13

„Kleines Fräulein Schülerin“, sagte Kalec, während er die Figuren auf dem Spielbrett betrachtete, „ich glaube, Ihr habt dieses Spiel schon mehr als einmal gespielt.“

Kinndys große Augen wurden noch größer, als sie ihren Unschuldsblick aufsetzte. „Ich? Oh, wohl kaum! Tervosh hat es mir erst in der letzten Woche beigebracht.“ Der Drache hob den blauäugigen Blick von den Spielfiguren und zog eine indigofarbene Braue in die Höhe, woraufhin sich Kinndys Miene in ein Grinsen auflöste. „Na schön“, gestand sie, „es gibt vielleicht doch einen Grund, warum sonst keiner mit mir spielen will.“

„Dann bin ich also nur ein weiteres Opfer für Euch?“

„Mmm“, machte Kinndy, als wollte sie sich nicht festlegen. Kalec war schon im Begriff, seinen nächsten Zug zu machen, da hörte er das vertraute Geräusch eines Teleportationszaubers, und mit einem Mal war das Spiel vergessen. Er drehte sich herum und sah, wie Jaina in dem Salon materialisierte. Sie lächelte, ein Ausdruck, den er noch nicht sehr oft auf ihrem Gesicht gesehen hatte. Im Stillen dankte er der Person oder dem Umstand, der es auf ihre Lippen gezaubert hatte.

„Deine Eltern“, sagte Jaina, an Kinndy gewandt, „sind wirklich die freundlichsten Leute in ganz Azeroth. Und die großzügigsten.“ Sie griff in die Tasche und reichte dem Gnomenmädchen eine kleine Schachtel mit Backwaren. Kinndy öffnete das Päckchen, das eine beeindruckende Vielfalt an Köstlichkeiten enthielt: Törtchen, Pasteten, cremegefüllte Taschen, Teigbällchen und allerlei andere Leckerbissen, bei deren Anblick einem das Wasser im Munde zusammenlief.

„Und, wie lief es?“, fragte Kinndy, bevor sie einen Bissen von etwas Glasiertem und köstlich Duftendem nahm.

Jainas Gesicht wurde wieder ernst. Sie ließ sich auf ihren eigenen Stuhl fallen, um sich etwas Tee einzuschenken. „Nicht sehr gut“, berichtete sie. „Aber ich glaube, es ist mir gelungen, zumindest ein paar Leute zum Umdenken zu bewegen. Also blick nicht so niedergeschlagen drein“, fügte sie hinzu, als Kinndy auf ihrem Platz in sich zusammensank. „Sie haben mir ihre Entscheidung in der Sache noch nicht mitgeteilt. Was bedeutet, dass sie noch weiter darüber beratschlagen müssen. Vielleicht unterstützen sie uns zu guter Letzt ja doch. Aber wie auch immer, es war jedenfalls eine gute Idee, Kinndy.“

„Es wäre eine bessere Idee gewesen, wenn Ihr mit einer ganzen Gruppe von Kirin Tor zurückgekommen wärt“, brummte das Gnomenmädchen.

„Da kann ich dir nicht widersprechen“, erwiderte Jaina. „Aber ich werde nehmen, was ich nur bekommen kann. Und alles, was das zurzeit ist, sind Beerentörtchen.“

„Ich bin froh, dass Ihr noch nicht alles Gute aus Eurer Welt gewichen wähnt“, sagte Kalec, während auch er sich eine von Jaxis Köstlichkeiten nahm. „Aber ich bedaure, dass das Treffen nicht besser verlief.“

Jaina winkte mit einer zuckerverschmierten Hand ab. „Ich kann mir noch genug Sorgen machen, wenn sie mir ihre Entscheidung mitgeteilt haben“, sagte sie. „Aber ich hätte nichts dagegen, wenn Ihr ein paar gute Nachrichten über die Lage hier hättet.“

„Leider nein“, sagte Kalec voll tief empfundenem Bedauern. „Die Horde wartet weiter vor unserer Türschwelle, vorsichtig darauf bedacht, uns nicht zu nahe zu kommen. Und die Fokussierende Iris irrt unglücklicherweise ebenfalls weiter durch Kalimdor, mit einer Geschwindigkeit, die mich jetzt noch verblüfft.“

Kinndy beobachtete sie, während sie an ihrem Törtchen knabberte, die Augen nachdenklich zusammengekniffen. „Ich glaube, ich werde das oben in meinem Zimmer zu Ende essen“, erklärte sie. „Da ist noch ein Buch, das ich mir ansehen wollte. Vielleicht finde ich ja etwas Hilfreiches darin.“

Sie stellte Teetasse und Törtchen auf einem Tablett ab und verließ den Salon ohne ein weiteres Wort. Jaina zog eine goldene Augenbraue nach oben, während sich ihre Stirn verwirrt furchte.

„Was hatte das denn zu bedeuten?“, fragte sie.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Kalec, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte zwar eine Vermutung, warum das Gnomenmädchen sie beide allein lassen wollte … aber das war ein Gedanke, mit dem er sich nicht weiter beschäftigen konnte.

Sie wandte sich ihm zu und blickte ihn neugierig an. „Warum seid Ihr hier, Kalecgos vom blauen Drachenschwarm?“

Die Frage erfüllte ihn mit Unbehagen, wenn er auch nicht genau sagen konnte, warum. „Ich suche nach der …“

„Der Fokussierenden Iris, ja, das weiß ich. Das hat Euch ursprünglich hierhergeführt, aber … warum seid Ihr zurückgekehrt? Ihr hättet an jedem Ort auf diesem Kontinent warten können, bis die Iris stehen bleibt und sich stabilisiert. Und dennoch seid Ihr hiergeblieben.“

Kalec spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. Es war eine einfache Frage: Warum blieb er hier, anstatt die Stille der Wildnis zu suchen? Die Spur des magischen Objekts, die ihn hierhergeführt hatte, könnte er an jedem anderen Ort ebenso deutlich spüren. Dennoch war er zurückgekehrt, hatte von einem Gnom gelernt, wie man Schach spielte, mit einer Nachtelfin über militärische Strategien philosophiert, sich mit Tervosh über die Natur des Arkanen unterhalten, und Jainas Gesellschaft genossen …

Jaina.

Sie war der Grund, warum er geblieben war.

Erwartungsvoll blickte die Lady Prachtmeer ihn an, während sie mit einer schlanken Hand eine Strähne goldenen Haares hinter ihr Ohr strich, den Kopf zur Seite geneigt, einen fragenden Ausdruck auf dem Gesicht – und dann trat diese so unverwechselbare Falte auf ihre Stirn, die sonst so glatt und unberührt vom menschlichen Alterungsprozess schien.

Sie wollte eine Antwort, doch er konnte ihr keine geben. Zumindest keine, die der Wahrheit entsprach. Als er aber den Mund zu einer dahingesagten Antwort öffnete, erkannte er, dass er sie nicht anlügen wollte.

„Es gibt mehrere Gründe“, meinte er also nur und wandte den Blick ab.

Jaina beugte sich vor. „Oh!“

„Nun … unter Euresgleichen seid Ihr eine Meisterin der Magie, Jaina. Ich fühle mich in Eurer Gegenwart wohl. Vielleicht möchte ich bei den jüngeren Rassen bleiben, weil mein Volk Eures einst verfolgt hat, ohne irgendeine Legitimation außer einer nebulösen, wörtlich übermittelten Prophezeiung, wonach wir die Wächter der Magie sind. Der Nexuskrieg hat so schrecklich viele Leben gekostet, sowohl unter den Drachen als auch unter den jüngeren Rassen. Sie sind grundlos und brutal hingeschlachtet worden.“ Seine blauen Augen richteten sich auf ihr Gesicht, und diesmal war sie es, die den Blick abwenden musste. „Vermutlich denke ich, dass ich es Euch schuldig bin zu helfen. Außerdem …“ – er lächelte schmal, wohl wissend, dass dieser Teil der Wahrheit entsprach – „seid Ihr eine vorbildliche Gastgeberin.“

„Oh, das bezweifle ich“, sagte Jaina.

„Ich nicht.“ Seine Stimme war sanft, und er erkannte, dass sie zitterte. Am liebsten hätte er ihre Hand in die seine genommen, aber er wagte es nicht. Er wusste selbst nicht, woher sein Interesse an der Magierin Lady Jaina Prachtmeer rührte, und er wollte erst genau erforschen, was er wirklich fühlte, bevor er sich vorwagte und sie fragte, ob sie denn auch so empfand.

Aber vermutlich werde ich es nicht tun, dachte Kalecgos. Malygos hatte seinerzeit den Nexuskrieg angezettelt, mit dem Ziel, die arkane Magie aus ganz Azeroth fortzuleiten, mit Ausnahme seines eigenen Reiches. Es war ein Zeichen ihres guten Willens, dass sie ihm ihre Freundschaft anbot, aber er wollte nicht das Risiko eingehen, indem er nach mehr fragte, erst recht jetzt nicht, da ein Angriff auf Theramore drohte.

„Nun, über Geschmack lässt sich eben streiten“, bemerkte Jaina schnippisch. Kalec spürte eine Welle des Zornes in sich aufsteigen, auf wen oder was auch immer, der ihr ein so schlechtes Bild von sich selbst vermittelt hatte. War es Kael’thas gewesen? Arthas? Ihr Vater, dem sie sich so mutig entgegengestellt hatte, obwohl alle Logik und all ihre Gefühle zweifelsohne danach verlangt hatten, es nicht zu tun? Da war eine Trauer in ihr, eine Betrübtheit, die nichts mit der bevorstehenden Schlacht zu tun hatte – diese Sorge hatte schon in ihren Augen gelegen, als er zum ersten Mal in Theramore angekommen war.

Sie brauchte ihn nun. Die Kirin Tor würden ihr vermutlich den Rücken kehren und zulassen, dass sie und ihre Stadt den Äxten der Orcs, Trolle, Tauren, Verlassenen, Goblins und Blutelfen zum Opfer fielen. Vor seinem geistigen Auge sah er Jaina schon allein dastehen, wie sie sich mit ihrer mächtigen Magie gegen die Feinde verteidigte, ihr bezauberndes Gesicht erschiene in ihrer unnachgiebigen Entschlossenheit, ihre Stadt zu schützen, noch schöner.

Doch alles Talent der Welt würde nicht ausreichen, wenn nur eine einzelne Person sie einsetzen konnte. Theramore würde fallen, und Jaina ebenfalls.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch in diesem Augenblick spürte er plötzlich ein leichtes Prickeln von Magie in der Luft. Jainas Augen weiteten sich ebenfalls, dann sprang sie auf die Füße und eilte in die Ecke, um die drei Bücher in dieser ganz besonderen Reihenfolge anzutippen. Das Regal glitt zur Seite, und als der Spiegel dahinter zum Vorschein kam, wallte bereits Nebel darin.

„Sprich“, sagte Jaina, während ihre Stimme vor Hoffnung zitterte.

Auf diesen Befehl hin nahm der Dunst im Spiegel die Form eines männlichen Menschengesichtes an.

Erzmagier Rhonin.

„Ihr seid eine äußerst überzeugungskräftige Frau“, begann er. „Es ist zwar weiterhin die Auffassung der Kirin Tor, dass wir neutral bleiben sollten, aber Eure Bitte hat uns bewogen einzuschreiten. Selbst Aethas Sonnenhäscher hat zu Euren Gunsten gestimmt. Würden wir Euch nicht gegen eine so gewaltige Übermacht helfen, so würde das bedeuten, passiv die Horde zu unterstützen. Das war zumindest die Logik, mit der er seine Entscheidung begründet hat.“

„Bitte richtet Erzmagier Aethas aus, dass wir seine Logik zu schätzen wissen“, sagte Jaina. Ihr schlanker Körper bebte, und augenscheinlich musste sie sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte sie wohl vor Freude Luftsprünge machen mögen. Kalec ging es nicht anders.

„Ich und einige andere werden bald nach Theramore kommen, um Euch bei der Verteidigung der Stadt beizustehen. Die Betonung liegt aber auf Verteidigung. Wir werden schützen, nicht angreifen. Unsere größte Hoffnung ist ohnehin, dass unsere Gegenwart den Angriff verhindern kann. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Unmissverständlich, Erzmagier. Es ist auch meine Hoffnung, dass wir irgendwie eine friedliche Lösung finden werden.“

Rhonin seufzte, und seine eben noch so ernste Miene wurde nun weicher. „Ich vermute, niemand kann sagen, wie diese Sache ausgeht, aber wir werden ganz sicher nicht einfach nur danebenstehen und Däumchen drehen. Wir werden in Kürze bei Euch sein.“

Das Bild verblasste, und nach einem letzten Wirbel des magischen blauen Dunstes zeigte der Spiegel nur noch eine Reflexion von Jaina und Kalecgos.

Die Lady von Theramore sackte erleichtert in sich zusammen. „Dem Licht sei Dank“, murmelte sie. „Sie werden rechtzeitig hier ankommen, selbst wenn …“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Befürchtung verscheuchen, dass Varians Flotte nicht vor dem Beginn des Angriffs hier eintreffen könnte, dann setzte sie ein strahlendes Lächeln auf, und Kalecs Herz machte einen Sprung in seiner Brust.

Er wollte seine Gedanken aussprechen, konnte es aber nicht. Eine innere Stimme – er wusste noch immer nicht, ob es seine Vernunft oder seine Furcht war, die da zu ihm sprach – sagte: Nein. Nicht jetzt. Vielleicht – nie. Es war klar, was Kalec jetzt tun musste, um ihrer beider willen. Doch dieses Wissen war wie eine Klinge, die in seinem Bauch steckte.

„Das sind in der Tat erfreuliche Neuigkeiten“, sagte er stattdessen. „Sie werden Theramore ebenso gut beschützen, wie ich es könnte, vielleicht sogar besser.“

Ein Teil ihres Überschwangs verschwand. „Könnte?“, wiederholte sie.

Er nickte. „Ja. Ihr habt mich an die Pflicht erinnert, um die ich mich kümmern muss. Jetzt, da ich weiß, dass Ihr Verbündete an Eurer Seite habt, werde ich noch einmal den Kontinent überfliegen. Vielleicht gelingt es mir ja, näher an die Iris heranzukommen.“

„Ich verstehe. Natürlich, das ist eine ausgezeichnete Idee.“ Sie lächelte rasch, und die Besorgnis kehrte in ihre Augen zurück. Ohne Zweifel glaubte sie, dass er sie im Stich ließ.

Und das tue ich auch, dachte er. Aber es ist zu ihrem eigenen Besten. Er wusste, dass – würde er bleiben – er irgendwann nicht mehr anders könnte, als ihr zu sagen, was er in seinem Herzen empfand. Das wäre eine zusätzliche Last für Lady Jaina Prachtmeer, die sie jetzt, da Theramore seiner womöglich schwärzesten Stunde entgegenblickte, ganz sicher nicht brauchen konnte.

Erzmagier Rhonin und die anderen Kirin Tor würden sie beschützen, so gut sie konnten, und keiner von ihnen würde Jaina von ihren Pflichten ablenken, denen im Augenblick ihre ganze Aufmerksamkeit gelten musste.

„Ich nehme an, dann heißt es jetzt Abschied nehmen“, meinte sie mit einem Lächeln, dem aufrichtigen, eingeübten Lächeln eines Diplomaten, und streckte die Hand aus. Kalecgos nahm sie, schloss seine Finger um die ihren und genoss diesen schlichten Handschlag als das, was er gewiss war, nämlich seine letzte Gelegenheit, Jaina zu berühren.

„Ihr seid in guten Händen“, sagte er.

„In den besten von ganz Azeroth“, erwiderte sie fröhlich. „Ich wünsche Euch viel Erfolg, Kalecgos. Ich weiß, Ihr werdet finden, wonach Ihr sucht. Für Euren Schwarm – und für die ganze Welt. Solltet Ihr die Iris nicht sofort aufspüren …, könnte ich Euch dann nach der Schlacht vielleicht noch einmal behilflich sein?“

Er schluckte hart und ließ ihre Hand los. „Falls ich sie noch nicht gefunden habe, wenn die Schlacht vorbei ist, werdet Ihr die Erste sein, die es erfährt“, erklärte er ernst.

Anschließend schritt Kalecgos schneller, als es eigentlich angebracht gewesen wäre, aus dem Turm hinaus ins Freie. Als er eine Stelle erreichte, die groß genug war, verwandelte er sich und sprang dem Himmel entgegen, seine Sinne ausgestreckt, als könnte er die Iris allein mit seinem Willen zwingen, ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen, damit er sie rasch finden und zu Jaina zurückkehren konnte. Doch das Artefakt tat ihm diesen Gefallen nicht, und sein rasantes Hin und Her schien ihn zu verhöhnen, während er mit den Flügeln schlug und davonflog, auf einer Suche, die vermutlich schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.


Kalecs abrupter Aufbruch überraschte Jaina. Wie ihr erst jetzt klar wurde, war sie fest davon ausgegangen, er würde bleiben und helfen. Doch dies war nicht sein Kampf, überlegte sie; vermutlich hatte er schon viel mehr in dieser Angelegenheit getan, als er ursprünglich vorgehabt hatte. So charmant er in seiner Halbelfenform auch sein mochte, letzten Endes blieb er noch immer ein Drache, und die Drachen ergriffen nicht Partei, wenn es um die Probleme der jüngeren Rassen ging. Nichtsdestotrotz empfand sie ein merkwürdiges Gefühl des Verlusts. Er war ihr während dieser wenigen, angespannten Tage zu einem Freund geworden, und sie würde ihn mehr vermissen, als sie erwartet hatte.

Sie hatte aber keine Zeit, noch länger über sein Verschwinden nachzugrübeln, denn Rhonin hielt sein Wort und materialisierte, kaum eine halbe Stunde nachdem er sich bei ihr gemeldet hatte, auf dem Hof vor dem Turm – und auch sein zweites Versprechen löste er ein, denn er war nicht allein.

Knapp ein Dutzend Gestalten begleiteten den Erzmagier, und wenn auch niemand sonst aus dem Hohen Rat unter ihnen war, erkannte Jaina doch in vieren die berühmten Mitglieder der Kirin Tor. Die anderen hatte sie noch nie gesehen, mit einer Ausnahme: Vereesa Windläufer. Offensichtlich wollte sie an der Seite ihres Mannes sein, wenn er sich schon in solche Gefahr begab. Jaina lächelte ihr zum Gruß zu und widmete sich dann den anderen Magiern.

Die vier berühmten Kirin Tor, die Rhonin für diese Mission ausgewählt hatte, waren Tari Zahnradd, eine der besten Gnomenmagierinnen in ganz Dalaran; Amara Leeson, eine Menschenfrau mit langem schwarzem Haar, deren verkniffener Gesichtsausdruck nicht über ihr gütiges Herz hinwegtäuschen konnte; Thoder Windermere, der mit seinem stämmigen Körper und seinen harten Zügen mehr an einen Krieger erinnerte, tatsächlich aber einer der geschicktesten Magier war, den Jaina je getroffen hatte; und zu ihrer Überraschung war da auch Thalen Sangweber, ein Sonnenhäscher, schlank, mit scharfen Zügen und Haaren von der Farbe milchigen Mondlichts.

„Einigen von Euch bin ich bereits begegnet, und ich freue mich darauf, Euch andere auch noch kennenzulernen“, sagte Jaina mit einladender Stimme. „Ich danke Euch von tiefstem Herzen, dass Ihr meinem Hilferuf gefolgt seid. Magier Sangweber, Euch möchte ich meinen ganz besonderen Dank aussprechen. Es muss eine sehr schwere Entscheidung für Euch und Erzmagier Aethas gewesen sein.“

„Nicht so schwer, wie Ihr vielleicht denkt“, erwiderte der Elf mit rauchiger, aber wohlklingender Stimme. „Es war mein Herr Aethas, der die entscheidende Stimme zu Euren Gunsten abgegeben hat.“

„Obwohl ich mit einer Elfin verheiratet bin, kann ich ihre Logik noch immer nicht nachvollziehen“, meinte Rhonin, woraufhin Vereesa ihn in gespieltem Zorn anstarrte. Der Erzmagier zwinkerte seiner Frau zu und drehte sich dann wieder zu Jaina herum. „Also gut, hier sind wir. Ich muss unter vier Augen mit Euch sprechen, Lady Prachtmeer, aber zunächst warten meine Kollegen hier noch auf ihre Befehle.“

„Nennen wir es doch lieber Bitten“, sagte Jaina, dann blickte sie zu Tervosh hinüber. „Tervosh, Kinndy, Leidende? Würdet Ihr unsere Gäste bitte mit dem Aufbau der Stadt vertraut machen und sie Hauptmann Mumm und Hauptmann Ebenstab vorstellen?“

Die Leidende nickte lediglich, aber Tervosh ereiferte sich: „Es wäre uns eine Ehre. Wir sind äußerst dankbar für Eure Unterstützung.“ Kinndy indes wirkte ein wenig überwältigt, und ausnahmsweise schien sie nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Jaina blickte der Gruppe nach, als sie davonging, dann wandte sie sich wieder an Rhonin.

„Ihr wisst hoffentlich, dass Ihr viele Magier empört habt“, sagte er ohne Umschweife.

„Ich?“, fragte Jaina verwirrt.

„Ich weiß, ich weiß, das ist normalerweise nicht gerade mein Spezialgebiet“, gab der rothaarige Magier mit einem selbstironischen Grinsen zurück. „Manche Leute hegen eben gerne einen Groll. Ich würde also nicht so weit gehen zu sagen, dass Ihr Euch während des Dritten Krieges Feinde gemacht habt, aber sagen wir so: Eure Entscheidungen haben Euch nur sehr wenige Sympathien eingebracht.“

„Was habe ich denn getan?“

„Es geht eher um das, was Ihr nicht getan habt. Einige Dalaraner fühlten sich von Euch im Stich gelassen, als Ihr entschieden habt, nicht weiter mit den Kirin Tor zusammenzuarbeiten, sondern auf eigene Faust davongezogen seid.“

„Ich wurde nicht gebraucht“, erklärte Jaina. „Mir war ein anderer Weg – nun, man könnte wohl sagen, vorherbestimmt. Ich ging dorthin, wo ich meiner Meinung nach am meisten bewirken konnte. Ich hatte keine Ahnung, dass sich andere Magier durch diese Entscheidung beleidigt fühlen könnten.“

„Es ist eine alte Verstimmung, mehr nicht“, beruhigte sie Rhonin. „Manche Leute sind einfach nicht glücklich, wenn sie nicht böse auf jemanden sein können. Und der einzige Grund, warum diese Geschichte nicht schon längst verjährt ist, ist der, dass viele Magier Euch für die Zukunft des Rates hielten und nicht irgend so einen dahergelaufenen rothaarigen Besserwisser.“ Als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: „Kommt schon, Jaina, wie oft habe ich schon aus Eurem Munde gehört, dass es ein ebenso großer Fehler ist, die eigenen Talente herunterzuspielen, wie sie künstlich aufzublähen. Ich bin gut. Verdammt gut. Und das Gleiche gilt auch für viele andere bei den Kirin Tor. Ein paar von ihnen sind heute sogar hier. Aber Ihr …“ Er schüttelte bewundernd den Kopf. „Ihr seid eine gute Diplomatin, daran gibt es keinen Zweifel. Azeroth hat Euch viel zu verdanken. Aber selbst ich denke, dass Ihr Eure Talente hier in Theramore verschwendet.“

„Theramore ist eine Nation, ein Leuchtfeuer der Hoffnung in dieser Welt, und ich habe versprochen, mich um sie zu kümmern und sie zu beschützen. In Dalaran wäre ich nur eine weitere Kirin Tor. Hier hingegen …“ Sie machte eine Handbewegung, die das Treiben ringsum einschloss. „Ich kann die Stadt nicht verlassen, nicht jetzt. Vermutlich nie, Rhonin. Ihr wisst das. Theramore braucht mich. Und was immer Ihr auch sagt, ich kann nicht glauben, dass ich Azeroth als eine Magierin unter vielen in Dalaran besser dienen kann als hier mit meiner Diplomatie.“

Er nickte, ein wenig bedauernd, wie es ihr schien. „Ihr seid Theramore“, stimmte er dann zu. „Mehr, als je einer von uns die Kirin Tor verkörpern könnte. Diese Welt ist in einem bemitleidenswerten Zustand, Jaina. Man hat ihr keine Gelegenheit gegeben, sich zu erholen. Erst der Krieg gegen Malygos und die blauen Drachen, dann der Kampf gegen diesen Bas–, vergebt mir, gegen den Lichkönig, der so viele Leben gekostet hat. Und anschließend ist Azeroth praktisch entzweigebrochen. Ohne Eure Bemühungen schmälern zu wollen, aber ich glaube, weder die Horde noch die Allianz wissen, was sie mit sich anfangen sollten, wenn es zu einem Frieden käme.“

Jaina wusste, dass Rhonin mit seinem Kommentar keine Kritik an ihr üben wollte. Er bedauerte lediglich die Tatsache, dass Azeroth und seine Bewohner gezwungen gewesen waren, so viele Katastrophen und so viel Gewalt zu erdulden – ein Umstand, den sie selbst ebenso bedauerte. Dennoch erstarrte sie. Seine Worte gingen ihr viel zu nahe. Verschwendete sie vielleicht wirklich ihre Zeit in Theramore? Und hatte sie nicht selbst eingestanden, vor Kurzem erst in einem Gespräch mit Go’el, dass sie fürchtete, ihre Worte könnten ungehört verhallen? Sie erinnerte sich noch genau daran, was sie damals gesagt hatte: Es ist, als müsste ich mich jedes Mal durch einen Morast vorkämpfen, damit man mir zuhört oder mich auch nur beachtet. Es ist … schwierig, diplomatisch zu bleiben und weiter auf echte, vernünftige Ziele hinzuarbeiten, wenn sich sonst niemand mehr um die Vernunft zu scheren scheint. Ich frage mich oft, ob ich nur meinen Atem verschwende.

Kalecgos hatte dieselben Bedenken geäußert. Warum seid Ihr nicht in Dalaran? Warum hier, zwischen einem Sumpf und einem Ozean, zwischen der Horde und der Allianz?

Weil schließlich jemand hier sein muss, hatte sie ihm geantwortet – und weil sie glaubte, dass sie die nötigen Fähigkeiten hatte, um sich als Diplomatin durchzusetzen.

Falls Ihr das glaubt – und ich sage nicht, dass Ihr Euch irrt –, warum müsst Ihr dann noch versuchen, Euch selbst davon zu überzeugen?

Hatte sie etwa all diese Zeit das Falsche getan, am falschen Ort?

Sie zwang sich, den Gedanken zu verdrängen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich in Bedauern zu verlieren. Nein, jetzt war es an der Zeit, zu handeln und ihr Volk vor der Schlacht zu schützen, die sich – durchaus auch im wörtlichen Sinne – bereits am Horizont abzeichnete. „Zunächst einmal muss ich dafür sorgen, dass meine Leute sicher sind“, erklärte sie Rhonin. „Nicht mal ich kann über Frieden sprechen, solange sie in Gefahr schweben. Gehen wir.“

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