Endlich zeigte ihre Arbeit Wirkung.
Die verwundete Erde bebte noch immer gelegentlich, und wütende Blitze zuckten über den Himmel, so wie auch der Wind noch heulte und die See toste, während die Schamanen Tag für Tag inmitten der Elemente standen und all ihre Kräfte aufwendeten, um die Seele von Azeroth zu heilen. Doch bislang hatten sie keinerlei Fortschritte gemacht.
Nun schien sich der Ozean allerdings hin und wieder für ein paar Sekunden zu beruhigen, und der Regen ebbte für einen längeren Zeitraum ab, sodass sich Flecken blauen Himmels zwischen den Wolken zeigten. Einmal hatte es ganze drei Tage lang keine Erdbeben gegeben.
Die Mitglieder des Irdenen Ringes – Nobundo, Rehgar, Muln Erdenwut und die anderen – schöpften aus jedem kleinen Zeichen neuen Mut. Genau wie bei einem schwer Verwundeten würde es seine Zeit brauchen, Azeroth zu heilen. Doch wenn sie während dieses langen und schmerzhaften Prozesses niemals in ihren Bemühungen nachließen, würden sich die Elemente früher oder später wieder beruhigen.
Thrall stand hoch aufgerichtet auf der zitternden Erde, fest darin verwurzelt, während er den Schmerz aus dem Boden zog. Er stellte sich seine Seele vor, wie sie sich mit dem großen Geist des Lebens vereinigte, wie sie steil in die Höhe stieg, um den Himmel zu berühren. Er zog die von Gischt durchnässte Luft in die Lungen, reinigte sie in seinem Inneren und atmete sie dann wieder aus. Es war eine harte, fordernde Arbeit, und bislang war ihm noch keine Minute der Rast vergönnt gewesen. Doch zugleich war es auch das Bereicherndste und – ja, tatsächlich – auch Schönste, was er je in seinem Leben getan hatte.
Die Erde beruhigte sich wie ein verängstigtes Kind, das langsam in den Schlaf abdriftet, und das Beben ließ nach. Die wütenden Winde wollten sich nicht gar so leicht beschwichtigen lassen, aber der Regen wurde ebenfalls schwächer. Die Schamanen öffneten ihre Augen, und nachdem sie in die einfache, physische Realität zurückgekehrt waren, tauschten sie ein müdes Lächeln aus. Es war Zeit, neue Kraft zu schöpfen.
Aggras starke braune Hand legte sich auf diejenige Thralls, und sie blickte ihn voller Anerkennung und Bewunderung an. „Mein Go’el hat sich von einem Wirbelwind in einen Fels verwandelt“, meinte sie. „Seit deiner Rückkehr haben wir gewaltige Fortschritte gemacht.“
Er drückte ihre Hand. „Wenn ich ein Felsen bin, dann bist du der feste Boden, auf dem er ruht, meine Liebe.“
„Ich bin dein Seelenverwandter, und du der meine“, erwiderte sie. „Wann immer die Zeiten schwerer werden, wird der eine dem anderen das Element sein, das er braucht. Stein, Wind, Wasser – oder Feuer.“ Aggra zwinkerte. Sie war es gewesen, die ihn gezwungen hatte, seine wahre Bestimmung zu erkennen, obwohl er in jenen Tagen noch alles andere als gut auf die Schamanen zu sprechen gewesen war. Sie war keine Frau der feineren Anspielungen, und auch wenn Thrall damals wütend auf sie gewesen war, hatte er doch erkannt, dass sie recht gehabt hatte. Seit seiner Rückkehr waren sie praktisch unzertrennlich – sie arbeiteten zusammen, als würden sie miteinander tanzen, und erfreuten sich an der Gegenwart des anderen, wenn sie sich erholten. Er musste wieder an die Worte denken, die er bei ihrem letzten Treffen an Jaina gerichtet hatte, und schickte ein Stummes Gebet an jede Macht, die ihm zuhören mochte, auf dass sie die Lady von Theramore mit demselben Glück segnete wie ihn.
Mit seiner guten Laune war es jedoch schnell vorbei, als er ins Lager zurückkehrte und einen jungen Orc in leichter Lederrüstung sah, der in Habtachtstellung auf ihn wartete. Der Staub und Schlamm auf seiner Kleidung wiesen ihn als Boten aus, und der grimmige Blick auf seinem Gesicht sprach Bände über die Nachricht, die er überbringen sollte.
Der Orc salutierte zackig. „Go’el“, sagte er, gefolgt von einer Verbeugung. „Ich bringe Euch Neuigkeiten aus Orgrimmar. Und … von anderer Stelle.“
Eine frostige Kälte schloss sich um Thralls Herz. Was hatte Garrosh getan? Nun kamen auch noch andere herbei und blickten den Fremden in ihrer Mitte mit mildem Interesse an. Thrall überlegte, ob er die Botschaft unter vier Augen entgegennehmen sollte. Letzten Endes entschied er sich aber dagegen. Er war nicht länger der Kriegshäuptling der Horde. Eine Nachricht für ihn war eine Nachricht für sie alle.
Er wartete, bis sich die restlichen Mitglieder des Irdenen Ringes versammelt hatten, und bedeutete ihnen dann vorzutreten. Der junge Orc verlagerte voller Unbehagen das Gewicht. Offenbar erwartete er bereits den Befehl, den Thrall ihm geben würde. „Bitte trag uns allen deine Botschaft vor, mein junger Freund“, sagte Thrall leise.
Der Bote holte Luft, wie um sich zu wappnen. „Mit schwerem Herzen muss ich Euch von einem Ereignis berichten, das nichts weniger ist als ein Desaster für die Friedensbemühungen auf diesem sorgengeplagten Kontinent – seine Auswirkungen werden vielleicht sogar ganz Azeroth betreffen. Garrosh hat die Armeen der Horde versammelt und die Feste Nordwacht bis auf die Grundmauern zerstört. Anschließend wartete er mehrere Tage, damit die Allianz die Verteidigung von Theramore planen konnte. Um gegen unsere Flotte und Armee zu bestehen, hat Lady Prachtmeer die Siebte Flotte und mehrere bekannte Militärberater nach Theramore gerufen, unter ihnen Marcus Jonathan, Shandris Mondfeder, Vereesa Windläufer und Admiral Aubrey. Die Horde hat tapfer gekämpft, aber zunächst hatte es den Anschein, als würde sie besiegt werden.
Go’el, Garrosh hat geschmolzene Riesen versklavt und sie bei der Schlacht um die Feste Nordwacht zu seinem Vorteil eingesetzt. Und um Theramore zu zerstören, hat er …“
Der Bote hielt inne, als ein Stöhnen und Keuchen aus den Reihen der ehemaligen Horde- und Allianzmitstreiter ringsum erklang. Sie hatten ihren Fraktionen gegenüber zwar nicht die Treue aufgekündigt, sie aber doch in den Hintergrund gerückt, um einem größeren Wohl zu dienen. Sie waren Schamanen geworden, und als Schamane hören zu müssen, dass Elementarwesen – und obendrein noch solche Elementarwesen! – als Kriegswerkzeuge versklavt wurden, war schrecklich. Die Worte „um Theramore zu zerstören“ hingen schwer in der Luft.
„Fahr fort!“, forderte Thrall grimmig.
„Um Theramore zu zerstören, hat er ein Artefakt der blauen Drachen gestohlen und es als Energiequelle für die größte Manabombe verwendet, die je erbaut wurde. Theramore wurde vollständig vernichtet. Es ist nichts mehr übrig, außer Ruinen, die von arkaner Energie verseucht wurden. Unsere Späher melden, dass niemand innerhalb der Stadtmauern überlebt hat.“
Niemand hat überlebt. Jaina, seine Freundin, die beharrliche Stimme des Friedens, war tot. Thrall rang um Atem, während Aggra seine Hand drückte. Er verstärkte ebenfalls den Druck seiner Finger, sogar so sehr, dass es sie schmerzen musste; dennoch ließ Aggra seine Hand nicht los. Sie wusste besser als die meisten anderen, welch tiefen Stich diese Nachricht seinem Herzen zugefügt hatte, und wollte ihn voller Liebe unterstützen.
Leises Schluchzen wurde hörbar, als sich eine der Draenei auf der Suche nach Trost zu ihrem Trollfreund umdrehte. Der Troll umarmte sie zwar sanft, doch der Zorn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Alle waren sie fassungslos, selbst diejenigen, von denen Thrall wusste, dass sie sich gegen den Frieden stellten. Ein so mutwilliger Massenmord barg keine Ehre für die Horde, und die Skrupellosigkeit, die ihm zugrunde lag, durfte nicht ungestraft bleiben.
Doch so unglaublich es auch schien, die Nachricht war noch nicht zu Ende. Unfähig, selbst zu sprechen, bedeutete Thrall dem Boten fortzufahren.
Der junge Orc kam dem Befehl nach, aber seine Stimme war belegt vor Bedauern. „Unsere Flotte hat sich aufgeteilt, um eine Blockade rings um Kalimdor zu bilden. Die Allianz wird also keine Hilfe zur Mondfederfeste oder nach Teldrassil oder in eine andere Stadt schicken können, und es wird auch nur den wenigsten gelingen, von dort zu fliehen. Garrosh hat sich öffentlich damit gerühmt, dass er den gesamten Kontinent erobern wird und alle Spuren der Allianz vertreiben oder auslöschen möchte. Die einzig gute Nachricht, die ich für Euch habe, mein Freund, ist die, dass nicht alle Mitglieder der Horde Garroshs Pläne unterstützen. Einige von uns sehen durchaus, wie gefährlich der Pfad ist, auf den er uns führt, und wir fürchten, dass die Horde darunter leiden wird. Voller Sorge um unser Volk verbleibe ich, Euer Freund, Etrigg.“
Thrall gab mit einem Nicken zu verstehen, dass er die Botschaft vernommen hatte, aber in Gedanken hörte er andere Worte, gesprochen vor nicht allzu langer Zeit von einer Frau, die nun tot war.
Alles hat seinen Preis, Go’el. Du hast einen Preis gezahlt, um dein Wissen und deine Fähigkeiten zu erwerben … Garrosh versucht, einen Streit zwischen der Allianz und der Horde zu schüren – einen Streit, den er allein heraufbeschworen hat … Als Schamane kannst du die Winde kontrollieren. Aber nun zieht der Sturm des Krieges auf, und falls wir Garrosh nicht bald aufhalten, werden viele Unschuldige den Preis für unser Zögern bezahlen müssen.
Nun waren wirklich viele Unschuldige gestorben. Eine ganze Weile stand Thrall einfach nur da, versunken in einen schmerzhaften Gewissenskampf, während die anderen Mitglieder des Ringes ihre Bedenken zum Ausdruck brachten. Hatte sie recht gehabt? Hätte das alles verhindert werden können, wenn er die Arbeit hier anderen überlassen hätte?
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ihn eine solche Frage tagelang gequält. Doch nun dachte er ruhig darüber nach, so, wie der Verstand es gebot, und verwarf den Gedanken dann. Jaina hatte stets betont, die eigenen Fähigkeiten zu unterschätzen wäre ebenso töricht, wie sie zu überschätzen. Er hatte während der Schlacht gegen Todesschwinge für die vier Aspekte das Element der Erde repräsentiert, und auch wenn er gewiss nicht allein für den Heilungsprozess verantwortlich war, der sich hier zutrug, wusste er doch, dass er einen großen Beitrag dazu geleistet hatte.
Er hatte die Welt im wahrsten Sinne des Wortes verändert, indem er sie geheilt hatte.
Natürlich beunruhigte es ihn ebenso sehr wie die anderen Schamanen, dass Garrosh geschmolzene Riesen einsetzte, und er teilte auch ihre Trauer angesichts des ehrlosen Angriffes auf Theramore, der Zweckentfremdung eines gestohlenen Artefakts und des feigen Massenmordes aus der Ferne. Doch zugleich wusste er, dass er – mehr noch, dass sie alle – jetzt hier gebraucht wurden. Diesen Ort konnten sie nicht verlassen.
Nobundo fasste gerade genau diesen Gedanken in Worte, als sich Thrall mit schwerem Herzen wieder der Unterhaltung zuwandte. „Wir sehen die ersten Fortschritte. Wir können jetzt nicht aufhören – keiner von uns.“
„Aber was wird er wohl als Nächstes tun?“, fragte Rehgar. „Geschmolzene Riesen für seine eigensüchtigen Zwecke zu versklaven, das könnte alles zunichtemachen, worauf wir hingearbeitet haben!“
„Wir haben uns mit dem Zirkel des Cenarius und den Aspekten verbündet, um Nordrassil zu retten“, warf Muln Erdenwut ein. „Eine solche Zusammenarbeit hat es noch nie zuvor gegeben, und sie hat das bewirkt, was wir alle erhofft haben. Nordrassil ist geheilt, und deswegen gibt es auch für die gesamte Welt eine Chance auf Heilung. Doch falls Garrosh zu so etwas in der Lage ist, was kann er dann erst unserem Weltenbaum antun?“
Thrall blickte zu seinen Freunden hinüber. Ihre Gesichter spiegelten seine eigene Unentschlossenheit wider, und nachdem Muln und Nobundo einen Blick gewechselt hatten, trat Letzterer vor.
„Diese Nachricht erfüllt mich mit Wut und Trauer“, erklärte er. „Nicht nur, weil die Elementarwesen missbraucht wurden, sondern wegen … … allem. Es stimmt, die Erde könnte sich wieder im Zorn erheben, weil sie so geschändet wurde, und – richtig, auch Nordrassil selbst ist in Gefahr. Aber falls wir jetzt in unserem Streben innehalten, um Garrosh in die Schranken zu verweisen – und ich bin mir nicht sicher, wie die Horde auf solche Bemühungen reagieren würde –, dann gehen wir ein großes Risiko ein. All das Gute, das wir bewirkt haben, könnte umsonst gewesen sein. Go’el – einst führtest du die Horde. Du hast Garrosh als deinen Nachfolger bestimmt. Außerdem wissen wir alle von deiner Freundschaft mit der nach Frieden strebenden Lady Jaina Prachtmeer. Falls du dich um diese Angelegenheit kümmern möchtest, wird niemand deine Beweggründe infrage stellen. Dasselbe gilt auch für euch andere. Wir sind hier, weil wir hier sein wollen – weil wir dazu berufen sind. Doch falls ihr diesen Ruf nicht länger hört, dann steht es euch auch frei, zu gehen. Ihr habt unseren Segen.“
Lange schloss Thrall die Augen. Er war erschüttert, schockiert, wütend, und er wollte nichts lieber, als eine Rüstung anlegen, den Schicksalshammer in die Hand nehmen und nach Orgrimmar marschieren. Er wollte Grom Höllschreis Sohn für all die törichten, überheblichen, zerstörerischen Untaten bestrafen, die er begangen hatte. Garrosh war sein Fehler, und wenn jemand die Pflicht hatte, diesen Fehler zu korrigieren, dann er. Thrall hatte versucht, Garrosh das orcische Ehrgefühl zu vermitteln. Doch statt den besten Taten seines Vaters nachzueifern, hatte sich der junge Höllschrei nur die schlimmsten zum Vorbild genommen.
Aber er konnte nicht gehen, durfte seinen Schmerz nicht stillen. Noch nicht. Selbst wenn jetzt, in diesem Augenblick, Jaina Prachtmeers Geist auftauchen und nach Rache verlangen würde – er müsste ihr sagen, dass es nicht ginge.
Also blickte er aus betrübten blauen Augen zu Nobundo auf und erklärte: „Ich bin voller Trauer. Und voller Zorn. Aber es ist mir bestimmt, hier zu sein. Im Augenblick ist nichts wichtiger als diese Pflicht.“
Nach diesen Worten schwiegen sie alle, selbst Aggra. Sie wussten, welch gewaltigen Preis er bereits gezahlt hatte. Schließlich streckte Rehgar den Arm aus und klopfte Thrall auf die Schulter.
„Wir werden nicht zulassen, dass auch nur ein einziges Opfer dieser Katastrophe umsonst gestorben ist, ob es nun Mitglied der Horde oder der Allianz war. Lasst sie uns durch unser Tun hier ehren. Also los, gehen wir wieder an die Arbeit!“
Jaina trat durch das Portal in Sturmwinds Tal der Helden, direkt unter der Statue von General Turalyon. Einst hatte General Jonathan hier patrouilliert, aber jetzt konnte sie keinen berittenen Soldaten sehen, der darauf wartete, Besucher zu begrüßen oder Botschaften in Sekundenschnelle an den König weiterzugeben. Ihr Blick fiel auf die Gerüste, die um mehrere der Türme herumstanden; die Zerstörung, die Todesschwinge angerichtet hatte, war noch immer nicht gänzlich behoben.
Sie hatte die Fokussierende Iris an einem sicheren Ort versteckt, nahe genug, dass ihre Aura und die des Artefakts für Kalecgos’ suchende Sinne zu einem verschwammen. Davon abgesehen aber hatte sie keine Vorbereitungen für ihr Treffen mit Varian getroffen. Ihr Gesicht und die Roben waren noch immer schmutzig, ihr Körper von kleinen Schnitten übersät und von Blutergüssen verfärbt. Doch es kümmerte sie nicht. Dies war kein formelles Abendessen, keine festliche Soiree. Was sie hierherführte, war ein viel düsterer und ernsterer Anlass, und sie sah keinen Grund, sich dafür zu baden und zu schminken oder auch nur saubere Kleider anzulegen. Das einzige Zugeständnis an ihr Erscheinungsbild war der dunkle Umhang, dessen Kapuze sie tief in ihr Gesicht gezogen hatte, um ihr nunmehr weißes Haar mit der einzelnen blonden Strähne zu verbergen.
Die Nachricht vom grausigen Schicksal Theramores schien bereits bis nach Sturmwind vorgedrungen zu sein. Die Stadt war für gewöhnlich rund um die Uhr ein Ort reger Betriebsamkeit, aber nun war jegliche Unbekümmertheit aus diesem Treiben gewichen, stattdessen wohnte ihm eine düstere Verbissenheit inne. Die Soldaten, die auf den Straßen patrouillierten, grüßten die Bürger nicht mehr zwanglos, sondern marschierten zielstrebig dahin, während ihre Augen wachsam über die Menge schweiften. Die leuchtenden blauen und goldenen Banner waren eingeholt und durch schlichte schwarze Trauerfahnen ersetzt worden.
Jaina zog den Umhang enger um ihre Schultern und machte sich auf den Weg zur Burg. „Halt!“, rief da eine Stimme so schneidend und herrisch, dass Jaina instinktiv die Hände zu einem Zauber hob, als sie sich eilig umdrehte. Doch dann hielt sie inne. Es war kein Mitglied der Horde, das sie angreifen wollte, sondern eine der Wachen von Sturmwind. Der Mann hatte sein Schwert gezogen, als sie sich so abrupt umgewandt hatte, und nun betrachtete er sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Einen Moment später, als seine Augen den ihren begegneten, verwandelte sich der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht in Überraschung.
Jaina zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. „Euer Pflichtbewusstsein ist lobenswert, Sir“, sagte sie. „Ich bin Lady Jaina Prachtmeer – und bin hier, um eine Audienz bei Eurem König wahrzunehmen.“ Mit diesen Worten schob sie die Kapuze ein wenig zurück, um der Wache ihr Gesicht zu zeigen. Sie konnte sich nicht erinnern, diesem Mann schon einmal persönlich begegnet zu sein, aber es war davon auszugehen, dass er sie bei einem ihrer zahlreichen offiziellen Besuche bereits gesehen hatte. Doch selbst wenn nicht: Sie war eine berühmte Persönlichkeit, und viele Leute erkannten sie.
Es dauerte eine Sekunde, dann schob er sein Schwert in die Scheide zurück und verbeugte sich. „Verzeiht, Lady Jaina! Wir hörten, es hätte keine Überlebenden gegeben, außer in den Außenbezirken der Stadt. Dem Licht sei Dank, dass Ihr verschont bliebt!“
Mit dem Licht hat das nichts zu tun, dachte sie. Der ganze Dank gilt Rhonin und seinem Opfer. Sie wusste noch immer nicht, warum sich der Erzmagier entschieden hatte, zurückzubleiben und zu sterben, während sie in Sicherheit gebracht wurde. Er war ein Ehemann und Vater von Zwillingen, außerdem der Anführer der Kirin Tor. Er besaß mehr, wofür es sich zu leben lohnte als Jaina Prachtmeer. Sie hätte mit ihrer Stadt untergehen sollen, jener Stadt, die sie nicht hatte retten können, weil sie zu vertrauensselig gewesen war.
Nichtsdestotrotz waren die Worte der Wache freundlich gemeint. „Danke“, erwiderte sie darum.
Der Soldat fuhr fort. „Wie Ihr sehen könnt, bereiten wir uns auf den Krieg vor. Jeder – wir waren alle entsetzt, als uns die Nachricht erreichte, dass …“
Jaina ertrug es nicht, noch mehr darüber zu hören und hob die Hand. „Ich bin dankbar für Eure Sorge“, erklärte sie. „Varian erwartet mich.“ Das traf natürlich nicht zu. Er glaubte, dass sie gestorben sei, so wie Kinndy und die Leidende und Tervosh und – „Ich kenne den Weg.“
„Daran zweifle ich nicht, Lady. Falls Ihr irgendetwas braucht, ganz gleich was, wäre es eine Ehre für jede Wache von Sturmwind, Euch zu helfen.“
Er salutierte noch einmal und setzte anschließend seinen Patrouillengang fort, während Jaina in Richtung der Burg Sturmwind weiterging. Die Banner der Allianz, die hier für gewöhnlich hinter der Statue von König Varian Wrynn hingen, waren ebenfalls durch schwarze Fahnen ersetzt worden. Jaina, die die Statue schon zuvor gesehen hatte, schenkte ihr kaum Beachtung, ebenso wenig dem Brunnen, auf dem sie stand. Schnellen Schrittes stieg sie die Stufen zum Haupteingang der Burg hinauf, und nachdem sie ihren Namen und ihr Begehr genannt hatte, sagte man ihr, dass Varian sie selbstverständlich so bald wie möglich empfangen werde.
Die Wartezeit wollte Jaina nutzen, um jemand anders einen Besuch abzustatten. Also schlüpfte sie durch eine Seitentür in die Königliche Galerie.
Der Saal hatte den Angriff des großen schwarzen Drachen nicht unbeschädigt überstanden, ebenso wenig wie die darin ausgestellten Kunstwerke. Einige der Statuen waren zerschmettert, Bilder von den Wänden geschleudert worden. Die Werke, die nicht mehr zu retten waren, hatte man bereits entfernt, und die Gemälde, Schnitzereien und Statuen, die noch hier standen, warteten auf die Zuwendung des Restaurateurs.
Hier blieb Jaina stehen, so reglos, als wäre sie selbst aus Stein gehauen, und als die Gefühle, die sich durch ihr Inneres wühlten, sie erneut zu quälen begannen, wünschte sie, sie wäre es wirklich. Einen Moment später gaben ihre Knie nach, und sie fand sich auf dem Boden vor einer großen Statue wieder. Dieses Kunstwerk stellte einen stolzen Mann dar, mit langem Haar, das unter einem breiten Hut hervorwallte. Sein Schnurrbart war ordentlich gestutzt, sein gemeißelter Blick in die Ferne gerichtet. Eine Hand, an der nun zwei Finger fehlten, ruhte auf dem Griff seines Schwertes, die andere umschloss seinen Gürtel. Ein Riss zog sich im Zickzack vom rechten Stiefel aus über die Statue und bis hinauf zur Mitte seiner Brust. Jaina streckte die zitternde Hand aus und schloss sie um den steinernen Stiefel.
„Ist es wirklich erst fünf Jahre her, seit ich meinen Pfad gewählt habe?“, flüsterte sie. „Ich zog es vor, mich auf die Seite von Fremden zu schlagen, von Feinden, von Orcs, und nicht bei dir zu bleiben, Papa. Bei meinem eigenen Blut. Ich habe dich intolerant geschimpft, habe gesagt, dass Friede der richtige Weg sei. Und als du sagtest, du würdest sie immer hassen, du würdest niemals aufhören, gegen sie zu kämpfen, erwiderte ich, sie wären auch nur … Leute. Dass sie eine Chance verdient hätten. Jetzt bist du tot. Und meine Stadt ist auch tot.“
Tränen rannen an ihrem Gesicht hinab. In einem Teil ihres Gehirns, der von ihren Gedanken losgelöst war, nahm sie zur Kenntnis, dass diese Tränen violett waren und glühten – flüssige arkane Energie. Sie tropften auf den steinernen Sockel, auf dem die Statue ruhte, und verdampften zu lila Dunst.
„Papa … vergib mir! Vergib mir, dass ich die Horde so stark werden ließ! Vergib mir, dass ich ihnen die Gelegenheit gab, so viele unserer Leute abzuschlachten!“ Sie hob den Kopf und blickte durch einen violett-weißen Schleier zu der unerbittlichen Statue hinauf. „Du hattest recht, Papa. Du hattest recht! Ich hätte auf dich hören sollen! Jetzt, jetzt, da es zu spät ist, habe ich es verstanden. Leider musste erst diese … Katastrophe geschehen, bevor ich begreifen konnte.“
Sie wischte sich mit dem Ärmel über die tränennassen Augen. „Aber noch ist es nicht zu spät, um dich zu rächen. Um K-kinndy zu rächen, und die Leidende und Tervosh und Rhonin und Aubrey und all die Generäle – und auch die anderen, die letzte Nacht in Theramore gefallen sind. Sie werden dafür bezahlen. Die Horde wird bezahlen. Ich werde Garrosh vernichten, du wirst sehen. Wenn möglich mit meinen eigenen Händen. Ich werde ihn zerstören und jeden seiner verfluchten grünhäutigen Schlächter auch. Ich verspreche es dir, Papa, ich werde dich nicht noch einmal enttäuschen. Ich werde nicht zulassen, dass sie noch mehr von unseren Leuten töten. Nie wieder. Das schwöre ich. Ich schwöre es …“
Jaina brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, bevor sie nach draußen zurückkehrte, um auf ihre Audienz bei Varian zu warten. Doch diese neu gewonnene Beherrschung wurde schon bald wieder zerschmettert, nachdem man sie angekündigt und in die Privatgemächer des Königs geführt hatte, denn dort begrüßte sie nicht der hochgewachsene dunkelhaarige Mann, der einst ein Gladiator gewesen war, sondern ein schlanker flachsblonder Junge.
„Tante Jaina!“, rief Anduin und eilte zu ihr hinüber, sein Gesicht voller Erleichterung. „Du lebst!“
Jaina wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie dachte an die Scherbe des Spiegels, und …
Er schlang die Arme fest um sie, aber Jaina stand wie erstarrt in dieser Umarmung. Der Junge merkte es sofort und trat einen Schritt nach hinten. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr das Arkane sie verändert hatte. Seine Augen weiteten sich.
„Was tust du hier?“, fragte sie, strenger, als sie eigentlich gewollt hatte.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, sagte er. „Als wir erfuhren, was mit Theramore geschehen ist … Ich wollte hier sein. Ich wusste, falls du überlebst, würdest du nach Sturmwind kommen.“
Sprachlos starrte sie ihn an. Was konnte sie auch schon sagen? Wie sollte sie diesem naiven Kind das Grauen begreiflich machen, das sie miterlebt hatte? Er war so unschuldig, wusste so wenig von der wahren Natur ihres Feindes. Ich war ganz früher auch einmal so naiv und unwissend wie er …
„Jaina! Dem Licht sei gedankt!“ Sie atmete auf und drehte sich herum, als der Kriegerkönig in den Raum trat. Varian hegte schon lange einen persönlichen Groll gegen die Orcs. Anduin war noch zu jung, um Jaina zu verstehen, aber eines Tages würde er ihre Beweggründe begreifen; Varian hingegen verstand sie jetzt schon – jetzt, als es am meisten zählte.
Er war leger gekleidet und machte einen erschöpften, gehetzten Eindruck. Aber da war auch Erleichterung und Freude auf seinem Gesicht, und als er sah, wie sie sich verändert hatte, gesellte sich ein verwirrter Ausdruck hinzu.
Irritiert ob dieses Blickes schnappte Jaina: „Ich habe nur überlebt, weil mich Erzmagier Rhonin durch ein Portal gestoßen und so in Sicherheit gebracht hat. Dennoch ging die Explosion auch an mir nicht spurlos vorüber.“
Varian zog infolge der Direktheit ihrer Aussage eine Braue in die Höhe. Aber dann nickte er und akzeptierte ihre Erklärung, ohne weiter nachzufragen. „Es wird Euch sicher freuen zu erfahren, dass Ihr nicht die einzige Überlebende seid“, sagte er. „Vereesa Windläufer, Shandris Mondfeder und ihre Spähmannschaften sind ebenfalls heil davongekommen. Die beiden sind in ihre jeweiligen Heimatstädte zurückgekehrt und beraten sich mit ihrem Volk über den Krieg.“
Jaina wollte nicht an die verwitwete Vereesa oder ihre beiden vaterlosen Kinder denken. „Es freut mich, dies alles zu hören“, meinte sie. „Oh, Varian, ich muss Euch um Vergebung bitten. Ihr hattet recht. Schon die ganze Zeit über. Wieder und wieder habe ich Euch gesagt, wir könnten irgendwie zur Horde durchdringen, einen Weg für den Frieden finden. Aber das war eine Illusion. Was mit Theramore geschehen ist, beweist, was Ihr schon wusstet, als ich noch von der Hoffnung geblendet war und es nicht sehen wollte: Es kann keinen Frieden geben. Wir müssen Vergeltung an der Horde üben. Jetzt. Sie werden alle nach Orgrimmar zurückkehren. Die Versuchung, seinen triumphalen Sieg über die Allianz zu feiern, ist zu groß – Garrosh wird ihr nicht widerstehen können.“
Unmerklich zuckte Anduin zusammen, als er die Verbitterung in ihrer Stimme vernahm. „Es wird ein gewaltiges Gelage geben, seine ganze Armee wird sich dort versammeln. Einen besseren Zeitpunkt für den Gegenschlag gibt es nicht.“
Varian wollte etwas sagen. „Jaina …“
Doch sie fuhr unbeirrt fort und ging gestikulierend auf und ab. „Die Kaldorei werden sich sicher überreden lassen, unsere Flotte mit ihren Schiffen zu verstärken. Wir werden sie völlig überraschen, alle Orcs töten und die gesamte Stadt dem Erdboden gleichmachen. Wir werden ihnen einen Schlag versetzen, von dem sie sich nie wieder erholen. Wir werden …“
„Jaina.“ Varians tiefe Stimme klang ruhig, als er nach ihren Handgelenken griff und sie mit sanfter Gewalt zwang, in ihrem hektischen Auf und Ab innezuhalten. „Beruhigt Euch bitte!“
Fragend blickte sie zu ihm auf. Wie konnte er jetzt von Ruhe sprechen?
„Ich bin sicher, Ihr wisst noch nicht davon, aber die Horde hat eine höchst wirkungsvolle Blockade um den gesamten Kontinent errichtet. Die Kaldorei könnten uns nicht einmal helfen, falls sie es wollten. Das soll natürlich nicht heißen, dass wir nicht zurückschlagen werden. Aber wir müssen dabei wohlüberlegt vorgehen. Wir brauchen eine Strategie, einen Plan, wie wir die Blockade durchbrechen und die Nordwacht zurückerobern können.“
„Wisst Ihr denn nicht, was sie mit der Feste getan haben?“, schnappte Jaina.
„Doch“, nickte Varian, „aber sie ist und bleibt ein strategisch wichtiger Außenposten, den wir unter unsere Kontrolle bringen müssen, bevor wir gegen die Horde losschlagen können. Und wir müssen die Flotte wieder aufbauen. Viele gute Männer sind bei Theramore gestorben; es wird eine Weile dauern, geeignete Leute von ihren Posten abzuziehen und diese Lücken zu schließen. Jaina, wir müssen das richtig in Angriff nehmen, sonst werden nur noch mehr Leute ihr Leben verlieren.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Dafür haben wir keine Zeit.“
„Nein, wir haben keine Wahl“, entgegnete Varian. Auch jetzt ließ er seine Stimme ruhig und besonnen erklingen, und aus irgendeinem Grund machte das Jaina wütend. „Wir haben es hier mit einem Krieg zu tun, der sich über zwei ganze Kontinente ausbreiten könnte, vielleicht sogar bis nach Nordrend. Falls ich in einen solchen Weltkrieg eintrete, in dem es keine sicheren Grenzen mehr gibt, werde ich mir vorher einen Plan zurechtlegen. Falls wir dagegen einfach Hals über Kopf losstürmen, werden wir der Horde nur die Arbeit abnehmen.“
Jaina blickte zu Anduin hinüber. Schweigend stand er da, sein Gesicht war blass, die blauen Augen betrübt, aber er machte keine Anstalten, seinen Vater und seine Freundin bei dieser Auseinandersetzung über einen weltumspannenden Krieg zu unterbrechen. Kurz darauf richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Varian.
„Ich habe etwas in meinem Besitz, das uns helfen könnte“, erklärte sie. „Eine sehr mächtige Waffe ist mir in den Schoß gefallen. Sie kann Orgrimmar zerstören, ebenso sicher und vollständig, wie die Horde Theramore zerstört hat. Aber wir müssen jetzt handeln, solange ihre Armeen so töricht in Orgrimmar versammelt sind. Andernfalls vertun wir eine einmalige Gelegenheit!“
Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme lauter, und sie stellte fest, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Es wäre mehr als gerecht, die Fokussierende Iris gegen Garrosh und sein geliebtes Orgrimmar einzusetzen. „Wir können sie allesamt auslöschen. Jeden einzelnen dieser grünhäutigen …“
„Jaina!“ Das Wort war ein einziger gequälter, scharfer Ausruf, und er stammte aus Anduins Mund. Überrascht verstummte sie.
„Was in Theramore geschehen ist, war mehr als nur eine Tragödie“, sagte Varian, während er Jaina sanft herumdrehte, nämlich so, dass sie wieder ihn ansah. „Es war ein unwiederbringlicher Verlust und ein feiger, verabscheuungswürdiger Akt. Aber wir dürfen diesen Verlust nicht noch schlimmer machen, indem wir weitere Allianzsoldaten unnötig in den sicheren Tod schicken.“
„Gewiss gibt es auch in der Horde einige, die über diese Ereignisse wütend sind“, warf Anduin ein. „Die Tauren zum Beispiel. Und sogar die meisten Orcs schätzen nichts mehr als die Ehre.“
Jaina neigte den Kopf. „Nein. Nicht mehr. Dafür ist es zu spät, Anduin. Viel zu spät. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Du hast nicht gesehen, was …“ Ihr versagte die Stimme, und es dauerte einen Augenblick, bevor sie weitersprechen konnte. „Wir müssen zurückschlagen. Und wir dürfen nicht damit warten. Wer weiß schon, welche Grausamkeit Garrosh und seine Horde aushecken, sollten wir es doch tun? Es darf kein zweites Theramore geben, Varian! Seht Ihr das denn nicht?“
„Keine Sorge, wir werden gegen sie kämpfen – aber zu unseren Bedingungen.“
Sie wand sich aus dem Griff seiner Hände frei und trat zurück. „Ich weiß nicht, was mit Euch geschehen ist, Varian Wrynn, aber Ihr habt Euch in einen Feigling verwandelt. Und du, Anduin: Es tut mir leid, dass ich dich in dem Irrglauben an eine heile Welt gelassen habe, du Kind. Es gibt keine Hoffnung auf Frieden; und wir haben keine Zeit mehr zu taktieren. Ich habe das Werkzeug ihres Untergangs in meiner Hand. Und Ihr seid ein Narr, diese Gelegenheit nicht zu ergreifen, Varian!“
Vater und Sohn stießen gleichzeitig ihren Namen hervor, auf unterschiedliche Weise zwar, zugleich aber doch sehr ähnlich. Und dann machten sie bittend einen Schritt nach vorn.
Doch Jaina wandte ihnen beiden den Rücken zu.