusammen mit einer Schülerin, die heranwachsen und sie stolz machen würde. Rhonin hatte nicht übertrieben – vermutlich hatte er ihr den besten Schüler gegeben, den die Kirin Tor zu bieten hatten.

Kinndy war besonders neugierig, was Jainas Rolle als weibliche Anführerin und Magierin anging, und nur zu gerne hätte sie dem Gnomenmädchen jetzt von ihrem geheimen Treffen mit Go’el erzählt – Kinndy schien die Art von Person zu sein, die Jainas Gedankengänge verstehen konnte. Doch natürlich ging das nicht. Sosehr sie die Kleine auch ins Herz geschlossen haben mochte, letzten Endes war Kinndy doch der Ehre halber verpflichtet, alles, was sie erfuhr, an die Kirin Tor weiterzugeben. Der Zwischenfall mit Anduin hatte Jaina gelehrt, besondere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, und sie war sicher, dass Kinndy nicht von diesen Treffen wusste – zumindest noch nicht.

„Wie geht es Meister Rhonin?“, fragte Lady Prachtmeer.

„Oh, ihm geht es hervorragend. Ich soll Euch herzliche Grüße von ihm ausrichten“, antwortete Kinndy. „Er schien ein wenig abgelenkt“, fügte sie nachdenklich hinzu, dann hielt sie inne, um ein weiteres Mal von dem Plätzchen abzubeißen.

„Wir sind Magier, Kinndy“, bemerkte Jaina trocken. „Wir sind immer abgelenkt.“

„Das ist wohl wahr!“, sagte das Gnomenmädchen fröhlich und wischte ein paar Krümel fort. „Dennoch schien mein Besuch etwas gehetzt.“

„Konntest du denn wenigstens ein wenig Zeit mit deinen Eltern verbringen?“ Kinndys Vater Pakke war mit der ehrenhaften Aufgabe betraut worden, in der Abenddämmerung sämtliche Straßenlaternen in Dalaran zu entzünden. Und wenn man Kinndy Glauben schenken durfte, erfüllte ihn diese Arbeit mit solcher Freude, dass er sogar besondere Stäbe verkaufte, damit andere dieses Gefühl auch ein paarmal erleben konnten. Und ihre Mutter Jaxi die ihre Backwaren oft der Hochelfin Aimee zum Verkauf an ihrem Stand zur Verfügung stellte, war in der Stadt ebenso beliebt wie ihre rot-violetten Törtchen. Das war auch einer der Gründe, warum es Kinndy so verzweifeln ließ, dass ihre Backkünste – zumindest in ihren eigenen Augen – so unterdurchschnittlich waren.

„Oh ja, das habe ich!“

„Und du möchtest trotzdem immer noch Plätzchen?“, scherzte Jaina.

Kinndy zuckte mit den Schultern. „Was soll ich machen? Einem Leckerbissen kann ich einfach nicht widerstehen“, meinte sie mit dieser heiteren Einstellung, die Jaina inzwischen schon von ihr erwartete. Doch es war offensichtlich, dass irgendetwas das Gnomenmädchen bedrückte. Jaina stellte ihren Teller auf dem Tisch ab.

„Kinndy, ich weiß, dass du den Kirin Tor Bericht erstatten sollst. Das war Teil unserer Übereinkunft. Aber du bist auch meine Schülerin. Falls du irgendwelche Probleme mit mir als deiner Meisterin hast …“

Die blauen Augen wurden weit. „Mit Euch? Oh, Lady Jaina, nein, das ist es nicht! Es ist nur – ich hatte das Gefühl, etwas in Dalaran würde nicht stimmen. Man konnte es in der Luft spüren. Und Meister Rhonins Verhalten hat mich auch nicht gerade beruhigt.“

Jaina war beeindruckt. Nicht alle Magier entwickelten diesen sechsten Sinn, der ihnen verriet, wenn etwas nicht stimmte – um es mit Kinndys Worten zu sagen. Jaina selbst besaß diese Fähigkeit nur bis zu einem gewissen Grad: Sie konnte nicht immer erkennen, wenn es ein magisches Ungleichgewicht gab. Aber wenn dieses Gefühl sie einmal überkam, dann hörte sie auch darauf. Und Kinndy war gerade mal zweiundzwanzig.

Sie lächelte ein wenig wehmutsvoll. „Meister Rhonin hatte recht, was dich angeht“, meinte sie. „Er sagte, du hättest große Möglichkeiten.“

Kinndy wurde rot – aber nur ein bisschen.

„Nun, falls wirklich etwas nicht stimmt, werden wir es noch früh genug herausfinden“, fuhr Jaina fort. „Einstweilen interessiert mich mehr, ob du das Buch zu Ende gelesen hast, das ich dir mitgegeben habe.“

Kinndy seufzte. „Eine Ausführliche Analyse der Temporalen Effekte von Beschwörungen auf Nahrungsmittel?

„So heißt es, ja.“

„Ich hab’s gelesen. Aber …“ Sie zögerte und vermied es, Jaina ins Gesicht zu blicken.

„Was ist los?“

„Nun … ich fürchte, da ist jetzt ein Glasurfleck auf Seite dreiundvierzig.“


Die Nacht fiel über Orgrimmar, und obwohl die Hitze nachließ, schwand sie doch nicht ganz; der hartgebackene Sand, der bar jeglicher Vegetation war, speicherte die Glut der Sonne, ebenso wie die großen, neu errichteten Metallgebäude. Was das Klima betraf, so war Durotar nicht gerade ein angenehmer Ort, und Orgrimmar machte da keine Ausnahme. Doch auch wenn die Stadt noch nie besonders einladend gewesen war, jetzt wirkte sie ganz besonders abweisend.

Malkorok war das nur recht.

Er mochte die Hitze von Durotar, war es doch auch im Inneren des Berges Schwarzfels siedend heiß gewesen. Das tat gut. Die beste Entscheidung, die das Volk der Orcs je getroffen hatte, war ohnehin gewesen, die Bequemlichkeit von Orten wie Nagrand auf ihrer Heimatwelt Draenor hinter sich zurückzulassen. Dies hier war eine Welt, in der man sich beweisen musste, die einen auf die Probe stellte und herausforderte. Es war schlecht, wenn man zu sehr verweichlichte. Darum gehörte es auch zu Malkoroks Aufgaben, dafür zu sorgen, dass kein Orc zu selbstgefällig wurde.

Einige der Orcs, die an der jüngsten Versammlung teilgenommen hatten, waren ihm allerdings viel zu selbstgefällig erschienen. Sie waren zu sehr davon überzeugt, dass ihre Ansichten die richtigen waren, und sie hatten sogar offen ihren Unwillen zum Ausdruck gebracht und Meinungen unterstützt, die der ihres Kriegshäuptlings widersprachen – des Anführers ihrer Rasse. Des Führers der Orcs! Diese Arroganz ließ Malkorok jetzt noch vor Zorn mit den Zähnen knirschen, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben, während er sich lautlos durch die Straßen bewegte.

Er hatte Garrosh gesagt, dass man sie alle im Auge behalten sollte, und zunächst hatte der Kriegshäuptling angenommen, dass er damit nur die Anführer der verschiedenen Rassen meinte, aus denen die Horde bestand. Aber der Schwarzfelsorc sah die Dinge in einem viel größeren Zusammenhang. Wenn er sagte, man sollte sie „alle“ im Auge behalten, dann meinte er auch alle.

Jedes einzelne Mitglied der Horde.

Darum ließ er einige der unzufriedenen Orcs von seinen besten Leuten beschatten – diejenigen, die es gewagt hatten, still zu bleiben, während die anderen jubelten. Daran, dass Etrigg ungestraft Kritik üben durfte, konnte er im Augenblick leider noch nichts ändern; der alte Orc wurde von allen geliebt und respektiert, und Garrosh hatte es Thrall versprechen müssen, dass er seine Ratschläge beachten würde.

Doch vielleicht nicht mehr lange.

Andere, die sich auf Etriggs Seite gestellt hatten, mussten hingegen schon jetzt den Preis für ihr Verhalten zahlen, das in Malkoroks – und Garroshs – Augen nichts anderes war als offener, unverfrorener Hochverrat. Seine Gedanken wanderten zu jener Zeit vor einigen Jahren zurück, als er noch in Diensten Rend Schwarzfausts gestanden hatte. Voller Genugtuung erinnerte er sich an das Schicksal, das jene Abenteurer erwartet hatte, die sich unklugerweise ins Herz des Berges vorgewagt und Rend herausgefordert hatten. Doch noch lebhafter als dies waren die Erinnerungen daran, wie er selbst mit den anderen Orcs umgesprungen war, die Kritik an Schwarzfaust geübt hatten, wenn sie sich in den Schatten sicher wähnten.

Er hatte ihnen aufgelauert und seinem eigenen, unstillbaren Verlangen nach Gerechtigkeit Genüge getan. Als ein weiterer dieser Verräter plötzlich von der Bildfläche verschwunden war, hatte Rend ihn darauf angesprochen, aber Malkorok hatte nur mit den Schultern gezuckt, woraufhin Schwarzfaust ihm ein anerkennendes Grinsen geschenkt hatte. Danach verlor er niemals wieder ein Wort über diese Sache.

Jetzt lagen die Dinge zwar anders, doch so groß waren die Unterschiede gar nicht, und Malkorok musste nun auch nicht mehr allein durch die Schatten schleichen; vier Kor’kron, eigens von Garrosh ausgewählt und darauf eingeschworen, jedem Befehl des Schwarzfelsorcs zu gehorchen, als wären es die Worte des Häuptlings selbst, begleiteten ihn und bewegten sich dabei so verstohlen, als wären sie selbst bloß Schatten.

Kor’jus lebte in der Kluft der Schatten, einem der heruntergekommeneren Teile von Orgrimmar, und wenn man sein Haus sah, konnte man ohne Weiteres den Eindruck gewinnen, dass er in finstere Machenschaften verstrickt war. Tatsächlich aber war der Name seines Ladens, Dunkle Erde, lediglich eine Beschreibung des Bodens, den er brauchte, um seine Waren heranzuzüchten – Pilze. Soweit Malkorok wusste, war Kor’jus zwar ein gesetzestreuer Einwohner, aber dass er hier lebte, machte seine Aufgabe deutlich einfacher. Die paar vermeintlichen Zeugen brauchten jedenfalls keinen weiteren Anreiz als ein Zwinkern und ein paar Goldmünzen, um mit einem Nicken in die andere Richtung zu sehen.

Kor’jus kniete auf dem Boden und benutzte ein scharfes Messer, um die Pilze zu ernten, die er morgen verkaufen wollte. Er schnitt die Stiele mit geschickten Bewegungen dicht über dem Boden ab, dann warf er sie in einen Sack und wandte sich den nächsten zu. Sein Rücken war der Tür zugewandt, vor der sich ein halb zugezogener Vorhang befand. Ein Schild über dem Eingang verkündete GESCHLOSSEN. Obwohl er nicht sehen konnte, wie sich seine Besucher näherten, schien er ihre Gegenwart doch zu spüren, denn er versteifte sich. Anschließend stand er langsam auf und drehte sich herum. Als er Malkorok und seine Begleiter sah, wurden seine Augen zu schmalen Schlitzen.

„Lest das Schild“, raunzte er. „Der Laden ist erst morgen früh wieder geöffnet.“ Malkorok fiel auf, dass der Pilzbauer die Finger fester um sein kleines Messer schloss. Als ob ihm das helfen würde!

„Wir sind nicht wegen der Pilze hier“, erklärte er mit leiser Stimme. Dann kamen er und die vier anderen Orcs näher. Einer von ihnen zog den Vorhang zu. „Sondern wegen dir.“

Загрузка...