27

Die Reste der Allianzflotte segelten ungehindert in die Gewässer vor der Händlerküste. Es schien, als wäre Garrosh wirklich nicht auf den Angriff auf die Messerfaust-Küste vorbereitet gewesen, und die vier Schiffe, die die Flotte angegriffen hatten, waren von ihrem ungefährdeten Posten bei der Nordwacht vermutlich kurzfristig abgezogen worden. Ohne die Kraken unter ihrem Kommando hatte die Horde Varians Streitmacht aber nicht mehr viel entgegenzusetzen gehabt, so schwer beschädigt, wie ihre Schiffe gewesen waren.

Doch das bedeutete natürlich nicht, dass die Horde kampflos aufgeben würde. Inzwischen war genug Zeit gewesen, um die Truppen bei der Feste Nordwacht zu warnen, und als Varians Schiffe dort eintrafen, wurden sie auch schon mit donnernden Kanonen und Felsgeschossen aus Katapulten begrüßt.

„Erwidert das Feuer!“, befahl der König, und die Allianzschiffe vergolten den Feinden die Kanonade von der Küste mit einer vollen Breitseite.

Ein Blick nach oben zeigte Varian, dass sich Kalecgos ebenfalls der Nordwacht näherte, und als der Drache tiefer ging, konnte er auch Jaina sehen, die auf seinem breiten blauen Rücken saß. Da öffnete Kalecgos den gewaltigen Rachen und spie blauen Nebel aus. Einen Moment später ebbte das Kanonenfeuer von der Küste plötzlich ab.

Die Katapulte und Ballisten setzten ihren Beschuss jedoch vehement fort. Varian eilte an die Seite des Schiffes und blickte durch sein Fernrohr. Ein Lächeln verzog seine Lippen. Garrosh war zu überheblich gewesen, zu sehr davon überzeugt, dass die Blockade der Küstenstädte von Kalimdor den Widerstand der Allianz brechen würde. So hatte er nur sehr wenige seiner Krieger hier zurückgelassen, um diesen strategisch bedeutsamen Hafen zu bewachen.

Varian blinzelte, als er einige dieser Krieger sah, wie sie in kleine Boote kletterten und auf das Meer hinauspaddelten. Im ersten Moment glaubte er, sie versuchten zu fliehen, doch dann musste er erkennen, dass sie direkt auf das vorderste der Allianzschiffe zuhielten.

„Beim Licht“, murmelte er, „sie wollen uns entern!“

Es war Selbstmord, aber er konnte nicht anders, als den Mut dieser Trolle und Orcs und Tauren zu bewundern, während sie ihre Waffen über dem Kopf schwenkten und in der gutturalen Sprache der Orcs trotzige Flüche ausstießen. Ihre Bögen und Zauber zeigten sogar eine gewisse Wirkung – Varian sah, wie mehrere Allianzmatrosen mit Pfeilen im Hals auf dem Deck zusammenbrachen oder bei lebendigem Leib verbrannten. Ein brennender Bolzen durchschlug erst einen der Nachtelfen und dann die Segel des Schiffes, die daraufhin Feuer fingen. Doch da sauste schon wieder der gewaltige Schatten des Drachen über ihnen hinweg und löschte die Flammen mit seinem kalten Atem.

Im selben Augenblick formten sich ohne jede Vorwarnung Dutzende Wasserelementare, die sogleich auf die kleinen Boote einstürmten und sie umkippten, und dann packten sie die verzweifelt um sich schlagenden Hordesoldaten mit ihren gefesselten Armen und zogen sie voll Schadenfreude in ihr nasses Grab hinab. Einige andere Elementare rasten der Küste und den Verteidigern dort entgegen. Alarmierte Rufe wurden laut, und Varian sah, wie ein paar Orcs und Trolle die Flucht ergriffen. Doch die meisten hielten ihre Stellung und brüllten todesverachtend bis zu ihrem letzten Atemzug, als ihnen Pfeile, Kanonenfeuer und Zauber den Garaus machten.

Eine ganze Weile herrschte Stille, dann erschallte lauter Jubel vonseiten der Allianzschiffe. Varian grinste und gab seinen Leuten ein wenig Zeit, diesen zweiten Sieg zu genießen, bevor er die Stimme erhob. „An Land! Die Standarte der Allianz soll einmal mehr über der Feste Nordwacht wehen!“

Beiboote wurden zu Wasser gelassen, besetzt mit fröhlich rufenden Seemännern und -frauen. Varian runzelte die Stirn, dann hob er den Kopf. Kalec schwebte über ihm. Der König winkte mit beiden Armen, danach deutete er auf die Küste, und der Drache neigte verstehend den Kopf. Anschließend hastete Varian zur Reling und kletterte in eines der Beiboote, sehr zur Überraschung – aber auch Bewunderung – der Besatzung.

Als der König die Küste erreichte und leichtfüßig an Land sprang, war Kalecgos bereits gelandet und hatte seine zweibeinige Gestalt angenommen. Jaina stand neben ihm, und Varian ging zu den beiden hinüber und reichte erst ihr, dann ihm die Hand zum Gruß.

„Zweimal habt Ihr beide heute die Allianz gerettet“, sagte er. „Und nun haben wir einen verlorenen Stützpunkt in Kalimdor zurückgewonnen.“

„Es freut mich, dass ich Euch helfen konnte“, erwiderte Jaina. „Was nun?“

„Jetzt werden wir tun, womit Garrosh vermutlich schon gerechnet hat“, erklärte Varian mit einem schrägen Grinsen. Jaina blickte ihn verwirrt an. „Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht, dass ich mit der Flotte gegen die Blockade der Horde vorgehen will. Nach der empfindlichen Niederlage, die sie gerade eingesteckt haben – und dazu dem Verlust der Feste Nordwacht –, wird Garrosh seine Flotte noch enger um sich zusammenziehen. Was bedeutet, dass wir unsere Hafenstädte ohne weiteres Blutvergießen zurückerobern können.“ Er wurde wieder ernst. „Bislang wurde leider schon zu viel Allianzblut vergossen“, brummte er. „Diese Kraken hätten all unsere Schiffe versenkt, wärt Ihr nicht rechtzeitig gekommen. Und wäre nach der Nordwacht und Theramore auch noch unsere Flotte zerstört worden …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will gar nicht daran denken, was das für die Allianz bedeutet hätte.“

Jaina wirkte beklommen. „Varian, was einige der Dinge betrifft, die ich zu Euch und Anduin sagte …“, begann sie, doch er hob die Hand.

„Ich“, bemerkte er trocken, „bin vermutlich die letzte Person auf dieser Welt, die das Recht hat, andere zu verurteilen, weil sie aus Zorn oder Rachsucht gehandelt haben. Und Anduin hat für Euch gebetet. Ich freue mich schon darauf, ihm mitteilen zu können, dass seine Gebete erhört wurden.“

„Danke“, sagte Jaina aufrichtig.

„Und Ihr? Was habt Ihr nun vor?“, wollte Varian wissen, während er die beiden abwechselnd anblickte. Kalec drehte sich fragend zu Jaina herum.

„Theramore“, flüsterte sie.

Varian nickte. „Sobald wir hier fertig sind, werde ich ein Schiff nach Theramore schicken. Um … das Nötige zu veranlassen.“

Jaina nickte nur. „Dafür wäre ich Euch dankbar. Es gibt viel zu tun.“ Sie wandte sich an Kalecgos. „Gehen wir.“


Garrosh trieb gerade seinen hechelnden Wolf an, um die Feste noch rechtzeitig zu erreichen, da sah er die Standarte der Allianz im Wind über der Nordwacht flattern. Vor Zorn schäumend brachte er sein Reittier zum Stehen, dann riss er den Kopf zurück und brüllte seine Wut hinaus. Malkorok, Baine und Vol’jin, die ihn begleiteten, versuchten gar nicht erst, ihn zu beruhigen, und sie taten gut daran.

Wie konnte das nur passieren?“, grollte der Kriegshäuptling, und seine goldbraunen Augen huschten über die Gesichter der anderen. „Wir hatten doch alle Trümpfe in der Hand! Ich habe Theramore zerstört, um ihren Willen zu brechen. Ich habe ihre Leute hinter einer Blockade gefangen. Ich habe ihnen Elementarwesen und selbst die Monster aus den Tiefen des Meeres entgegengeworfen. Und dennoch haben sie uns besiegt!“

Einer von Baines Fernläufern kam in raschem Tempo näher, bevor er seine Schritte verlangsamte. Dabei schien er alles andere als glücklich zu sein: der sprichwörtliche Überbringer schlechter Nachrichten. Baine bedeutete ihm mit einem Nicken, näher zu kommen, und der betreten dreinblickende Bote ging – sicherheitshalber ein paar Meter von Garrosh entfernt – auf die Knie.

„Kriegshäuptling, ich bringe Euch Neuigkeiten von der Nordwacht“, begann er.

„Ich sehe die Neuigkeiten von der Nordwacht selbst“, schnappte Garrosh und deutete auf die blau-weiße Standarte in der Ferne.

Der Taure sprach dennoch weiter. „Es gibt noch andere Neuigkeiten, von aufmerksamen Ohren vernommen.“ Garrosh gab sich sichtlich Mühe, seinen Zorn unter Kontrolle zu bringen, dann winkte er dem Boten ungeduldig zu, er möge fortfahren. „Varian plant, mit seiner Flotte loszusegeln, um die Blockade zu durchbrechen. Die Allianz hat noch immer genügend Schiffe, um eine Bedrohung für unsere besetzten Hafenstädte darzustellen. Mehrere Quellen stimmen darin überein, dass dies Varians Absicht ist.“

Garrosh sprang von seinem Terrorwolf, der darauf einen Schritt nach hinten machte, die Ohren flach an den Schädel gelegt. Dann packte der Orc den Fernläufer am Arm. „Welche Quellen sind das?“, fragte er.

„Garrosh“, warf Baine ein, seine Stimme gleich einer grollenden Warnung. „Lasst meinen Fernläufer los! Er wird Euch besser Bericht erstatten können, wenn er nicht fürchten muss, getötet zu werden, allein aus dem Grund, dass er Euch die Wahrheit überbringt.“

Der Blick, den Garrosh dem Tauren daraufhin zuwarf, hätte jede Rüstung durchbohrt. Aber dann erkannte der Kriegshäuptling, dass Baine recht hatte, und nahm seine Hand vom Arm des Boten. „Also, welche Quellen sind es?“, wiederholte er.

„Druiden, die von der Messerfaust-Küste herbeigeflogen sind, melden, dass die Flotte der Allianz Vorbereitungen trifft, um unsere Blockade anzugreifen.“

Einen Moment lang empfand Baine beinahe Mitleid mit Garrosh, denn es war deutlich sichtbar, wie sich sein Zorn in Pein verwandelte, und kurz sackte der Kriegshäuptling der Horde in sich zusammen, als wäre sämtliche Lebensenergie und Leidenschaft ganz plötzlich aus seinem Körper gewichen. Schließlich brummte er, an Malkorok gewandt: „Befiehl einen vollständigen Rückzug! In der gegenwärtigen Lage können wir einen Krieg an mehreren Fronten nicht riskieren.“

Malkorok bemühte sich um einen nüchternen Gesichtsausdruck, als er antwortete. „Wie mein Kriegshäuptling befiehlt.“ Anschließend rammte er seinem Terrorwolf die Fersen in die Flanken und eilte zu einigen anderen Kor’kron hinüber, um die Order an sie weiterzuleiten. Mehrere Orcs blickten über die Schulter zu Garrosh hinüber, als sie die Neuigkeiten hörten.

„Ich danke dir für deine Nachricht“, sagte Baine zu seinem Fernläufer. „Geh jetzt und stärke dich, und lass deine Wunden verbinden!“ Der andere Taure verbeugte sich erleichtert und stapfte davon, um zu tun, wie ihm geheißen. Nun wandte sich Baine an Garrosh. „Ihr habt meine Bewunderung, Kriegshäuptling.“

Der Orc blickte ihn mit schräg gelegtem Kopf an. „Warum dies?“

„Weil Ihr erkannt habt, dass es sinnlos ist, diesen Pfad weiterzuverfolgen. Der Krieg war von Anfang an eine schlechte Idee, und es freut mich zu sehen, dass Ihr ihm abgeschworen habt und …“

„Ich habe überhaupt nichts ‚abgeschworen‘, Taure, und ich rate dir, deine Zunge zu hüten“, knurrte Garrosh drohend. „Für jemanden mit so langen Ohren verstehst du viel zu oft falsch, was du hörst. Ich habe keineswegs vor, diesen Krieg zu beenden. Nein, ich werde ihn sogar ausweiten. Dieser Rückzug ist eine Neuformierung meiner Truppen, ein strategischer Neuanfang – aber keinesfalls eine Kapitulation vor der Macht der Allianz!“

Baine versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen, und neben ihm bemühte sich Vol’jin ebenfalls um eine ausdruckslose Miene.

„Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln“, erklärte Garrosh, und während er sprach, wandte er sich von Baine ab und stolzierte auf und ab, die Hände abwechselnd gespreizt und zu Fäusten geballt. Malkorok beendete seine Unterhaltung mit den Kor’kron, und nachdem er zu ihnen zurückgekehrt war, nahm er Haltung an und lauschte aufmerksam Garroshs Worten. „Mehr Schiffe. Mehr Waffen. Mehr Elementarwesen und Bestien und Dämonen, die unseren Befehlen gehorchen. Wir müssen einfach mehr Soldaten einziehen. Männer, Frauen, Kinder – sie können doch alle ihren Beitrag zum Ruhm der Horde leisten.“

Seine Laune verbesserte sich wieder, als seine Augen in die Ferne abschweiften und sich von der bitteren Niederlage der Gegenwart in die Zukunft richteten. „Ich habe meine Ziele zu kurz gesteckt – das war das Problem. Von jetzt an wird es nicht länger um die Eroberung von Kalimdor gehen. Nun ist das Ziel, die gesamte Allianz zu zermalmen! Diesen Abschaum vom Angesicht Azeroths zu tilgen! Wir werden Sturmwind bis auf die Grundmauern niederbrennen, und Wrynn soll in den Flammen verrecken! Dieser Krieg dreht sich nicht länger um die Kontrolle über einen Kontinent, sondern um die Eroberung der ganzen Welt. Wir können es schaffen – wir sind die Horde! Doch der Sieg wird nur dann unser sein, wenn unsere Pläne mit Bedacht geschmiedet sind, unser Wille eisern und unser Herz von Stärke und Hingabe erfüllt ist!“

„Garrosh Höllschrei“, erklärte Baine mit ruhiger Stimme. „Ich reite jetzt mit meinen Kriegern nach Mulgore. Ihre Zahl ist deutlich geschrumpft, seitdem ich mit ihnen von dort aufbrach, um dem Ruf meines Kriegshäuptlings zu folgen. Meine Loyalität der Horde gegenüber ist tief und aufrichtig, und das wird niemand infrage stellen. Doch lasst mich Euch dies eine sagen: Ich kämpfe für die wahre Horde, nicht für einen Anführer, der sich unnötiger und schändlicher Methoden bedient, um seine Schlachten zu schlagen. Es darf niemals ein zweites Theramore geben – nicht, wenn Ihr die Unterstützung von Baine Bluthuf wollt!“

Garrosh starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an, und dabei schmunzelte er auf eine Weise, die Baine nicht einordnen konnte. „Deine Worte wurden zur Kenntnis genommen“, sagte der Orc.

Während er die Zügel seines Kodo in die Hand nahm, warf Baine Vol’jin noch einen Blick zu. Der Troll musterte ihn traurig und schüttelte unmerklich den Kopf. Baine nickte kurz. Er verstand Vol’jins Beweggründe nur zu gut, waren es doch dieselben, die auch seine eigene Entscheidung diktierten – der Troll musste sein Volk vor dem Zorn eines erbosten Garrosh schützen.

Also würde es einen Weltkrieg geben.

Baine ritt nach Westen, nach Hause, der Idylle der rollenden Hügel in seinem geliebten Mulgore entgegen, und während der gesamten Reise fragte er sich, ob Garrosh nun machttrunken war … oder einfach nur wahnsinnig?


Wie viel Zeit, fragte sich Jaina, war wohl seit ihrem eigenen, persönlichen Kataklysmus vergangen. Sie hatte die Tage nicht gezählt, aber sicher waren es nicht viele gewesen; von zwei Wochen auszugehen, wäre vermutlich schon zu großzügig. Weniger als zwei Wochen also, seit sie sich darüber geärgert hatte, dass Thrall Garrosh nicht vom Thron entheben wollte, seit sie mit Kinndy köstliche Plätzchen gegessen hatte, seit ihre größte Sorge der Gedanke gewesen war, dass ihr Lehrling ihre Bücher mit Glasur verschmiert hatte.

Wie ein Schwert in der Esse war sie abgehärtet worden, gnadenlos und höchst wirksam – aus dem Feuer der Verzweiflung war sie in die Kälte von Hass und Rachegedanken getaucht worden und dann wieder zurück in die Flammen. Dabei war sie neu geformt, neu geschmiedet worden – um nun wie Stahl zu sein. Jetzt konnte sie so viel mehr ertragen. Sie würde nicht nachgeben, würde nicht zerbrechen, weder an der Trauer noch an dem Schmerz oder Zorn. Von nun an nicht mehr.

Diesmal erreichte sie Theramore nicht durch ein Portal und auch nicht allein, sondern auf dem breiten Rücken eines großen blauen Drachen. Kalecgos landete vor den Stadttoren, auf dem Strand, wo sie einst Hand in Hand einen Spaziergang gemacht und sich unterhalten hatten. Dann krümmte er sich zusammen, damit sie leichter auf den Boden hinabrutschen konnte.

Nachdem er wieder seine Halbelfengestalt angenommen hatte, trat er neben sie. „Jaina“, sagte er, „es ist noch nicht zu spät, deine Meinung zu ändern.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist schon in Ordnung, Kalec. Ich … ich muss es mir ansehen. Mit eigenen Augen. Jetzt, da sie klarer sind.“

Ihre Augen waren in der Tat klarer geworden, sowohl im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinne. Die arkane Energie, die sie vergiftet hatte, war aus ihrem Körper gewichen, und auch wenn ihr Haar weiterhin weiß war, mit einer einzelnen blonden Strähne – diese Veränderung ließ sich nicht mehr rückgängig machen –, war doch das unheimliche weiße Glühen aus ihren Augen gewichen. Die arkane Restenergie, die Theramore eingehüllt hatte, war ebenfalls verschwunden. Nun war es für Jaina sicher geworden, in die zerstörte Stadt zurückzukehren. Zumindest für ihren Körper gab es hier keine Gefahr mehr.

Sie schritten den niedrigen Hügel zur Straße hinauf. Dort lagen keine Toten mehr. Offenbar hatten die Soldaten vor dem Abwurf der Bombe noch Zeit gehabt, die Leichen von Wymor und den anderen, die die Stadt am Meer so heldenhaft verteidigt hatten, hinter die Mauern zu bringen, wenngleich sie natürlich keine Gelegenheit mehr bekommen hatten, die Gefallenen zu begraben. Die Horde, so schien es, hatte ihre Toten ebenfalls fortgeschleppt. Der Himmel war zwar nicht länger von arkanem Glühen erfüllt, aber noch immer zerrissen. Hier und da gewährten sich windende Bögen von Energie den Blick in andere Welten, selbst jetzt noch, bei Tageslicht. Jaina starrte erst zu dem verwundeten Himmel hoch, dann auf das offene Stadttor. Sie musste schlucken.

Warme Finger schlossen sich um die ihren. Kalecs Berührung war zögerlich; er würde seine Hand sofort zurückziehen, falls sie das wollte. Doch sie wollte es nicht, und so gingen sie gemeinsam mit langsamen Schritten auf die Stadt der Toten zu.

Da sie schon einmal durch das verwüstete Theramore gewandelt war, wähnte sich Jaina zumindest bis zu einem gewissen Grad auf den Anblick vorbereitet. Doch obwohl ihr das Bild der Zerstörung nun vertraut war, war es doch noch immer von einer fürchterlichen Tragik. Ihr Herz brach entzwei, wieder und wieder und wieder, als sie die Gefallenen sah. Die Gebäude standen noch immer krumm und schief, durch das Arkane verformt und teilweise zum Einsturz gebracht. Doch zumindest der Boden schien allmählich zu heilen, denn die Erde, die sie unter den Sohlen ihrer Füße spürte, fühlte sich nicht mehr so schrecklich falsch an.

Jaina erschauderte, als sie einen kalten Lufthauch spürte, dann drehte sie sich fragend zu Kalecgos herum, der diesen Windstoß hervorgerufen hatte. Doch einen Moment später begriff sie – und eine Woge reuevoller Dankbarkeit durchströmte sie. Sowohl die Kälte als auch die Stärke des Windhauchs verhinderten, dass der Gestank der zahllosen Leichen sie überwältigte.

„W-wir können sie doch nicht einfach hier liegen lassen“, sagte Jaina, wohl wissend, dass ihre Stimme zitterte.

„Das werden wir auch nicht“, erwiderte Kalec rasch, in zuversichtlichem Tonfall. „Jetzt, da es sicher ist, können wir uns auf angemessene Weise von ihnen verabschieden.“ Er vermied ganz bewusst das Wort „Beerdigung“, denn von einigen Toten war gar nichts mehr übrig, was noch beerdigt werden konnte. Die Leichen, die bei ihrem ersten Besuch noch auf so widernatürliche Weise in der Luft geschwebt waren, hatten sich inzwischen der Schwerkraft ergeben und lagen auf dem Boden.

Die Gegenstände hingegen, die beim letzten Mal so willkürlich über die Trümmer verstreut gewesen und ihr deshalb ins Auge gestochen waren, waren nun größtenteils geplündert worden. Kurz spürte sie eine Woge des Zorns in sich hochkochen, doch dann erkaltete dieses Gefühl wieder. Sie hatten die Horde zurückgeschlagen, zumindest fürs Erste, und sie hatten Garrosh dabei eine vernichtende, sogar beschämende Niederlage beigebracht. Sie war nicht hier, um sich Hass und Zorn hinzugeben, sondern um eine Bestandsaufnahme zu machen und zu trauern.

Ihr Fuß rutschte aus, und sie verdrehte ihn sich ein wenig, als sie auf etwas trat, das teilweise im Boden begraben war, einen silbernen metallischen Gegenstand, auf dem sich nun das Sonnenlicht spiegelte. Jaina bückte sich, und als sie ihn aus dem Staub gezogen hatte, war sie verblüfft, und es überkam sie etwas, das schon beinahe Bewunderung nahekam. Als sie die ebenso wunderschöne wie uralte Waffe in die Höhe hob, fiel jeglicher Schmutz davon ab, als könnte etwas so Einfaches wie Erde sie gar nicht beflecken. Und einen Moment später sah sie wieder genauso neu aus wie an dem Tag, da man sie geschmiedet hatte. Voller Ehrfurcht hielt Jaina diese Waffe vor sich hin, doch sie glühte nicht in ihren Händen, wie sie es einst im Griff eines jungen Menschenprinzen und später auch in den Händen eines Taurenoberhäuptlings getan hatte.

„Der Furchtbrecher“, murmelte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann es nicht fassen.“

„Eine beeindruckende Waffe“, bemerkte Kalec, während er den Streitkolben betrachtete. „Sie wurde von Zwergen geschmiedet, falls mich meine Augen nicht trügen.“

„Richtig“, erwiderte Jaina. „Magni Bronzebart gab ihn Anduin, und er wiederum hat ihn an – Baine Bluthuf übergeben.“

Kalec zog eine blaue Augenbraue nach oben. „Eines Tages musst du mir erzählen, wie es dazu kam.“

„Eines Tages“, sagte sie mit einem Nicken. Es gab keinen Grund hinzuzufügen: aber nicht heute. „Wie merkwürdig, dass ich ausgerechnet diese Waffe finde.“

„Das ist überhaupt nicht merkwürdig“, entgegnete Kalec. „Dies ist augenscheinlich ein magischer Streitkolben. Er wollte, dass du ihn findest.“

„Damit ich ihn Anduin zurückgeben kann“, meinte sie, und einmal mehr verspürte sie Trauer wegen der Entwicklung, die die Dinge genommen hatten. Einst hatten sie alle drei, die sie mit dieser Waffe verbunden waren, große Hoffnungen gehabt. Doch diese Hoffnungen waren zerbrochen – wie ein Schiff, das vom Sturm gegen eine Klippe geschleudert wurde. Garrosh Höllschrei war dieser Sturm gewesen, und die Klippe das schreckliche Grauen der Manabombe. „Jetzt habe ich zumindest einen Vorwand, mit ihm zu sprechen. Um … mich bei ihm zu entschuldigen. Ich war so harsch, als wir uns das letzte Mal trafen. Ich bedaure inzwischen vieles von dem, was ich gesagt habe. Ich … bedaure überhaupt vieles.“ Sie befestigte den prächtigen Streitkolben an ihrem Gürtel und nickte dann Kalec zu, dass sie bereit sei weiterzugehen.

Hand in Hand schritten sie zwischen den Trümmern dahin, schweigend und respektvoll, und dann zog sich Jainas Herz plötzlich noch einmal zusammen. Dort lag die Leiche der Leidenden, an derselben Stelle, wo sie ihre Leibwächterin zuvor schon gefunden hatte, und daneben Aubrey und Marcus …

„Ihre Leichen“, murmelte sie. „Sie wirken so …“

„Unverändert“, beendete Kalec den Satz für sie. „Die arkane Energie ist von ihnen gewichen.“ Das war alles, was er sagte; jedes weitere Wort wäre auch überflüssig gewesen. Jaina erkannte, dass die Haare der Leidenden nicht wie Glasfasern zerbrechen würden, falls sie sie streichelte. Dieses Mal nicht.

Unversehens traf sie eine neue Woge der Trauer. „Oh, Kalec … hätte ich Kinndy nicht berührt …“

„Wir werden ihre Überreste einsammeln, Jaina, vorsichtig und voller Liebe“, erklärte der Drache, bevor sie sich in Selbstbeschuldigungen ergehen konnte. „Nach dem, was ich gehört habe, haben ihre Eltern ohnehin schon einen besseren Weg gefunden, ihr Gedenken zu ehren.“

Plötzlich brach Jaina in sich zusammen. Ein scharfer Laut der Trauer und Hilflosigkeit brach aus ihrer Brust hervor, und bevor sie es überhaupt registrierte, hatte Kalecgos sie schon in die Arme genommen. Er hielt sie in dieser Umarmung, warm und fest, und während sie ihre Wange gegen seine Schulter presste und schluchzte, wiegte er sie sanft, als wäre sie ein kleines Kind. Aus dem gequälten Schluchzen wurde ein leises Weinen, und während sie ihrer Trauer freien Lauf ließ, hörte sie zweierlei: erst nur Kalecs beständigen Herzschlag in ihrem Ohr und dann seine Stimme … die ein leises, sanftes Lied sang.

Sie verstand die Sprache nicht, in der er sang, aber das musste sie auch gar nicht. Es war ein Klagelied, süß und traurig, um der Gefallenen zu gedenken, ein Lied, das vermutlich schon vor Kalecs Geburt gesungen worden war, ja, wahrscheinlich sogar schon, bevor es überhaupt Aspekte gegeben hatte. Denn so sicher, wie ein neuer Tag aus der Nacht geboren wurde, starb er später im Abendgrauen. Nichts war älter als der Tod … außer dem Leben.

Kalecs Stimme war ebenso wunderschön wie der Rest von ihm, und das Lied fand seinen Weg in ihre Seele und schenkte ihr Frieden. Sie spürte, wie er ihr die Lippen auf das weiße Haar drückte, einen liebevollen, zärtlichen Kuss, eine Geste des Trostes, für die er im Gegenzug nichts erwartete. Dennoch spürte Jaina, wie ihr Herz sich regte, selbst hier noch, an diesem so tragisch veränderten Ort. Eine gefühlte Ewigkeit hatte es kalt und hart in ihrer Brust gelegen, wie ein düsterer Diamant. Doch nun erwachte es wieder. Wie ein Same im Frühling war es vom kalten Eis des Winters erlöst, frei, Licht und Wärme entgegenzustreben.

Sicher und sanft in Kalecs Armen gewiegt, musste sie plötzlich an die letzte Unterhaltung denken, die sie und Thrall als Freunde geführt hatten.

Musstest du denn … geheilt werden?

Wir alle müssen geheilt werden, ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht, hatte Thrall geantwortet. Selbst, wenn wir nie eine Wunde davontragen, hinterlässt das Leben doch Narben auf unserer Seele, allein dadurch, dass wir es leben. Ein Partner, der in dir das sieht, was du wirklich bist, wirklich und vollständig – ah, das ist ein Geschenk, Jaina PrachtmeerAuf welchem Pfad du auch unterwegs bist, wohin immer er dich führen mag – ich für meinen Teil habe herausgefunden, dass diese Reise viel angenehmer ist, wenn man einen Lebensgefährten an seiner Seite hat.

Kalec hatte ihr dabei geholfen, sich zu heilen … und zwar nicht nur in Bezug auf die Wunden des einfachen Lebens. Er hatte sie in ihren besten und in ihren schlimmsten Augenblicken gesehen, hatte ihr den Weg zu ihrem wahren Selbst gewiesen, als sie in einem Labyrinth aus Verzweiflung und Zorn verloren gewesen war. Könnte er ihr Lebensgefährte sein, ebenso wie Aggra Thralls Lebensgefährtin war? Es schien unmöglich, diese Frage zu beantworten. Zurzeit gab es nur eine Sache, derer Jaina sich sicher war: Nichts war gewiss. Die Winde der Veränderung wehten, wie immer es ihnen beliebte.

Doch vorläufig war sie zufrieden. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf, und er erwiderte ihren Blick, während er die eine Strähne goldenen Haares streichelte, die ihr noch geblieben war.

„Rhonin“, sagte sie.

Kalec nickte. Als sie voneinander abließen, spürte Jaina einen kalten Wind zwischen ihnen hindurchstreichen, doch ihre Hand lag noch immer warm zwischen seinen Fingern. Langsam und bedächtig gingen sie auf den Krater zu, und sie schauderte, als sie an die letzten Momente im Leben des Erzmagiers denken musste – wie er sie durch das Portal geschoben hatte, während der Turm in sich zusammengefallen war, wie er zu violetter Asche geworden war, die der Wind inzwischen längst aufgewirbelt und in alle Ecken von Azeroth verteilt hatte.

„Sein Opfer war nicht umsonst“, erklärte Kalec, wie um sie daran zu erinnern. „Wäre die Wirkung der Bombe nicht zumindest ein wenig durch die Magie des Turmes eingeschränkt worden, hätte sie noch viel mehr Verwüstung angerichtet.“

„Er wollte Vereesa retten“, sagte Jaina. „Er wollte, dass sie überlebt … dass seine Kinder eine Mutter haben, auch wenn sie dafür ihren Vater verlieren mussten …“ Einen Moment lang versagte ihr die Stimme, dann fuhr sie fort: „Er kam hierher … weil ich ihn darum gebeten hatte.“ Sie wandte sich zu Kalecgos um. „Noch vor Kurzem habe ich mit aller Macht versucht, auf ein harmonisches Miteinander hinzuarbeiten. Ich fühlte mich auf verlorenem Posten, weil ich das Gefühl hatte, niemand wolle einen Frieden.“

„Willst du denn noch einen Frieden?“, fragte er.

Sie dachte einen Moment lang darüber nach, den Kopf auf die Seite geneigt, die Stirn in Falten. „Es ist nicht so, als ob ich ihn nicht länger wollte. Ich will schon Frieden. Ich bin nicht mehr so, wie ich vorher war – ich brenne nicht mehr darauf, Rache zu nehmen. Aber … ich bin auch nicht mehr die Frau, die so verzweifelt auf Harmonie zwischen Horde und Allianz gehofft hat. Es … es kann keine Harmonie geben, Kalec. Nicht, solange Garrosh die Horde anführt, und nicht nach dem, was er getan hat. Ich glaube nicht mehr, dass der Frieden die Antwort ist. Und das bedeutet … ich weiß nicht mehr, wo ich hingehöre.“

Er kräuselte seine Augenbraue. „Oh, ich denke, das weißt du durchaus!“

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, aber dann erkannte sie, dass er recht hatte.

Sie wollte nach Hause. Nach Hause, also zu einem Ort, der einst eine Zufluchtsstätte voller Freude und Gewissheit gewesen war, bevor sie ihn widerstrebend verlassen hatte, um dem Ruf ihres Schicksals zu folgen. Ihr fiel wieder ein, was Kalec gesagt hatte: dass alles einen Rhythmus und ein Muster hatte. Vielleicht hatte sich der Kreis für sie nun ja geschlossen.

„Dalaran“, sagte sie. „Die Kirin Tor. Vor langer Zeit habe ich ihre Lehren gewissenhaft studiert. Es fühlt sich richtig an, jetzt dorthin zurückzukehren, mehr als je zuvor.“ Ihr Blick wanderte erneut über die Trümmer ringsum. „Rhonin hielt das ebenfalls für meine Bestimmung. Nicht zuletzt darum wollte er, dass ich überlebe. Er sagte mir, dass ich in seinen Augen die Zukunft der Kirin Tor wäre. Also sollte ich ihnen zumindest meine Dienste anbieten und ihnen die Chance geben, mich höflich abzuweisen.“

„Du bist erstaunlich mächtig geworden, ganz ohne ihre Hilfe“, erklärte Kalec. „Ich glaube, sie könnten sich glücklich schätzen, dich in ihren Reihen zu haben – und vermutlich wissen sie das auch selbst. Rhonin war gewiss nicht der einzige Magier, der so gedacht hat.“

„Und was ist mit dir, Kalec?“ Innerlich bereitete sie sich schon darauf vor, dass er sagte, er werde sie verlassen und wieder zum Nexus zurückkehren. Schließlich war er der Anführer des blauen Drachenschwarmes. Dort, wo er lebte, gab es keinen Platz für ein Mitglied der jüngeren Rassen.

„Nun … falls du nichts dagegen hast … würde ich dich gerne nach Dalaran begleiten.“ Sie konnte ihre Freude nicht verbergen, und als er dies bemerkte, lächelte auch er, seine Augen voll Wärme und Zuneigung. „Ich hoffe, das heißt, du hast keine Einwände.“

„Nein, ich … ich würde mich sogar sehr freuen. Aber was wird dann aus den blauen Drachen?“

Sein Lächeln verblasste. „Der Schwarm hat sich aufgelöst“, erklärte er. „Wir sind jetzt nicht mehr aneinander gebunden. Ich finde, dass wir nach allem, was die Welt unter unserer unglücklichen Führung erdulden musste, Wiedergutmachung leisten sollten, auch und gerade gegenüber den Kirin Tor.“ Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen. „Einmal haben sie bereits einen Drachen in ihre Reihen aufgenommen, auch wenn viele vielleicht nicht wussten, wer Krasus wirklich gewesen ist. Glaubst du, ich hätte eine Chance?“, fragte er, bevor er mit unsicherer Stimme anfügte: „Bei ihnen und … bei dir?“

Veränderung, dachte Jaina. Sie bringt den Schmerz, sie bringt die Freude, und sie ist unausweichlich. Wir sind unser eigener Phönix, der aus der Asche unseres alten Selbst aufsteigt, falls wir ihn nur lassen. Wir alle können wiedergeboren werden.

Sie trat einen Schritt nach vorn und streckte zur Antwort ihr Gesicht nach oben. Mit einer Zärtlichkeit, die sie nicht länger überraschte, und einer Innigkeit, die sie dafür umso mehr verblüffte, nahm Kalecgos vom blauen Drachenschwarm ihr Gesicht zwischen seine warmen Hände, und während seine Augen tief in die ihren blickten, beugte er sich vor und küsste Lady Jaina Prachtmeer … die Magierin.

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