11

Vier Tage. Vier ganze Tage wartete die geballte Armee der Horde nun schon auf den Befehl, gegen Theramore zu marschieren, aber Garrosh war die ganze Zeit über in seinem Kriegszelt geblieben, und jede Bitte um eine Audienz wurde abgeschmettert.

So loyal die Mitglieder der Horde ihrem Kriegshäuptling auch folgen mochten, Geduld zählte nicht zu ihren Stärken, und so waren schon bald gemurmelte Klagen sowie Fragen, die im Flüsterton gestellt wurden, unter ihnen laut geworden. Baine, der keinen Mangel an Klagen und Fragen hatte, hatte diesem Gemurmel mit seinen scharfen Ohren gelauscht und im Geheimen mit jenen gesprochen, die wegen der unbegründeten Verzögerung beunruhigt waren.

Gemeinsam mit Hamuul Runentotem hatte er ein Treffen organisiert, ein Stück von den Ruinen entfernt, in der Nähe eines riesigen Baumes, auf der rechten Seite des Großen Grabens, wo sich die Erde während des Kataklysmus aufgetan hatte. Als der Zeitpunkt gekommen war, fand sich Baine als Erster dort ein. Die anderen tauchten einer nach dem anderen auf: Hauptmann Frandis Farley und ein paar seiner Gefährten von den Verlassenen; Kelantir Blutklinge, Hauptmann Zixx Mahlzahn, der das Kommando auf einem der Zeppeline hatte; Margolag, der für Etrigg sprach; sowie ein paar seiner eigenen Tauren. Die Letzten, die am Treffpunkt eintrafen, waren Vol’jin und zwei seiner Trolle. Baine war gleichzeitig erfreut und besorgt, seinen Freund bei dieser Zusammenkunft zu sehen.

Einen Augenblick lang standen sie alle nur schweigend da und sahen Baine an, und er blickte im Gegenzug in ihre Gesichter, eines nach dem anderen. „Niemand hier verrät die Horde“, sagte er dann mit seiner tiefen, grollenden Stimme. „Es ist kein Widerspruch, loyal zu sein und zugleich den Sinn bestimmter Entscheidungen zu hinterfragen. Aber alle, die wir uns hier versammelt haben, wissen auch, dass jeder sein eigenes Verständnis von Verrat hat und dass Malkorok uns ohnehin schon mit argwöhnischem Auge betrachtet.“

Abgesehen von den leisen Geräuschen, mit denen ein paar der Anwesenden das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerten, blieb alles still. Baine fuhr fort.

„Wir alle lieben die Horde, und genau deshalb habe ich euch gebeten hierherzukommen. Noch kann keiner von euch eines verräterischen Verhaltens beschuldigt werden, darum bitte ich diejenigen, die Zweifel haben, jetzt zu gehen. Niemand wird euch übel nehmen, wenn ihr in eure Zelte zurückkehrt. Aber ich erwarte von euch, dass ihr vergesst, wer heute Nacht außerdem noch hier war, sollte man euch gefangen nehmen oder befragen, ebenso, wie wir vergessen werden, dass ihr jemals hier gewesen seid. Lebt frei und zieht in Frieden dahin!“

Ein Taure, den Baine im Licht des kleinen Lagerfeuers nur als hünenhafte Silhouette ausmachen konnte, wandte sich um und ging, ebenso wie zwei der Untoten. Die anderen blieben, wo sie waren.

„Ihr habt Mut“, sagte Baine, dann bedeutete er ihnen, sich zu setzen.

„Das hat weniger mit Mut zu tun als mit Angst“, brummte Zixx’ erster Maat. „Hat jemand was zu trinken dabei?“ Einer der Trolle reichte ihm wortlos einen Weinschlauch, und der Goblin nahm einen großen Schluck.

„Blar hat recht, auch wenn man es sicher besser hätte ausdrücken können“, betonte Janir Leuchtklinge. „Wir haben gehört, was mit denen geschieht, die sich gegen Garrosh aussprechen. Thrall hätte sich zumindest angehört, was man zu sagen hat! Und er hätte uns niemals auf einen solchen Feldzug geführt! Die Allianz wird …“

Baine hob die Hand. „Ruhig, mein Freund. Alles, was du sagst, mag zwar stimmen, aber Thrall ist nicht länger unser Kriegshäuptling. Garrosh Höllschrei führt uns jetzt. Und wir sind heute nicht hier zusammengekommen, um einen Aufstand zu planen, sondern um über seine bisherigen Taten und die Weisheit – oder Torheit – seiner Entscheidungen zu sprechen.“ Er nickte Hamuul zu, der ihm daraufhin einen mit Federn, Perlen und Knochenstücken behangenen Stock reichte. „Das ist der Redestab. Nur wer ihn hält, hat das Wort.“ Er hielt ihn in den Kreis der anderen. „Wer möchte zuerst sprechen?“

„Ich würde gerne etwas sagen, Oberhäuptling Bluthuf.“ Das kam von Frandis Farley. Baine neigte den Kopf, und der Stab wurde von Hand zu Hand weitergereicht, bis er den Anführer der Verlassenen-Truppen in Garroshs Armee erreichte. „Ich diene der Horde. Aber ich habe das Gefühl, dass die Horde nicht länger mir oder meiner Lady dient. Einst waren wir Menschen; ich selbst lebte damals in der Stadt Sturmwind, deren Soldaten ohne jeden Zweifel bald gegen uns in die Schlacht ziehen werden. Die Allianz weiß inzwischen sicher, was geschehen ist, und ich glaube, Lady Jaina ist schlau genug, um zu erkennen, dass Theramore Garroshs nächstes Ziel sein könnte.“

Seine Vermutung war zutreffender, als er auch nur ahnen konnte, aber Baine ließ sich nichts anmerken. Sein Gesicht blieb reglos, während er dem Verlassenen lauschte.

„Und obwohl sie all das wusste, hat Lady Sylvanas zugestimmt, den Kriegshäuptling bei seinem Plan zu unterstützten. Doch wofür? Wir sind alle versammelt! Die Horde hat ausreichend Ausrüstung und Vorräte, und bei denen von euch, denen noch Blut durch die Adern fließt, bin ich mir sicher, dass dieses Blut in Erwartung des Kampfes kochen wird. Worauf wartet er also noch? Mit jedem Tag, der vergeht, wächst die Verunsicherung in seinen Reihen. Das ist nicht das Handeln eines weisen Anführers. Das ist einfach nur …“ Er suchte nach dem richtigen Wort. „Verantwortungslos.“

Blutklinge streckte ihren Arm aus und nahm den Redestab. „Ich stimme Hauptmann Farley zu. Seine Länder und unsere werden einen hohen Preis zahlen, sollten die Menschen beschließen, dort Rache zu nehmen, anstatt ihre Schiffe nach Theramore zu schicken. Je schneller wir zuschlagen, desto schneller ernten wir auch die Früchte des Sieges. Ich kann nicht verstehen, dass Garrosh den Angriff hinauszögert. Jede Minute, die vergeht, nützt unseren Feinden und schadet uns.“

„Ich weiß nicht, warum er …“, begann der erste Maat der Goblins.

„Erst wenn du den Stab hältst, Freund“, brummte Baine. Blar sah sich ein wenig verlegen um, dann nahm er den Stock mit beiden Händen und räusperte sich.

„Was ich sagen wollte, war: Ich weiß nicht, warum er diesen Feldzug überhaupt begonnen hat. Handelsprinz Gallywix mag zwar von überquellenden Goldtruhen träumen, aber soweit ich das sehen kann, werden wir Goblins nur als Kanonenfutter benutzt. Für uns lässt sich kein echter Profit aus diesem Unterfangen ziehen.“

Vol’jin ließ sich den Stock geben. „Danke, mein kleiner Freund“, sagte er. „Ihr alle wisst, dass die Trolle ein stolzes und uraltes Volk sind. Wir hab’n uns der Horde angeschloss’n, weil Sen’jin die Vision hatte, dass Thrall uns helf’n könnte. Und er hat uns geholf’n. Er war ein guter Anführer. Jetzt is’ Thrall weg, und Garrosh hat sein’n Platz eingenomm’n. Thrall, der wusste, wie wichtig die Elemente und die Geister sind. Er war der erste neue Schamane, den sein Volk seit viel’n Jahr’n hervorgebracht hat. Wir Trolle wiss’n auch um die Elemente und die Geister, und lasst mich euch sag’n, was Garrosh und sein dunkler Schamane da getan hab’n – das hat die Geister erzürnt. Ich weiß nich’, wie lange er diese geschmolz’n’n Ries’n noch kontrollier’n kann, aber wenn es ihm nich’ mehr gelingt, dann …“ Er lachte. „Nun, wir alle hab’n den Kataklysmus erlebt. Damals hat Todesschwinge die Welt verletzt. Wie viel schlimmer wird’s erst werd’n, wenn die Horde die Geister beleidigt? Und wer wird drunter leid’n, wenn sie sich räch’n? Genau, wir, meine Freunde.“

„Ja, du wirst leiden, Freund, aber nicht durch die Hand von Geistern!“

Die tiefe, raue Stimme erklang scheinbar aus dem Nichts. Baine sprang auf die Hufe, ebenso wie die anderen, die sich hier versammelt hatten, und viele von ihnen zückten ihre Waffe. Doch dann erkannte Baine die Stimme, und er rief den anderen zu: „Legt Eure Waffen nieder! Legt sie nieder!

„Ausnahmsweise macht der Bulle einen weisen Vorschlag“, sagte Malkorok, während er vortrat, sodass die anderen ihn im Schein des Lagerfeuers sehen konnten. „Falls ich nach den nächsten drei Herzschlägen noch eine Waffe sehe, werde ich denjenigen töten, der sie in der Hand hält.“

Er sprach diese Drohung ganz ruhig aus, aber er musste auch gar nicht brüllen, um ihnen das Blut in den Adern stocken zu lassen. Langsam kamen die Mitglieder der Horde, die ihre Dolche und Schwerter gezogen oder Pfeile an die Sehnen ihre Bögen gelegt hatten, Baines Aufforderung nach.

„Ich kann es nicht glauben“, ertönte eine weitere Stimme, und sie war alles andere als ruhig. Sie bebte vor Zorn, gleichzeitig aber, erkannte Baine, klang sie auch verletzt.

Garrosh Höllschrei trat nach vorne und betrachtete die Versammelten voller Abscheu. Baine konnte sehen, dass die beiden nicht allein gekommen waren; zahlreiche Umrisse bewegten sich in der Finsternis ringsum: Kor’kron.

„Ich wusste von eurem kleinen Treffen“, sagte Garrosh, dann blickte er zu Hauptmann Zixx hinüber und nickte. Der Goblin eilte hastig zu ihm hin, und obwohl er versuchte, einen ruhigen Eindruck zu machen, war doch offensichtlich, dass er sich hinter der massigen Gestalt des Orcs verstecken wollte. „Ich kam her, um mit meinen eigenen Augen und Ohren zu sehen und zu hören, ob Malkoroks Verdacht begründet ist.“

Baine wandte sich ihm zu. „Falls Ihr alles gesehen und gehört habt“, erklärte er, „dann wisst Ihr, dass es niemandem hier um Verrat ging. Keiner von uns will Euch stürzen. Niemand hier hat ‚Tod Garrosh‘ gerufen. Was gesagt wurde, wurde allein aus Sorge um die Horde gesagt, der wir alle verpflichtet sind.“

„Den Kriegshäuptling der Horde zu kritisieren, heißt, die Horde zu kritisieren“, schnappte Malkorok.

„Falls du das denkst, dann sind zwei und zwei für dich fünf“, entgegnete Baine. „Unsere Sorge ist begründet, Kriegshäuptling. Viele von uns haben um eine Audienz bei Euch gebeten, damit wir Euch unsere Bedenken von Angesicht zu Angesicht vortragen können und Ihr uns Antworten gebt und Euren Plan erklärt. Der einzige Grund, warum wir heute Nacht hier zusammengekommen sind, ist der, dass Ihr uns nicht sehen wolltet!“

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, Taure!“ Garrosh spuckte die Worte förmlich aus. „Oder dir, Troll“, fügte er mit einem Blick zu Vol’jin hinzu. „Ihr habt mir nichts zu befehlen. Ihr seid keine Puppenspieler, nach deren Takt ich tanze. Ihr dient als das Schwert der Horde. Und ich schwinge dieses Schwert. Ich weiß Dinge, von denen ihr keine Ahnung habt, und ich sage euch, ihr werdet hier warten. Ihr werdet so lange warten, bis ich sage, dass die Zeit gekommen ist weiterzumarschieren.“

„Thrall hätte uns eine Audienz gewährt“, erklärte Hamuul wütend. „Er hatte kein Problem damit, einen guten Ratschlag anzunehmen. Und er hat seine Pläne und Wege nicht vor uns geheim gehalten, wenn es nicht nötig war. Er war zwar der Anführer der Horde, aber er wusste, dass es die Horde als Ganzes war, die zählte.“

Garrosh trat auf den älteren Tauren zu, dann deutete er auf seine braune Haut und seine schwarzen Tätowierungen. „Sieht das etwa wie die grüne Haut von Thrall aus?“

„Nein, Kriegshäuptling“, antwortete Hamuul. „Niemand würde Euch je mit Thrall verwechseln.“

Es klang beinahe respektvoll, aber Baine sah, wie sich Malkoroks Augen bei diesem Kommentar zu Schlitzen verengten. Garrosh hingegen schien besänftigt.

„Der unerklärliche Respekt, den einige von euch für diesen friedenshungrigen Schamanen empfinden, übersteigt mein Verständnis“, sagte er, wobei er in dem Kreis herumging und von einem Gesicht zum nächsten blickte. „Ihr würdet gut daran tun, euch ins Gedächtnis zu rufen, dass wir überhaupt nur wegen Thrall in dieser Lage sind! Es war Thrall, nicht Garrosh, der zugelassen hat, dass sich die Allianz näher und näher an unsere Grenzen heranschob. Thrall, der an geheimen Treffen mit der Menschenmagierin Jaina Prachtmeer teilnahm und wie ein Schoßhund um ihre Beine gestrichen ist. Thrall, dessen Fehler ich jetzt korrigieren muss!“

Blutklinge setzte zu einer Entgegnung an. „Aber, Kriegshäuptling …“

Garrosh wirbelte zu der Blutelfin herum und schlug ihr mitten ins Gesicht. Ein wütendes Raunen ging durch die Runde, und einige der Versammelten taten einen Schritt nach vorn. Einen Moment später hielt Garrosh Blutschrei in den Händen, während die Kor’kron ringsum ihre Schwerter und Streitkolben zückten.

„Sei froh, dass dein Kriegshäuptling so gnädig ist“, knurrte Garrosh. „Du darfst am Leben bleiben, um mir zu dienen, Blutelfin!“

Blutklinge nickte langsam. Es war offensichtlich, wie sehr diese Geste sie schmerzte.

„Ja“, fuhr Garrosh fort, und seine Aufmerksamkeit richtete sich auf Baine und Vol’jin. „Euer Kriegshäuptling ist in der Tat gnädig. Auf deine eigene Taurenart hast du recht, Baine. Deine Sorge gilt der Horde. Als dein Anführer weiß ich das zu schätzen, auch wenn du deine Sorge auf eine Weise zeigst, die ein weniger verständnisvoller Häuptling als Verrat betrachten würde. Ich brauche dich – euch alle brauche ich. Wir werden zusammenarbeiten, zum Wohl der Horde. Und wenn die Zeit gekommen ist, dann, glaubt mir, werdet ihr mehr als genug Gelegenheit haben, den Allianz-Abschaum niederzumetzeln. Jetzt hingegen ist es Zeit, in eure Zelte zurückzukehren … und auf die Befehle eures Kriegshäuptlings zu warten.“

Baine, Vol’jin und die anderen verbeugten sich, als Garrosh an ihnen vorbeiging. Die Kor’kron folgten ihm wie Schatten.

Ein erleichtertes Seufzen drang über Baines Lippen. Offenbar hatte Garrosh – und wichtiger noch, Malkorok – nicht von Perith Sturmhufs geheimer Mission erfahren, andernfalls würde er jetzt nicht mehr atmen. Baine wurde klar, dass Garrosh in gewisser Weise ebenso auf seinen guten Willen angewiesen war wie er auf den des Kriegshäuptlings. Garrosh wusste augenscheinlich, dass ihm viele Mitglieder der Horde nicht willentlich folgten, und Baine war für seine gemäßigte Einstellung bekannt. Ein großer Teil der Horde vertraute seinem Urteil. Wohin er ging, dorthin gingen auch sie. Einen Moment lang blieb der Taure noch reglos stehen und dachte über diese Erkenntnis nach, dann zog er sich in sein Zelt zurück. Nach den Ereignissen der heutigen Nacht wollte er erst einmal seinen Geist mit dem Rauch der Weisen reinigen, denn wie jedes Mal, wenn er Garrosh Höllschreis Anweisungen klein beigeben musste, fühlte er sich schmutzig.


„Ihr hättet mir erlauben sollen, ein paar von ihnen zu töten“, grummelte Malkorok. „Oder zumindest, sie auf andere Weise zu bestrafen.“

„Das sind alles gute Kämpfer, und wir werden sie noch brauchen“, entgegnete Garrosh. „Jetzt haben sie Angst. Das wird genügen. Fürs Erste zumindest.“

Ein jüngerer Orc rannte auf Malkorok zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Krieger des Schwarzfelsklans lächelte.

„Ich habe gute Neuigkeiten für meinen Kriegshäuptling“, sagte er. „Genau das Richtige nach einer so unangenehmen Konfrontation. Phase zwei unseres Planes ist soeben angelaufen.“


Hauptmann Gharga kniff ein Auge gegen das helle Sonnenlicht zusammen und spähte mit dem anderen durch sein Fernrohr. Die Wellen waren ihnen hold – sie kamen rasch voran. Was er sah, ließ ihn die Lippen hinter seinen Hauern zu einem Grinsen zurückziehen, und nachdem er das Fernrohr wieder gesenkt hatte, drehte er den Kopf, um sich zu vergewissern, dass die anderen Schiffe in der Flotte des Kriegshäuptlings noch immer dicht hinter ihnen waren.

Die Blut und Donner und die anderen Kriegsschiffe näherten sich ihrem Ziel, allesamt mit Kanonen und Orcs beladen, die es kaum noch erwarten konnten, sich in die bevorstehende Schlacht zu stürzen.

Anfangs hatte es Gharga als Beleidigung empfunden, dass die Flotte der Orcs im Allgemeinen und die Blut und Donner im Besonderen von der letzten Schlacht ausgeschlossen worden war – der Vernichtung der Feste Nordwacht, wie sie inzwischen überall genannt wurde. Doch seine Laune hatte sich rasch gebessert, als Garrosh ihm erklärt hatte, dass er Goblins, Verlassenen und Blutelfen bei der Nordwacht nur deshalb den Vortritt ließ, weil er die Kräfte seiner Orcs für eine andere, noch viel glorreichere Schlacht schonen wollte. „Du, Kapitän Gharga, wirst die Flotte gegen Theramore führen!“, hatte der Kriegshäuptling gesagt.

Ghargas breite Brust war bei diesen Worten vor Stolz angeschwollen. Es war nicht das erste Mal, dass Garrosh der Blut und Donner seine Gunst zeigte. Der Orc erinnerte sich noch gut daran, wie er, damals als erster Maat, dabei geholfen hatte, mehrere Magnatauren von Nordrend nach Süden zu bringen, damit sie gegen die Allianz eingesetzt werden konnten. Bei einem schrecklichen Sturm während der Überfahrt waren zwei der Magnatauren verloren gegangen, und Briln, der Kapitän, hatte die volle Verantwortung übernommen, obwohl er wusste, dass er für diesen Rückschlag wahrscheinlich hingerichtet werden würde. Doch Garrosh hatte den Kapitän nicht bestraft, sondern ihn vielmehr befördert – eine Geste, die Gharga den Posten des Kapitäns einbringen sollte.

Die Blut und Donner war vom Glück geküsst, so schien es. Jeder wollte auf diesem Schiff Dienst tun, sodass Gharga frei wählen konnte, welche Seeratten er in seine Mannschaft aufnahm. Darin sah er ein gutes Vorzeichen für die Schlacht.

Während sich die Schiffe der Blutelfen, Goblins und Verlassenen in Ratschet versammelt hatten, waren die Orcschiffe in Richtung Theramore aufgebrochen. In den Gewässern der Horde, sicher und vor dem Auge des Feindes verborgen, hatten sie auf weitere Instruktionen gewartet … und gewartet … und gewartet – bis schließlich der Falke auftauchte, an dessen Bein die Nachricht befestigt war:

Begebt euch in Position, aber achtet darauf, dass ihr nicht in das Gebiet der Allianz eindringt! Wir wollen die Beute nicht zu früh aufscheuchen. Wartet auf meinen Befehl!

Nun waren sie endlich nahe genug, dass Gharga durch sein Fernrohr die Türme von Theramore sehen konnte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie sich streng genommen noch immer in den Gewässern der Horde befanden, befahl er brüllend, den Anker auszuwerfen.

Zwei Besatzungsmitglieder hievten den riesigen Eisenhaken mit viel Geächze ins Wasser, wo er mit einem lauten Platschen auf den Grund des Ozeans hinabsank.

Gharga fiel dabei auf, dass sein erster Maat gleichermaßen betrübt und mürrisch dreinschaute, und er verpasste dem jüngeren Orc einen sanften Klaps auf den Hinterkopf. „Hör auf, so eine Miene zu ziehen. Da wird ja der Rum schlecht“, sagte er.

Der Maat zuckte hoch und stand stramm, den Arm zum Salut erhoben. „Verzeiht, Kapitän, Sir! Ich war nur …“

„Nur was?“

„Sir! Ich habe mich gefragt, warum wir überhaupt losgesegelt sind, wenn wir nicht angreifen.“

„Eine verständliche Frage, aber auch eine törichte“, entgegnete Gharga. „Wir sind jetzt nahe genug, um sofort reagieren zu können, wenn wir den Befehl erhalten, gleichzeitig sind wir aber nicht im Hoheitsgebiet der Allianz. Sie werden uns natürlich entdecken, aber ihnen wird nichts anderes bleiben, als sich händeringend den Kopf zu zerbrechen, denn solange wir ihre Grenzen nicht überschreiten, dürfen sie nichts gegen uns unternehmen. Selbst hier, so weit von der Küste entfernt, werden wir die Herzen der Allianz-Hunde mit Furcht erfüllen. Unsere Aufgabe ist es, diese Position bis auf Weiteres zu halten, Lokhar. Garrosh weiß mehr als wir. Also werden wir hierbleiben, bis er uns mitteilt, dass der richtige Zeitpunkt für den Angriff gekommen ist. Mach dir keine Sorgen“, fügte er dann noch mit etwas nachsichtigerer Stimme hinzu. „Das Blut der Allianz wird gewiss früh genug fließen, und du wirst einer von denen sein, die es vergießen. So wie wir alle!“

Lokhar lächelte, und die Mannschaft der Blut und Donner jubelte.


Jaina hatte gehofft, dass sich der Dockmeister nur geirrt hatte. Sie hatte sogar darum gebetet. Doch als sie nun selbst im obersten Raum des Turmes stand und durch das Fernrohr blickte, zerbrach diese Hoffnung.

„Es sind so viele“, murmelte sie.

Anschließend spähten auch Kalec, Kinndy, die Leidende und Tervosh der Reihe nach durch das Fernrohr. Ihre Mienen verhärteten sich.

„Sieht so aus, als träfen die Nachrichten zu“, meinte Tervosh.

„Und Ihr sagtet, Varians Flotte wird in frühestens einem, vermutlich aber erst in zwei Tagen hier eintreffen“, murmelte Kinndy düster. „Ich habe wenigstens acht Kriegsschiffe gezählt. Falls sie sich entschließen anzugreifen, bevor die Siebte Theramore erreicht, können wir uns schon mal an den Geschmack von Kaktusäpfeln gewöhnen. Das bekommen Gefangene doch vorgesetzt, oder?“

Jaina legte dem Gnomenmädchen eine Hand auf die Schulter. „Ich bin mir nicht sicher, ob Garrosh überhaupt Gefangene nimmt, Kinndy.“

„Mylady“, warf die Leidende ein. „Lasst uns jetzt zuschlagen! Sicherlich wird Garrosh nicht nur ein paar Schiffe schicken. Denkt an die Armee, die an der Nordwacht versammelt ist und dort wartet! Wir werden natürlich Verluste hinnehmen, aber zumindest …“

„Nein“, sagte Jaina entschlossen. „Sie befinden sich nicht in Allianz-Gewässern. Ich werde Theramore zwar verteidigen, aber nicht den ersten Schlag ausführen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten.“

„Und zu hoffen“, schob Tervosh murmelnd nach.

Kalecgos hatte sich während der Unterhaltung zurückgehalten, ohne Zweifel, weil er neutral bleiben wollte. Nun öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, aber da plapperte Kinndy dazwischen.

„Lady … ich bin der Meinung, Ihr solltet nach Dalaran gehen.“

Jaina runzelte die Stirn. „Aber – warum sollte ich das tun?“

„Ihr habt dort Freunde … … und Bewunderer.“

„Dem mag so sein, aber die Kirin Tor bestehen sowohl aus Magiern der Allianz als auch der Horde. Sie können sich nicht auf unsere Seite stellen; sie dürfen ihre Neutralität nicht gefährden.“

„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht“, beharrte Kinndy. „Ich meine – sie können doch auch nicht wollen, dass es hier zu einem solchen Blutbad kommt, wie Garrosh es plant. Und wir wissen, dass es sogar in der Horde selbst Leute gibt, die bereit waren, alles zu riskieren, nur um uns zu warnen. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen.“

„Da hat sie recht“, bestätigte Kalec, beeindruckt von ihrer Argumentation. „Hier geht es um das größere Wohl.“

Jaina sah Tervosh an. „Ich stimme Kinndy zu“, meinte er.

„Und er hat auch allen Grund dazu“, erklärte das Gnomenmädchen. Die Leidende nickte ebenfalls.

Jaina seufzte. „Nun gut, dann sehen wir mal, was Meister Rhonin zu sagen hat. Aber ich bitte euch – versprecht euch nicht zu viel davon. Leidende, rede mit den Soldaten! Wir sollten bereit sein, falls die Kapitäne dieser Schiffe früher als erwartet beschließen, dass der richtige Zeitpunkt für einen Angriff gekommen ist.“

Anschließend wandte sie sich Kalec zu. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln – und sie erwiderte es, auch wenn sie sich nicht wirklich ermutigt fühlte. Dann machte sie sich auf den Weg in den Salon.

Dort angekommen berührte sie die drei Bücher, und das Regal glitt zur Seite, um den Spiegel zu enthüllen. Nachdem sie die Beschwörung angestimmt und die Hände bewegt hatte, starrte Jaina noch einen Moment in ihre eigenen Augen, bevor ein blauer Wirbel die Reflexion des Spiegels trübte. Mehrere angespannte Herzschläge fragte sie sich, ob Rhonin vielleicht zu weit von seinem eigenen Spiegel entfernt war. Aber dann tauchte sein Gesicht auf, in viele verschiedene Blautöne getaucht. Seine kräftigen Züge wirkten müde, doch als er Jaina erkannte, hellten sie sich sichtlich auf.

„Lady“, begann er. „Bitte sagt mir, dass Ihr mich nur trefft, um mir mitzuteilen, dass Kalecgos die Fokussierende Iris inzwischen gefunden hat.“

„Leider nein. Aber wir haben zumindest herausgefunden, wie er sie wieder aufspüren kann. Es scheint allerdings, als bewegten die Diebe das Artefakt hin und her, um ihn von der Fährte abzubringen. Darum wartet er nun – falls sie die Iris einsetzen wollen, werden sie irgendwann an einem Ort bleiben müssen.“

Rhonin nickte und rieb sich die Augen. „Das setzt aber voraus, dass er die Diebe rechtzeitig erreicht, bevor sie das Artefakt benutzen können – wofür auch immer.“

„Dessen ist er sich bewusst“, versicherte sie ihm. „Doch es scheint keine andere Möglichkeit zu geben.“

„Selbst Drachen werden also müde“, meinte Rhonin. „Nun, wenn es nicht das ist, worüber Ihr mit mir sprechen wolltet, was dann?“

Andere fanden seine direkte, schnörkellose Art oft irritierend, ganz anders aber Jaina. Auf sie wirkte es vielmehr erfrischend. Er war nicht gerade ein typischer Anführer für die Kirin Tor, und vermutlich wusste das niemand besser als er selbst. Dass man ihn dennoch ausgewählt hatte, lag aber nicht zuletzt genau daran, dass er sich im Verlauf der Zeit eine andere Sichtweise angewöhnt hatte als viele der früheren Anführer. Davon abgesehen war er ein verteufelt guter Magier.

„Habt Ihr schon gehört, was an der Nordwacht geschehen ist?“, fragte sie.

„Nein“, sagte er. „Ist das nicht nur ein kleiner Außenposten?“

„Es ist – es war eine Garnison von mittlerer Größe, erbaut, um die Aktivitäten der Horde im südlichen Brachland im Auge zu behalten.“ Als sie die Vergangenheitsform benutzte, nahm Rhonins Gesicht einen alarmierten Ausdruck an. „Vor vier Tagen hat die Horde die Feste völlig zerstört. Es heißt, dass sie sich dabei elementarer Magie der finstersten Sorte bedient hat. Jemand, der in dieser Schlacht gekämpft hat, warnte mich, dass die Horde nun vorhabe, gegen Theramore zu marschieren.“

Rhonins Augen wurden schmal. „Und Ihr wollt den Namen dieser Quelle nicht nennen.“

„Das kann ich nicht“, erklärte sie. „Dass er überhaupt hierherkam, war ein Vertrauensbeweis, den ich nicht enttäuschen will.“

„Hmm“, machte Rhonin und zupfte einen Moment lang nachdenklich an seinem Bart. „Aber … Ihr sagtet doch, dies sei vor vier Tagen gewesen. Warum ist die Horde dann nicht sofort nach Süden gezogen, um Theramore dem Erdboden gleichzumachen?“

„Das wissen wir nicht“, sagte sie. „Aber wir wissen, dass eine ganze Flotte ihrer Kriegsschiffe direkt an den Grenzen der Horden-Gewässer Stellung bezogen hat.“

Darauf reagierte Rhonin nicht sofort, und als er schließlich sprach, wählte er seine Worte mit großem Bedacht. „Das ist äußerst besorgniserregend für die Allianz und natürlich auch für Theramore. Aber was hat das mit mir zu tun?“

„Garrosh hat nicht vor, sich mit der Eroberung von Theramore zu begnügen“, erklärte Jaina. „Das ist nur ein Sprungbrett für ihn, um den gesamten Kontinent zu erobern. Ihr kennt doch Garrosh: Er ist ein Hitzkopf.“

„Das bin ich auch“, entgegnete er.

Darauf ging Jaina nicht ein, stattdessen erklärte sie aber: „Das mögt Ihr vielleicht einmal gewesen sein, aber seit Ihr ein Ehemann und Vater und obendrein auch noch der Anführer der Kirin Tor seid, scheint Ihr viel vernünftiger geworden zu sein.“

Rhonin zuckte mit den Schultern und lächelte schwach. Er wusste, dass sie recht hatte.

„Tausende werden sterben“, fuhr Jaina fort, nun drängender. „Die Allianz wird von den Ufern Kalimdors vertrieben, und jene, die das Massaker überleben, werden zu Flüchtlingen. Dank dem Kataklysmus gibt es bereits jetzt schon zu viele, die nichts zu essen und kein Dach über dem Kopf haben. Die Östlichen Königreiche können nicht die Bevölkerung eines halben Kontinents versorgen!“

„Ich frage Euch noch einmal, Jaina Prachtmeer“, sagte Rhonin leise. „Was hat das mit mir zu tun?“

„Die Kirin Tor ergreifen nicht Partei; das weiß ich“, begann Jaina. „Aber selbst Kalecgos war der Auffassung, dass Ihr uns vielleicht helfen würdet.“

„Wir sollen eine Stadt der Allianz vor einem Angriff durch die Horde schützen?“

Wortlos nickte sie, und einen langen Moment blickte Rhonin geistesabwesend zur Seite. Schließlich sagte er: „Ich kann eine solche Entscheidung nicht allein treffen. Ihr werdet noch andere außer mir überzeugen müssen. Aber versucht, das Gute daran zu sehen. Um diese Jahreszeit ist Dalaran ganz besonders schön.“

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