Garrosh war sofort zur Messerfaust-Küste aufgebrochen, nachdem ihm der Troll seine Nachricht übermittelt hatte, und er war so schnell geritten, wie sein Terrorwolf ihn nur tragen konnte. So war er vor der Flotte der Allianz dort angekommen und hatte das Kommando über das Goblinschiff übernommen, das schon seit Urzeiten dort vor Anker zu liegen schien, sehr zur Überraschung, aber auch zur Freude des kleinen grünen Kapitäns. Mit Garrosh, Malkorok und vielen anderen an Bord brachen sie nun auf, dem Treffpunkt mit den anderen Schiffen entgegen, die von der Nordwacht herbeigesegelt waren.
Das Ganze verlief zwar nicht ganz unbeobachtet, aber glücklicherweise war die Allianz noch nicht in Feuerreichweite. „Schneller!“, befahl Garrosh, aber leider hatten sie keinen Schamanen an Bord, der die Ozeane zu ihren Gunsten beeinflussen konnte. Am liebsten wäre Garrosh sofort längsseits zu einem der Allianzschiffe gegangen und an Bord gesprungen, um endlich das Blut seiner Feinde zu vergießen. Aber das war natürlich nicht möglich. Noch nicht zumindest. Er brüllte verzweifelt auf, während die Allianz schnell und brutal das erste Schiff der Horde unter Beschuss nahm, und als es unterging, von Einschlagslöchern übersät und von Flammen eingehüllt, wurde sein Zorn nur noch größer.
Die Nachricht hatte Garrosh zunächst zwar überrascht, doch dann hatte er sich schnell wieder gefangen, denn auch wenn die Flotte der Horde noch immer um ganz Kalimdor herum verstreut war, ließ sich ihre Geheimwaffe doch überall einsetzen. Er wusste also: Auch wenn sie dem Feind zahlenmäßig deutlich unterlegen waren, würde der Sieg bald schon ihnen gehören.
Als das Goblinschiff tapfer auf die Allianzflotte zuhielt, wurden plötzlich mehrere feindliche Galeonen von Nebel eingehüllt. Garrosh lachte. „Geben wir ihnen ein wenig Zeit, Angst zu haben vor dem, was auf sie lauert“, rief er Malkorok zu. „Sie sollen den Schrecken fühlen, nicht zu wissen, was wir wissen – und dann werden wir ihnen unsere wahre Macht zeigen.“
„Ich wünschte, ich könnte auf Varians Schiff sein und selbst gegen ihn kämpfen“, grollte der Schwarzfelsorc. „Ich würde ihm keinen schnellen Tod gewähren und auch keinen ehrenhaften.“
„Er hat es verdient, seine Begleiter gerade so lange zu überleben, dass er noch ihre Verzweiflung miterleben kann, bevor auch er stirbt“, stimmte Garrosh zu. Einigen der Allianzschiffe war es gelungen, dem Nebel zu entgehen, ein paar andere waren schon zuvor außer Reichweite des Dunstes gewesen. Diese nahmen nun gnadenlos die drei übrigen Hordeschiffe unter Beschuss. Dennoch fühlte sich Garrosh ruhig, höchstens ein wenig erwartungsfroh, als der Goblinkapitän sie längsseits neben die Knochenbrecher brachte und der Orc und die anderen leichtfüßig auf das Deck des anderen Schiffes sprangen.
„Ruf sie!“ war alles, was er dem Kapitän sagte, und der Troll gab den Befehl mit lauter Stimme weiter. Kurz darauf wurde er von einem Schiff zum nächsten gebrüllt: „Ruft sie! Ruft sie!“ Die Schlacht ging indessen weiter, die Luft war vom Rauch der Kanonen geschwängert. Auf beinahe jedem Deck lagen blutende oder tote Hordekämpfer, aufgespießt von Holzsplittern, die so lang wie der Unterarm eines Menschen waren. Heiler eilten hin und her, um so viele Verwundete zu behandeln wie möglich, ohne dabei selbst zu einem Opfer der Schlacht zu werden.
Die Oberfläche des Ozeans, die bereits unter den Einschlägen von Kanonenkugeln, den schamanischen Verstärkungszaubern und den Trümmern der beschädigten Schiffe schäumte und brodelte, begann nun noch unruhiger zu werden. Weißer Schaum breitete sich zwischen den Wellen aus, und dann schoss explosionsartig etwas aus den Tiefen nach oben.
Die Besatzung des unglückseligen Allianzschiffes, das der Stelle am nächsten war, hatte gerade noch Zeit, die Kreatur voller Schrecken anzustarren, dann schlug sie auch schon zu. Gewaltige Tentakel schossen auf das mächtige Schiff zu und schlangen sich in der grausigen Parodie einer Umarmung um seinen Rumpf. Der Kraken – denn nichts anderes war es – begann seine Arme zu spannen und zuzudrücken, bis das Schiff zerbarst. Garrosh warf den Kopf in den Nacken und lachte.
Weitere Monster tauchten aus den kalten Tiefen des Meeres empor, wütend und hasserfüllt, weil man sie versklavt hatte, doch unfähig diesen Zorn gegen jene zu richten, die sie knechteten. So entlud sich ihr Hass stattdessen auf die Flotte der Allianz; die Kraken streckten ihre Tentakel aus und packten und schüttelten und zerbrachen die Schiffe. Manchmal schleuderten sie die Einzelteile anschließend auf andere Schiffe. Allianzsoldaten aller Rassen stürzten schreiend von den geborstenen Decks in die tosenden Wasser, wo die Meeresungeheuer sie gierig verschlangen.
„Komm, Malkorok!“, rief Garrosh. „Lass uns selbst ein paar Allianzleben beenden! Die Kraken sind mächtige Werkzeuge, aber ich möchte nicht, dass all meine Feinde zu Fischfutter werden!“
„Wie immer bin ich ganz Eurer Meinung, mein Kriegshäuptling“, sagte Malkorok. Vor ihnen befand sich ein gegnerisches Schiff, das von den Tentakeln der Kraken bislang verschont geblieben war. Es hatte gewendet, und anstatt mit seinen Kanonen auf der Steuerbordseite die verbliebenen Hordeschiffe unter Beschuss zu nehmen, feuerte es nun aus allen Rohren auf eines der Meeresungeheuer.
„Kapitän, bringt uns längsseits!“, bellte Garrosh. „Es dürstet mich nach Allianzblut!“
Der Troll kam diesem Befehl nur zu gerne nach, und nach einem letzten, beunruhigten Blick auf die blauschwarzen, glänzenden Viecher, die sich im schäumenden Wasser wanden, brachte er sie auf der Backbordseite neben die Wellenlöwe. Einige Besatzungsmitglieder des Allianzschiffes schrien eine Warnung heraus, doch die meisten Soldaten an Bord konzentrierten sich voll und ganz auf die Steuerbordseite und die Kanonen. Mit einer Leichtfüßigkeit, die ihre Größe und ihr muskelschweres Gewicht Lügen strafte, sprangen die beiden Orcs über den schmalen Spalt zwischen den Schiffen und stürzten sich in den Kampf.
Malkorok schwang seine Äxte, noch bevor er auf dem Deck der Wellenlöwe landete. Ein Draeneipriester, vertieft in einen Heilzauber, um die Schmerzen eines Matrosen zu lindern, ging unter dem Hieb zu Boden, ohne überhaupt zu wissen, was ihn getroffen hatte. Blutschrei sang derweil ein unheilvolles Lied von Tod und Blut und kündigte Garroshs Gegenwart an, während er einem Worgen den pelzigen Kopf von den Schultern trennte. Noch in derselben Bewegung wirbelte der Orc herum, da er spürte, dass jemand hinter ihm stand, und Blutschrei prallte gegen die überdimensionierte Axt eines hünenhaften Dämons. Das abscheuliche graue Gesicht der Teufelswache teilte sich zu einem gelbzähnigen Grinsen.
Garrosh lachte. „Mein Vater hat schon Dämonen erschlagen, die um ein Vielfaches größer waren als du“, schnaubte er.
Die Teufelswache erwiderte das Lachen, ein düsterer, bösartiger Laut. „Und ich habe schon die Söhne vieler Väter erschlagen“, grollte er zurück.
Wieder prallte Axt gegen Axt. Die Teufelswache war groß und stark, aber Garrosh wurde von familiärem Stolz angetrieben. Er dachte daran, wie sein Vater mit Mannoroth gekämpft hatte, einem der mächtigsten Grubenlords aller Zeiten, und er spürte das Gewicht der Hauer, die er in Erinnerung an jenen Kampf auf seinen braunen Schultern trug. Das Lachen des Dämons endete jäh, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als sich Blutschrei tief in seinen Unterleib bohrte. Ein zweiter Hieb folgte, dann ein dritter, und die Teufelswache landete in zwei Hälften auf dem Deck.
„Kriegshäuptling!“, rief da Malkorok, von dessen Klingen inzwischen das Blut tropfte. Nicht weniger als vier Leichen lagen zu seinen Füßen. „Hinter Euch!“
Garrosh drehte sich gerade noch rechtzeitig herum, um Blutschrei zwischen sich und den erstaunlich schnellen schwarzhaarigen Mann zu bringen, der sein gewaltiges Schwert bereits zum Schlag erhoben hatte. Der Orc kannte diese Klinge: Schalamayne. Varian stieß ein lautes, wütendes Geheul aus, das mehr nach dem Geisterwolf klang, der einst sein Namenspate gewesen war, als nach einem Menschen, und Garrosh grunzte, als das Schwert in seinen Arm schnitt und sein Blut kostete. Doch bevor die unvergleichliche Klinge tiefer schneiden konnte, parierte er den Hieb und stieß Blutschrei vor. Varian stolperte nach hinten, aber noch in Rückwärtsbewegung sauste Schalamayne ein zweites Mal herab.
„Die Vorfahren sind uns gewogen!“, rief Garrosh. „Ich wusste, du würdest heute sterben, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich der Glückliche wäre, der die Gelegenheit bekommt, dich auszuweiden!“
„Ich bin überrascht, dass du überhaupt den Mut hattest, auf mein Schiff zu kommen“, knurrte Varian. „Seit unserer letzten Begegnung hast du dich in einen Feigling verwandelt. Erst lässt du Magnatauren die Drecksarbeit für dich erledigen, dann Elementarwesen und jetzt Kraken. Was hast du getan, nachdem du die Manabombe auf Theramore abgeworfen hattest – bist du davongerannt und hast dich versteckt? Ich bin sicher, du warst weit vom Schlachtfeld entfernt!“
Blutschrei sang zur Antwort, als die Axt in einem tiefen Bogen vorsauste, um Varians Beine zu durchtrennen. Der Mensch sprang über die Klinge hinweg und wirbelte noch in der Luft herum, doch beinahe hätte er seinen Kopf verloren, als Garrosh seine Waffe auf dem Rückschwung nach oben riss.
„Und du bist langsamer als bei unserer letzten Begegnung“, zischte der Orc. „Du wirst alt, Varian. Vielleicht hättest du deinem weinerlichen Sohn den Thron überlassen sollen. Wenn die Kraken deine mächtigen Schiffe erst in Feuerholz verwandelt haben, werde ich nach Sturmwind marschieren, und dann werde ich mir deinen kleinen Jungen schnappen, ihn in Ketten schlagen lassen und an einer Leine durch die Straßen von Orgrimmar führen!“
Er hatte gehofft, den Menschen durch diese Worte so zu erzürnen, dass er vor Wut die Beherrschung verlor und wild vorstürmte, anstatt weiter besonnen zu kämpfen. Doch zu seiner Verwirrung grinste Varian nur, während er sich unter dem Axthieb hinwegduckte und seinen nächsten Schlag plante. „Anduin würde dich überraschen“, sagte er. „Selbst Friedliebende hassen Feiglinge.“
Plötzlich war Garrosh dieser spöttischen Beleidigungen überdrüssig. „Dreimal haben wir die Klingen gekreuzt“, schnaubte er, „und das ist dreimal zu viel. Du wirst heute sterben – und mit dir alle, die du liebst.“ Er schnellte vor und schwang Blutschrei, doch Varian wich tänzelnd vor ihm zurück. Garrosh setzte ihm nach. Jeder Gedanke an Finesse oder Taktik war nun vergessen. Die Welt schrumpfte zusammen, bis es nur noch diesen Menschen und seinen bevorstehenden Tod gab. Die Waffen der beiden prallten erneut gegeneinander, ebenso wie ihre Körper. Nur wenige Zentimeter trennten ihre Gesichter voneinander – da wurden sie unvermittelt in die Luft geschleudert.
Garrosh ruderte wild mit den Armen, und nur durch schiere Willenskraft gelang es ihm, Blutschrei festzuhalten. Er landete hart auf dem Deck, dann wurde aus der Waagerechten plötzlich eine Schräge, und er rutschte nach unten, während ein gewaltiges berstendes Geräusch in seinen Ohren widerhallte. Einen Moment später fiel er der blauen Oberfläche des Ozeans entgegen. Seine eigene Rüstung wurde nun zum Feind, und er sank wie ein Stein in die Tiefe, während ihn die Trümmer der Wellenlöwe auf dem Meeresboden festzunageln drohten.
Doch er hatte nicht vor, sich in diesen scheinbar so sicheren Tod zu fügen. Die Axt seines Vaters noch immer in der Hand, nutzte er die Schiffsteile, die an ihm vorbeisanken, zu seinem Vorteil und begann an den Trümmern nach oben zu klettern. Seine Lungen brannten, doch er kämpfte sich weiter, das Gesicht nach oben gewandt, dem Licht entgegen, bis er schließlich durch die Oberfläche stieß und heftig hustend die süße Luft einatmete.
Hände streckten sich ihm entgegen und zogen ihn aus dem Wasser, hin zu der Strickleiter, die man an der Seite eines der Hordeschiffe – er wusste nicht, welches es war – hinabgelassen hatte. Er kletterte nach oben und stolperte, Blutschrei fest umklammernd, auf das Deck.
„Kriegshäuptling!“ Es war Malkorok, der ebenfalls überlebt hatte. Die beiden schlossen ihre Hand um den Arm des anderen.
„V-varian“, keuchte Garrosh. „Was ist mit ihm geschehen?“
„Ich weiß es nicht“, gestand der Schwarzfelsorc. „Aber seht!“
Während er noch immer Salzwasser aushustete, drehte sich Garrosh um und folgte Malkoroks ausgestrecktem Finger mit den Augen. Der Anblick ließ seine Brust vor Stolz anschwellen.
Wohin er auch sah, trieben zerborstene oder brennende Allianzschiffe im Wasser, und die übrigen versuchten verzweifelt, die Kraken anzugreifen. Die Trümmer Dutzender Wracks tanzten auf den Wellen. Garrosh warf den Kopf zurück und brüllte truimphierend.
„Seht die Macht der Horde!“, schrie er. „Vier Schiffe gegen Dutzende! Und wir sind es, die den Sieg davontragen! Für die Horde! Für die Horde!“
Kalecgos hielt Jaina sanft in seiner rechten Vorderpfote, während sie die Fokussierende Iris dicht an ihren Körper presste. Sie flogen nach Norden, denn auch wenn Jaina nicht genau wusste, warum sie die Hauptstadt der Horde so unbedingt sehen wollte, schien Kalec doch ausreichend von der Aufrichtigkeit ihres Gesinnungswandels überzeugt, um kein einziges Wort des Protests von sich zu geben. Wollte sie sich davon überzeugen, dass es wirklich noch Unschuldige in Orgrimmar gab, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war? Oder hoffte sie, irgendwo Garrosh zu erspähen und ihn in tausend Stücke zu zerfetzen? Jaina konnte es selbst nicht sagen.
Die Wasserelementare, die noch immer an sie gebunden waren, eilten gehorsam unter ihnen dahin. Ohne Schwierigkeiten schienen sie mit dem raschen Tempo des Drachen mitzuhalten, der noch nicht verlangt hatte, dass Jaina sie wieder freiließ; und auch die Iris hatte er nicht zurückgefordert. Für dieses unausgesprochene, aber doch so offensichtliche und so unerschütterliche Vertrauen war sie Kalec dankbarer, als er auch nur ahnen konnte.
Sie eilten dahin, vorbei an den Echoinseln, und als sie auch die Schipperküste passierten, beschwor Jaina noch ein paar weitere, unkontrollierbar wütende Elementarwesen, die sich ihren wässrigen Artgenossen anschlossen. Die Wracks, die sie dort unter sich sah, waren zwar alt, dennoch erfüllte ihr Anblick die Lady von Theramore mit Sorge, und sie wünschte sich, zu wissen, wo Varian die Horde angreifen wollte.
Der Wunsch wurde ihr gewährt, als sie sich der Messerfaust-Küste näherten. Jaina keuchte, ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. Die Flotte! Sie hatte gedacht, die Allianz würde die Mondfederfeste oder die Dunkelküste angreifen, aber nein, hier war sie. Hier … und in größter Bedrängnis.
Ich hätte sie zerstört, schoss es ihr durch den Kopf. Hätte ich die Flutwelle losgeschickt … hätte ich nicht nur Orgrimmar vernichtet, sondern auch die gesamte Flotte der Allianz.
Bei diesem Gedanken überkam sie ein Gefühl der Übelkeit, aber sie spürte Thrall und Kalecgos gegenüber auch Dankbarkeit. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich schwach und machtlos zu fühlen. Sie musste handeln, denn Varians Flotte wurde nicht nur von ein paar Kriegsschiffen der Horde attackiert – es schien, als hätte Garrosh auch mehrere Kraken herbeigerufen, um sich seiner Feinde zu entledigen. Wie schon bei der Feste Nordwacht, wo er geschmolzene Riesen eingesetzt hatte, und in Theramore, wo er die Manabombe gezündet hatte, griff er wieder einmal auf Hilfsmittel zurück, und ob er dabei nun die Wesen der natürlichen Welt oder magische Objekte manipulierte, sein Verhalten war und blieb feige und respektlos.
„Flieg näher heran!“, rief sie Kalecgos zu, den sie auch jetzt noch duzte. Der Drache winkelte die Flügel an und stürzte dem Meer entgegen, und erst im letzten Moment breitete er die Schwingen wieder aus, sodass ihre Spitzen mit Salzwasser besprenkelt wurden, als sie sanft über die Wellen streiften. Jaina hielt die Fokussierende Iris fest in einer Hand, dann malte sie mit der anderen Muster in die Luft und flüsterte eine Beschwörungsformel.
Varian wischte sich die Mähne nassen Haares aus den Augen, die vom Salzwasser brannten, und während er sich an die Trümmer eines Schiffes klammerte – welches, konnte er nicht sagen –, versuchte er, die Lage einzuschätzen.
Inzwischen waren zahlreiche Schiffe der wütenden Umarmung der Kraken zum Opfer gefallen und untergegangen, und die Matrosen, die ins Wasser gestürzt waren, versuchten, zu einem der intakten Schiffe oder zur Küste hinüberzuschwimmen. Doch vor den Augen des hilflosen Königs wurden sie von glänzenden, schleimigen Tentakeln gepackt und in die hungrigen Mäuler der Meeresungeheuer gezerrt.
Er hatte keine Ahnung, was mit Telda geschehen war – oder mit der weißhaarigen Hexenmeisterin – oder mit überhaupt irgendeinem der tapferen Besatzungsmitglieder der Wellenlöwe. Doch dann musste er sich verbittert eingestehen, dass das nicht stimmte; er wusste, welches Schicksal zumindest einen Teil der Seemänner ereilt hatte, mehr noch, er hatte gesehen, wie viele von ihnen ihr grausiges Ende fanden. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass Garrosh und sein hünenhafter Schwarzfelsorc diesen guten Männern und Frauen in den Bäuchen der Kraken Gesellschaft leisteten.
Ein paar Schiffe waren noch unbeschädigt, und sie feuerten weiter auf die vielarmigen Monster. Doch, beim Licht, da waren so viele dieser verfluchten Bestien, und jede von ihnen richtete ein Unmaß an Zerstörung an. Schreie und das Knirschen berstenden Holzes erfüllten die Luft. Varian erkannte, dass ihn Panik und Verzweiflung zu überwältigen drohten, und eisern drängte er diese nutzlosen Störenfriede zurück. Sie konnten ihm nicht helfen; noch nicht einmal Zorn oder Hass würden ihn jetzt weiterbringen. Er sprang zu den Überresten eines weiteren Schiffes hinüber, den Blick nun fest auf die verbliebenen Galeonen seiner Flotte gerichtet. Im Augenblick musste er sich mehr vor fehlgeleiteten Kugeln aus seinen eigenen Kanonen in Acht nehmen als vor den Kraken; für die einen wäre er ein leichtes Ziel, für die anderen nur ein Krümel auf einer Festtafel. Tatsächlich kümmerten sich die gewaltigen Meeresungeheuer nicht weiter um ihn, und durch schiere Willenskraft schaffte er es, nahe an eines der Schiffe, die Lady des Meeres, heranzukommen. Nun bildete er mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und schrie.
Ein Worge, der über das Deck eilte, hörte den Ruf, und seine scharfen Augen huschten in Varians Richtung, anschließend eilte er zur Reling und winkte mit einem seiner muskelbepackten Wolfsarme. „Majestät! Wir schicken sofort jemanden, um …“
„Zieht euch zurück! Sofort!“, brüllte Varian. Falls sie blieben und weiter gegen die Kraken kämpften, würden von der einst so mächtigen Flotte nur noch eine Liste von Namen und trauernde Familien übrig bleiben. „Das ist ein Befehl! Zieht euch zurück, jeder von euch!“
„Wir können ein Ruderboot schicken, um Euch …“
„Nein! Ich werde zur Küste schwimmen, so wie die anderen auch“, rief der König. „Nehmt die Schiffe und bringt euch in Sicherheit, solange ihr noch könnt!“
Verzweifelt starrte der Worge zu ihm hinüber und legte die Ohren unglücklich an den Kopf. Ein paar Sekunden später begann die Lady des Meeres, sich langsam nach Steuerbord zu drehen – nach Osten, zurück in Richtung Sturmwind.
Doch die Kraken wollten sie nicht davonkommen lassen. Vor Varians Augen setzten sie den fliehenden Schiffen nach. Der Sieg der Horde würde also doch ein eindeutiger sein.
Der König warf die Schultern zurück und stieß einen gutturalen, aus Zorn und Trauer geborenen Schrei aus. Das durfte – konnte! – nicht geschehen! Sie hatten es nur mit vier Schiffen zu tun gehabt! Und doch hatte Garrosh sie vernichtend geschlagen.
Varian beabsichtigte nicht länger, zur Küste zu schwimmen, wie er es dem Worgen versprochen hatte. Er wollte sich nicht davonstehlen und überleben, um den Kampf an einem anderen Tag fortzusetzen. Vermutlich hätte er es versucht, wäre die Flotte entkommen. Doch jetzt – jetzt gab es keine Hoffnung mehr. Es gab gar nichts mehr, nur noch die Chance auf ein glorreiches Ende, während er so viele Feinde wie möglich mit sich in den Tod nahm. Die Kraken sollten sich heute nicht nur am Fleisch der Allianz laben.
Er trug noch immer Schalamayne, und nun schloss er die Finger fest um den Griff und zog das Schwert. Anschließend blickte er sich um, auf der Suche nach Hordekämpfern, die sich, wie er, auf eines der Wrackteile gerettet hatten. Da – ein klatschnasser Taure klammerte sich an ein gewölbtes Trümmerstück, das aussah, als wäre es einmal Teil eines Rumpfes gewesen. Er versuchte, sich ganz aus dem Wasser zu ziehen, doch es gelang ihm nicht. Mit einem Zischen und katzenhafter Geschmeidigkeit sprang Varian von Wrackteil zu Wrackteil und landete breitbeinig auf dem Rumpfabschnitt. Sein Schwert sauste hinab, Blut spritzte auf. Es besprenkelte sein Gesicht und fügte dem salzigen Geschmack in seinem Mund ein kupfriges Aroma hinzu.
Das wäre schon mal einer.
Der König von Sturmwind blickte sich nach einem zweiten Opfer um, doch in diesem Moment fiel ganz plötzlich ein Schatten über ihn. Er hob den Kopf und sah die Silhouette eines …
Eines Drachen?
Das Wasser um ihn herum sprudelte auf und nahm dabei Form und Festigkeit an. Es war wie eine Gestalt, die sich auf und ab hüpfend über die Wellen hinwegbewegte, ein blaugrünes Wesen mit einem kleinen Kopf, hasserfüllten Augen und zwei mit Fesseln gebundenen Armen. Ein Wasserelementar – nein, nein, nicht nur einer. Da waren Hunderte von ihnen, die alle wie aus dem Nichts auf der Meeresoberfläche auftauchten.
Sie warfen sich gegen die Kraken, die die Allianzflotte verfolgt hatten. Eines der Ungeheuer hatte sich so weit aus dem Wasser geschoben, dass man seine großen, flachen Augen sehen konnte. Es stieß einen markerschütternden, schrecklichen Schrei aus, als Dutzende entschlossener Elementarwesen auf es einstürmten. Varian konnte gerade noch rechtzeitig beiseitespringen, als ein wild umherwirbelnder Tentakel mit einem ohrenbetäubenden Donnern auf die Wellen herniedersauste. Er erkannte, dass er nun im Wasser sicherer wäre als an der Oberfläche. Also holte er tief Luft und tauchte unter.
Hier bot sich ihm ein faszinierendes Spektakel. Die riesigen Kraken schlugen mit ihren Fangarmen um sich, während die kleineren Elementare wie ein Schwarm um sie herumwirbelten. Kurz darauf färbten Fahnen dunklen Rots das Wasser, wunderschön trotz all der Brutalität, als die Wasserwesen die Meeresungeheuer im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke rissen. Varian tauchte fort von den Trümmern der Schiffe, in Richtung des offenen Meeres. Dort kämpfte gerade ein weiterer Kraken ums Überleben, sein träges Gehirn war vermutlich mehr überrascht als verängstigt, dass irgendetwas den Mut hatte, ihn anzugreifen. Ein zweiter trieb an der Oberfläche, und zwei abgerissene Tentakel tanzten auf den Wellen um ihn herum.
Varians Lungen begannen zu brennen, also schwamm er mit kräftigen Zügen zurück nach oben. Doch kaum dass er die Wasseroberfläche durchbrochen und keuchend eingeatmet hatte, packte ihn plötzlich etwas und riss ihn nach oben. Er wollte schon um sich schlagen, da rief ihm eine vertraute Stimme etwas zu.
„Varian!“
Natürlich – die Wasserelementare … Er drehte sich im Griff des blauen Drachen herum und sah Jaina in der anderen Vorderpfote der riesigen Kreatur. Ihr weißes Haar bauschte sich im Wind, ihre Augen aber waren noch immer von diesem merkwürdigen arkanen Glühen erfüllt. Doch da war noch etwas – ein Ausdruck der Trauer, der Resignation auf ihrem Gesicht und zugleich auch ein Gefühl des Friedens, das zuvor noch nicht dort gewesen war.
Sie deutete nach unten, und er schüttelte beim Anblick des Spektakels in der Tiefe den Kopf. Er konnte keine Hordeschiffe mehr sehen, dafür aber mehrere seiner eigenen, die sich in Küstennähe versammelt hatten, bereit dazu, in die Schlacht einzugreifen, sollte noch jemand versuchen zu fliehen. Die Kraken – Varian zählte acht – stellten nicht länger eine Bedrohung dar. Ihre gewaltigen Körper trieben leblos auf den Wellen, glänzend im Sonnenlicht. Dennoch spürte Varian ein Gefühl des Verlusts, als er erkannte, wie viele Schiffe die grotesken Meeresungeheuer zerstört hatten, auch wenn einige noch übrig waren.
Die Wasserelementare, die noch immer Jainas Willen gehorchten, wirkten von diesem Blickwinkel aus winzig, als sie auf neue Befehle ihrer Herrin warteten.
„Ihr habt die Kraken angegriffen“, rief Varian. „Nicht Orgrimmar.“
„Nein“, nickte sie. „Nicht Orgrimmar.“
Er lächelte schwach. „Ihr habt die Flotte gerettet, Jaina. Dank dafür. Und jetzt – falls dieser Drache die Güte hätte, mich auf einem meiner Schiffe abzusetzen – auf zur Nordwacht!“