Die Sonne sank, rot und angeschwollen. Ihr Schein ließ den Tauren und den Troll aussehen, als wären das Fell des einen und die Haut des anderen in Blut getränkt, während sie schweigend, mit ebenmäßigen Schritten, den Hügel zu den Ruinen der Feste Nordwacht hinaufschritten. Es gab dort keine Allianzpräsenz mehr, noch nicht einmal in Form von Leichen. Stattdessen schlief nun Garrosh Höllschrei in dem Turm, den einst der Admiral bewohnt hatte. Der Kriegshäuptling der Horde war es auch, zu dem Troll und Taure wollten.
An diesem Abend war Garrosh guter Laune. Die Lagerfeuer, die seinen Leuten Licht und Wärme spendeten, aber auch zum Kochen benutzt wurden, waren bereits entzündet worden, und weil er wollte, dass die Spione der Allianz genau sehen konnten, wie viele Krieger der Horde sie gegen sich hatten, hatte er weder die Zahl der Feuer noch ihre Größe beschränkt. Über einem solchen Feuer drehte sich nun auf einem Spieß die Keule eines Zhevras, und dem gebratenen Fleisch entströmte sowohl Fett, das zischend in die Flammen tropfte, als auch ein köstlicher Duft, bei dem Garrosh das Wasser im Mund zusammenlief.
„Lass sie vortreten“, sagte er und gestikulierte in Malkoroks Richtung. „Vol’jin, Baine, ihr seid die Anführer eurer Völker. Kommt und setzt euch zu mir! Reißt euch doch ein Stück von diesem köstlichen Fleisch ab!“
Der Taure und der Troll blickten einander an, dann näherten sie sich dem Feuer. Jeder von ihnen hatte einen Dolch an der Hüfte, und nachdem sie sich damit einen Streifen von dem tropfenden Fleisch abgeschnitten hatten, spießten sie ihn mit der Klinge auf. Als Garrosh auch einen Krug mit Kirschgrog herumgehen ließ, tranken sie höflich davon.
„Nun“, fragte der Orc anschließend. „Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen eures Besuches?“
„Kriegshäuptling“, begann Baine, „Eure Krieger sitzen herum und warten auf Eure Befehle. Ihr Blut brennt in Erwartung der Schlacht. Ihr kennt unsere Meinung in dieser Sache. Wir sind gekommen, um Euch, offen und untertänig, zu sagen, dass Ihr bald zuschlagen müsst, sonst geben wir der Allianz zu viel Zeit, sich einen Verteidigungsplan zurechtzulegen!“
„Ich dachte, du magst die Allianz, Baine Bluthuf“, entgegnete Garrosh gedehnt. Der scharfe, aufmerksame Blick seiner kleinen, dunklen Augen strafte seine zusammengesackte Körperhaltung Lügen.
„Ihr wisst, wem meine Treue gilt“, erklärte Baine, und seine Stimme war so tief, dass es beinahe wie ein Knurren klang. „Ich habe kein Verlangen danach, meine tapferen Krieger in eine Schlacht zu führen, in der sie niedergemetzelt werden – nicht, wenn ich sie stattdessen in eine Schlacht führen kann, aus der sie als klare Sieger hervorgehen.“
„Und du teilst diese Ansicht“, stellte Garrosh fest, während er sich an Vol’jin wandte.
Der Troll breitete die Arme aus. „Ihr habt schon mal gehört, wie wir über diese Sache denk’n, Kriegshäuptling. Meine Leute sind bereit, Allianzblut zu vergieß’n, aber falls Ihr sie noch weiter zurückhaltet, werd’n sie unruhig. Die Verlass’n’n mög’n Geduld ja für ’ne Tugend halt’n, aber ich muss Euch frag’n – was denkt Ihr Euch dabei? Ihr seid ein großer Krieger! Ihr habt keine Angst vor der Allianz. Also, warum schlag’n wir nicht sofort zu?“
„Du hast recht, ich bin ein großer Krieger. Und ich weiß auch viel über Strategie“, entgegnete Garrosh. „Ich bin es allmählich leid, dass du in dieser Sache die Richtigkeit meiner Entscheidung anzweifelst.“ Verschwunden war nun plötzlich die heitere, entspannte Haltung; Garrosh hatte weder zu viel getrunken noch zu viel gegessen, und seine Augen waren scharf und entschlossen, als er sie noch einmal musterte.
„Wir zweifeln nicht an Euch“, korrigierte Baine vorsichtig. „Wir sind ebenfalls Krieger von einem gewissen Ruf. Auch wir wissen, dass eine gute Taktik nötig ist. Darum wollen wir Euch unseren Rat anbieten, den wir mit dem Blut unserer Leute teuer bezahlt haben. Wir wollen unnötiges weiteres Blutvergießen verhindern und bitten Euch inständig, uns Gehör zu schenken.“
Baine atmete tief ein, dann stand er auf, trat zu Garrosh hinüber und kniete vor ihm. Diese Geste der Untertänigkeit nagte an ihm, war aber nichtsdestotrotz ernst gemeint. Garrosh musste ihn ganz einfach anhören. Sein Volk – nein, die ganze Horde – mochte davon abhängen.
„Die Tauren und die Trolle sind seit jeher Freunde der Orcs“, sagte er. „Wir bewundern und respektieren Eure Rasse. Aber Ihr seid viel mehr als nur der Häuptling der Orcs. Ihr seid der Kriegshäuptling der Horde, Garrosh Höllschrei.“ Sein Blick huschte zu der einschüchternden Erscheinung von Malkorok hinüber, der neben Garrosh stand, die Arme vor der breiten grauen Brust verschränkt, die hasserfüllen Augen auf Baine gerichtet. „Ihr führt uns alle, und Ihr seid schlau. Warum also übergeht Ihr einfach unseren Rat in dieser Sache? Warum schenkt Ihr nur diesem Schwarzfelsorc Gehör?“
Malkorok knurrte tief und machte einen Schritt nach vorn, doch als Garrosh die Hand hob, erstarrte er mitten in der Bewegung. „Du musst eine Nachricht an die Blut und Donner und die anderen Schiffe übermitteln, die vor dem Hafen von Theramore versammelt sind“, erklärte er, während seine Augen aber nicht auf Malkorok gerichtet waren, sondern auf Baine. „Sag ihnen, dass ich neue Befehle für sie habe!“
Baine und Vol’jin tauschten einen hoffnungsvollen Blick aus. Vielleicht hörte Garrosh nun doch noch endlich auf sie.
Der Kriegshäuptling lächelte hinter seinen Hauern, aber als er sprach, war seine Stimme kalt und hart. „Sag der Flotte, sie soll sich weiter von Theramore zurückziehen! So weit, dass man sie auch mit dem besten Allianz-Fernrohr nicht mehr sehen kann. Ihre Präsenz dort ist nicht länger vonnöten.“
„Was?“ Vol’jins Stimme war ein Schrei abgewürgter Fassungslosigkeit.
„Ich habe mein Ziel erreicht. Ich wollte, dass sich die Allianz der möglichen Gefahren an ihren Küsten bewusst wird.“
Langsam stemmte sich Baine auf die Hufe. „Ihr … wollt die Flotte fortschicken?“, sagte er mit hohler Stimme.
„Das tue ich“ bestätigte Garrosh, während er ebenfalls aufstand. Die beiden starrten einander an.
„Anstatt auf einen Angriff zu drängen, bevor Theramore Verstärkung rufen kann … ziehen wir uns zurück.“
„Ja. So, jetzt weißt du es, Taure. Das sind meine Befehle. Willst du sie etwa infrage stellen?“
Der Moment dehnte sich in die Länge, angespannt und still, wenn man einmal von dem Zischen absah, mit dem der Saft des Fleisches ins Feuer tropfte. Niemand bewegte sich, obwohl jeder darauf vorbereitet war.
„Ihr seid der Kriegshäuptling der Horde, Garrosh Höllschrei“, sagte Baine schließlich. „Tut, was Ihr für richtig haltet. Ich bete nur zur Erdenmutter, dass es noch so etwas wie eine Horde geben mag, wenn dieses Debakel einmal vorüber ist.“
Bevor Garrosh ihn weiter verhöhnen konnte, wandte sich der Taure um und stapfte davon, Vol’jin direkt neben sich, und als sie zu ihren Zelten zurückstapften, erklang hinter ihnen ein lautes, raues Orcgelächter.
Die Stimmung in Theramore war entschlossen und grimmig, und der militärische Aspekt der Stadt, der schon immer spürbar gewesen war, rückte nun in den Vordergrund. Das Gasthaus war jetzt nicht länger ein Ort, an dem man bei einem Bier und guter Unterhaltung am Feuer saß, sondern einer, wo sich Soldaten einquartiert hatten, manchmal bis zu acht in einem Zimmer. Andere mussten im Freien auf Plätzen schlafen, wo man Betten aufgestellt hatte, und tief im Herzen der Wehrzitadelle wurden Vorräte an getrockneten Bohnen, Getreide, Räucherfleisch sowie Krüge mit Trinkwasser angehäuft.
Kurz verlieh ein Schimmer der Hoffnung den Bürgern neue Zuversicht, als die Segel der Siebenten Flotte am Horizont auftauchten. Die Schiffe, alles in allem zwanzig an der Zahl, hatten nicht nur Sturmwinds beste Seemänner an Bord, sondern auch einige Generäle von großem Ruhm und hohem Ansehen. Die Stimmung wurde beinahe schon festlich, als das Flaggschiff, die Geist von Tiffin, an der Spitze der gesamten Armada im Hafen von Theramore vor Anker ging. Obwohl die Zeit drängte, ließen es sich die Mannschaftsmitglieder des Flaggschiffes nicht nehmen, eine zwar abgekürzte, aber doch präzise Zeremonie durchzuführen, während sie von Bord gingen, begleitet vom martialischen Rat-tat-tat einer Trommel. Anschließend nahmen sie in einer Reihe Aufstellung, die Gesichter Jaina, der Leidenden, Tervosh, Kinndy, Vereesa und den Magiern der Kirin Tor zugewandt. Hinter dieser kleinen Gruppe hatten sich die Einwohner von Theramore zusammengedrängt. Ihre müden, argwöhnischen Gesichter wirkten so entspannt wie schon lange nicht mehr, als sie den Männern und Frauen zujubelten, die gekommen waren, um bei ihrer Verteidigung mitzuwirken.
Varian hatte gesagt, dass er so viele Leute schicken würde, wie er entbehren konnte, aber er hatte keine Namen genannt, da er selbst nicht genau gewusst hatte, wen er rechtzeitig erreichen würde. Nun blickte Jaina, die Augen mit der Hand gegen die Sonne abgeschirmt, zu den Männern und Frauen hinüber, die hoch aufgerichtet und kerzengerade die Planke hinab an Land marschierten.
„Marcus Jonathan, General von Sturmwind, Oberkommandierender der Verteidigungstruppen von Sturmwind“, stellte einer der Menschen sich vor. Er war ein großer, imposanter Mann in schwerer Kettenrüstung, der aber mit beeindruckender Leichtfüßigkeit vom Schiff stieg. Sein Bart war lang und voll, sein rotbraunes Kopfhaar hingegen recht kurz geschoren. Jonathan wirkte gleichzeitig entspannt und bereit, sich in Sekundenschnelle in den Kampf zu stürzen. Jaina war nicht gerade eine kleine Frau, doch als er vor sie trat und die Hand zur Begrüßung ausstreckte, kam sie sich geradezu winzig vor.
„Ich war der Erste, an den sich Varian gewandt hat, und auch der Erste, der sich bereit gemeldet hat“, erklärte er. „Ihr habt so viel für die Allianz geleistet, Lady Prachtmeer, dass es eine Ehre ist, Euch unterstützen zu dürfen.“
„Danke General“, sagte sie. „Ihr bringt uns neue Hoffnung.“
Die beiden nächsten Gestalten, die vor sie traten, waren Zwerge. Jaina hatte sie noch nie zuvor gesehen, wusste aber, wer sie waren. Und sie kannte auch den tragischen Grund, warum ausgerechnet diese beiden hier waren und nicht zwei andere.
„Thaddus Starkschlag vom Wildhammerklan“, brummte der Erste schroff. Und anstatt ihr die Hand zu schütteln, salutierte er zum Gruß nur mit seinem Hammer.
„Horran Rotmähne vom Basislager der Siebten Legion“, verkündete anschließend der Zweite.
„Ihr seid hier höchst willkommen“, erwiderte Jaina. „Außerdem möchte ich Euch mein Mitgefühl aussprechen. Der Tod von General Donnerknall und General Marstein ist höchst bedauerlich.“
Thaddus Starkschlag nickte brüsk. „Aye, der Tod unserer Vorgesetzten war nicht die Art, wie wir uns ein eigenes Kommando verdienen wollten, so viel ist mal sicher.“
„Aber wir werden sie rächen“, fügte Rotmähne an. „Es freut uns, hier helfen zu können, Lady. Solange wir die Krieger der Allianz niederstrecken dürfen, ist uns gleich, wo wir kämpfen.“
Obwohl die Allianz ihr Lager praktisch direkt vor ihrer Türschwelle aufgeschlagen hatte, bedauerte sie es, dass ein Kampf unausweichlich schien, und der Blutdurst dieser beiden Zwerge versetzte ihr einen Stich. Dennoch brachte sie ein knappes Nicken zustande, bevor sie sich zu dem nächsten Heerführer herumdrehte.
Seine Hufe klapperten leise auf dem Holz der Planke, als Draenei-General Tiras’alan zu ihr herabstieg. Es war eine Überraschung, ihn hier zu sehen, aber eine äußerst angenehme, vor allem nach der offenen, wenngleich natürlich verständlichen Feindseligkeit, die die beiden Zwerge der Horde gegenüber empfanden. Tiras’alan war in jenem historischen Augenblick zugegen gewesen, als Lady Liadrin von den Blutrittern mit dem Naaru A’dal gesprochen hatte. Erst war er wütend gewesen, dass sie es wagte, ihn aufzusuchen, nach allem, was ihr Volk getan hatte. Doch sie hatte Kael’thas abgeschworen und der Offensive der Zerschmetterten Sonne ihre Treue zugesichert. A’dal hatte Nachsicht und Mitgefühl mit ihr gezeigt. Tiras’alan war es gewesen, der ihr an jenem Tag den Wappenrock der Zerschmetterten Sonne überreicht hatte.
Jaina begrüßte den Draenei herzlich, der zu gleichen Teilen Stärke und Sanftheit ausstrahlte, ebenso wie seine Rüstung goldenes Licht auszustrahlen schien, als er sich vor ihr verbeugte.
„Ich bin gekommen, um zu schützen und zu verteidigen“, sagte er. „Die Kunde Eurer großen Taten und Bemühungen um den Frieden haben selbst Shattrath erreicht, Lady.“ Seine Stimme war melodiös und tief. „Theramore muss dem Angriff trotzen. Die Horde darf nicht triumphieren.“
Von einem „Tod der Horde“ war hier keine Rede, dennoch wirkte sein Versprechen, ihr beizustehen, ebenso entschlossen wie das der Zwerge.
„Eure Weisheit ist uns hier mehr als willkommen“, erklärte Jaina. „Vom Licht eines Paladins zehren zu können, wird sich in der kommenden Schlacht gewiss als Vorteil erweisen.“
Als Nächster stieg eine lilahäutige, blauhaarige Nachtelfin von Bord des Schiffes herunter, wobei sie gegen das Sonnenlicht blinzelte. Jainas Augen wurden groß, und sie lächelte, als sie diese ganz besondere Verbündete – Shandris Mondfeder, General der Schildwachenarmee – wie einen alten Freund willkommen hieß.
„Kampfschwester“, sagte Shandris, ebenfalls mit einem sanften Lächeln. „Der Erzdruide und die Hohepriesterin schicken mich mit Freuden an Eure Seite, und ich und meine Wachen empfinden dieselbe Freude, dass wir Euch beistehen dürfen.“
„Die Freude ist ganz meinerseits“, versicherte ihr Jaina. Falls Shandris von einigen ihrer Leute begleitet wurde, überlegte die Lady Prachtmeer, durfte sie wohl hoffen, dass auch die anderen Generäle die besten ihrer Soldaten, die andernorts gerade nicht zwingend gebraucht wurden, mit nach Theramore gebracht hatten. Garrosh würde alle Rassen der Horde gegen die Stadt führen, und nun sah es so aus, als sollte ihnen ein gebührender Empfang bereitet werden.
Der Letzte, der das Schiff verließ, war zwar kein General, Jaina aber dennoch wohlbekannt. Erst vor Kurzem hatte sie erfahren, dass er die Vernichtung der Feste Nordwacht überlebt hatte; er war schwer verletzt zusammengebrochen, die Horde musste ihn für tot gehalten haben und ließ ihn liegen. Die Freude, ihn zu sehen, wurde fast augenblicklich durch den Schock und die Trauer gedämpft, die sein Aussehen in ihr hervorriefen. Die Schlacht um die Nordwacht hatte ihre Spuren an ihm hinterlassen: Er hatte ein Auge verloren, und eine gezackte Narbe verunstaltete, was einmal ein gut aussehendes Gesicht gewesen war. Als er auf sie zukam, fiel ihr außerdem auf, dass er das eine Bein etwas nachzog. Er bemerkte, wohin ihr Blick huschte, und als ein mitfühlender Ausdruck auf ihr Gesicht trat, lächelte er, soweit dies mit seinem entstellten Gesicht eben möglich war.
„Admiral Aubrey“, rief Jaina voller Wärme aus, dann eilte sie ihm entgegen, die Arme zum Gruß ausgestreckt.
„Lady Prachtmeer“, sagte er. „Ich bin noch am Leben, und meinen Verstand hat die Horde mir auch nicht geraubt. Das ist alles, worauf es ankommt. Ich will mein Bestes tun, Euch zu dienen.“
„Euer Bestes ist mehr, als die meisten anderen bieten können. Es freut mich ja so, Euch zu sehen. Die Allianz darf sich glücklich schätzen, auf Euren Verstand bauen zu dürfen. Und jemanden zu haben, der aus erster Hand über die Strategie der Horde berichten kann, das sollte ebenfalls hilfreich sein.“ Sie drückte seine Hände und fragte: „Habt Ihr noch andere Männer dabei …?“ Doch als sich seine Miene verhärtete, brach sie mitten im Satz ab.
„Nicht viele haben überlebt, und nur ungefähr ein halbes Dutzend hatte noch genügend Glieder am Leib, um sich mir anzuschließen“, erklärte er. „Ich habe aber Neuigkeiten über die Flotte der Horde, die ich Euch so schnell wie möglich mitteilen muss.“
„Aye, Admiral Aubrey hat recht“, warf Thaddus Starkschlag ein. „Jetzt ist nicht die Zeit für Tee und ungezwungenes Geplauder.“
„Da kann ich Euch nicht widersprechen“, sagte Jaina ohne das geringste Zögern. „Auch wenn ich mir wünschte, wir hätten die Zeit für eine richtige Begrüßungszeremonie. Hauptmann Mumm wird Eure Mannschaften und Soldaten mit der Stadt und ihren Verteidigungsanlagen vertraut machen. Generäle – und Admiral –, bitte folgt mir in den Turm! Es gibt vieles zu besprechen.“
Ein paar Minuten später saßen Jaina, die fünf Generäle, die fünf Mitglieder der Kirin Tor, Waldläufergenerälin Vereesa und der Admiral bereits um einen großen Tisch herum. Tinte, Federkiele und Papier lagen bereit, und auch für Gläser mit frischem Wasser war gesorgt. Nicht einmal die Zwerge wagten es, nach Alkohol zu fragen; sie wussten alle, dass ihr Verstand klar und scharf bleiben musste.
„Lasst mich Euch noch einmal willkommen heißen“, begann Jaina, bevor einer der anderen das Wort ergreifen konnte. „Generäle, Waldläufergenerälin, Admiral, die Magier, die Ihr hier vor Euch seht, sind allesamt Kirin Tor – unter ihnen auch Thalen Liebweber. Sie sind gekommen, uns bei der Verteidigung von Theramore ihre Weisheit und Erfahrung anzubieten.“
Marcus Jonathan blickte zu Rhonin hinüber. „Bei der Verteidigung“, wiederholte er. „Liege ich dann richtig in der Annahme, dass Ihr in der bevorstehenden Schlacht trotzdem keine Partei ergreifen werdet?“
„So unwahrscheinlich dieser Ausgang zu diesem Zeitpunkt auch erscheint, es ist meine Hoffnung, dass es gar nicht erst zu einer Schlacht kommt“, erklärte Rhonin mit einer Ruhe, die Jaina so gar nicht an ihm kannte. Als rings um den Tisch leises Gemurmel ausbrach, hob er die Hand. „Falls unsere Präsenz hier kein ausreichendes Abschreckungsmittel ist, um ein Blutvergießen zu verhindern, werden wir diese Stadt verteidigen, um möglichst viele unschuldige Leben zu schützen. In der Zwischenzeit“ – er lächelte – „können wir bei der Planung der Defensive vielleicht behilflich sein. Einige von uns haben sich die Hände schon auf dem Schlachtfeld schmutzig gemacht.“
„Das Licht schickt seine Hilfe auf vielerlei Weise, und in vielerlei Form“, erklärte Tiras’alan, der bei diesen Worten den Sonnenhäscher anblickte. „Ich für meinen Teil begrüße Eure geballte Weisheit.“
Die Gestalten am Tisch nickten, einige von ihnen aber mit deutlich weniger Enthusiasmus als andere. „Wir alle sehen also, dass wir einen gemeinsamen Feind haben“, sagte Jaina. „Gut. Um diesen Tisch herum sind viele Jahre der Erfahrung versammelt, und ich bin für jeden von Euch dankbar, der hierhergekommen ist.“
Aubrey beugte sich vor. „Bevor wir anfangen über Strategien und die Planung der Verteidigung zu sprechen, Lady Jaina, muss ich Euch erzählen, was wir auf dem Weg zum Hafen gesehen haben.“
Jaina spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. „Lasst mich raten“, murmelte sie. „Mehrere Hordeschiffe.“
Jonathans Stirn furchte sich leicht. „Man kann sie vom Hafen aus nicht sehen, und die Schiffe von Theramore bleiben dicht an der Küste. Woher habt Ihr das gewusst?“
„Vor ein paar Tagen waren sie noch hier, ganz darauf bedacht, innerhalb der Grenzen der Hordegewässer zu bleiben“, teilte ihm die Leidende mit. „Es scheint, als hätten sie sich nicht wirklich zurückgezogen.“
„Wir waren bereit, sie anzugreifen, hätten sie uns auch nur den geringsten Anlass dazu gegeben“, erklärte Jonathan. „Aber ihre Schiffe lagen einfach nur in der Dünung, ganz so, als befänden sie sich auf einem Vergnügungsausflug. Keiner von ihnen hat auch nur einen Finger gerührt.“
Machthieb blickte finster drein. „Was zumindest ich äußerst bedauerlich fand.“
„Wir wollen in diesem Krieg nicht den ersten Stein werfen“, sagte Jonathan, aber Jaina entging nicht, dass auch er so aussah, als wünschte er sich, die Horde hätte sie unter Beschuss genommen. So wäre zumindest die Anspannung, unter der sie standen, endlich gebrochen worden. „Aber wir werden ganz sicher den letzten Stein werfen. Sie sind dort draußen, sie sind bewaffnet, und sie … sie warten.“
Tiras’alan räusperte sich. „Dürfte ich? Lady Jaina, wir haben gehört, dass Ihr … vor diesem Angriff gewarnt wurdet. Haltet Ihr es für möglich, dass das vielleicht eine List war? Möchte Garrosh womöglich nur, dass Ihr glaubt, das Ziel wäre Theramore, obwohl es eigentlich ganz woanders liegt.“
„Auf dem Landweg können sie kein and’res lohnendes Ziel erreichen“, warf Rotmähne mit zusammengezogenen Augenbrauen ein. „Ich kann mir nich’ vorstellen, dass diese Schiffe einfach nur so, ohne Grund, da draußen vor Anker liegen. Die Horde is’ groß, gewiss, aber nicht so groß.“
„Der Gedanke kam uns auch schon“, schaltete sich Shandris in die Unterhaltung ein. „Es gibt keine Beweise dafür, dass Ihre Angriffspläne einem anderen Ort als Theramore gelten.“
Jaina dachte einen Moment nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ich bin mir sicher, es war nur ein Trick. Meine … Quelle ist ein großes Risiko eingegangen, um mich zu warnen, und ich vertraue ihr bedingungslos.“ Sie hatte an Baines Seite gesessen, als er den Tod seines Vaters durch einen hinterlistigen Verrat betrauert hatte, hatte gesehen, wie eine dem Licht heilige Waffe in seinen Händen zufrieden aufgeleuchtet hatte. Er würde sie nicht betrügen.
Der Draenei musterte sie und nickte anschließend. „Dann wollen auch wir dem Wort dieser namenlosen Quelle glauben. Die gegenwärtige Lage scheint seine Worte zu bekräftigen.“
Shandris rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn. „Admiral Aubrey“, sagte sie. „Wir hatten die Ehre, bereits auf der Fahrt hierher mit Euch zu sprechen. Lady Jaina und die anderen hatten aber noch keine Gelegenheit dazu. Warum berichtet Ihr Ihnen nicht, was Ihr auch mit uns geteilt habt?“ Sie lächelte, aber es war kein angenehmes Lächeln. Shandris Mondfeder war ein Raubtier, und Jaina konnte deutlich sehen, dass sie mit der Jagd beginnen wollte. „Anschließend können wir über unsere Strategien beraten.“
Jaina nahm sich einen Moment, um dem Licht – und mit ihm Varian Wrynn, A’dal, der Hohepriesterin Tyrande, dem Erzdruiden Malfurion, Rhonin und dem Rat der Drei Hämmer – für die große Weisheit dieser kampferfahrenen Männer und Frauen zu danken. Mit etwas Glück würden sie nicht nur dem Ansturm der Horde trotzen, sondern diesen Angriff auch mit möglichst wenigen Opfern auf beiden Seiten abwehren.
Wenn Garrosh Höllschrei dann erkannte, dass nicht einmal seine vehementesten Bemühungen Früchte trugen, wäre er vielleicht bereit, der Gewalt abzuschwören und über einen Frieden zu verhandeln.
Erdenmutter, zeige mir den Weg, betete Baine stumm. Er hatte die kleine Gedenkstätte aufgesucht – das Tauren-Äquivalent eines Friedhofes –, ganz in der Nähe des Lagers, das sie auf dem Weg zur Nordwacht passiert hatten. Hier, wo die wohlwollenden Geister der Verblichenen noch lebendig sein mochten, fand er Ruhe und Trost.
Die Tage krochen dahin, während die Horde wartete … und wartete, und mit jedem solchen Tag verstärkte die Allianz die Verteidigungsanlagen um Theramore weiter. Wie Baine von Perith erfahren und auch zuvor schon vermutet hatte, hatte Jaina seine Nachricht voller Respekt und Dankbarkeit entgegengenommen, ganz so, wie er es von der Lady von Theramore erwarten konnte. Doch er hatte sie gewarnt, um ein Massaker an der Allianz zu verhindern, und nicht, damit die Allianz die Chance bekam, die Horde zu massakrieren. Genau darauf lief es nun aber hinaus. Die Schuld dafür war natürlich nicht bei Jaina zu suchen; es war Garrosh, dessen Gedankengänge ebenso unergründlich wie besorgniserregend waren. Während die wertvollen Sekunden verstrichen, schien er völlig zufrieden damit, hier, inmitten seiner Kor’kron, zu verharren, mit dem Schwarzfelsorc an seiner Seite.
Sie hatten gehört, dass die berühmte Siebte Flotte in Theramore eingetroffen war und dass die Decks ihrer Schiffe vor Generälen der Allianz, deren Namen Garrosh Herz eigentlich mit Grauen hätten erfüllen müssen, sogar überquollen. Stattdessen hatte Baine aus dem Lager seines Kriegshäuptlings nur Gelächter und markige Kommentare gehört, während die grimmige Neuigkeit im Flüsterton unter den Fußsoldaten die Runde machte. Doch sie konnten nach wie vor nichts tun, als bloß dazusitzen und auf Befehle zu hoffen.
Inzwischen fehlte selbst Baine der Mut, weiter gegen Garroshs Verzögerung des Angriffs zu protestieren. Bestenfalls würde man ihn wieder verspotten und an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung treiben, bevor man ihn fortschickte, ohne dass er irgendetwas erreicht hätte – und schlimmstenfalls, das wusste er, würde man ihn des Verrats beschuldigen und womöglich hinrichten.
Baine war ein Krieger, und als solcher kannte er sich mit Taktiken und Strategien aus. Er wusste, dass hinter manchen auf den ersten Blick törichten Zügen eine tiefere Weisheit steckte. Garrosh hatte die Feste Nordwacht angegriffen und einen beeindruckenden Sieg davongetragen. Wäre er ein oder zwei Tage später in Richtung Theramore weitermarschiert, wäre ihm ein zweiter ebenso eindeutiger Triumph sicher gewesen. Doch stattdessen hatte Groms Sohn gewartet und dadurch zugelassen, dass Jaina von seiner geplanten Attacke erfuhr, dass sie Nahrungsmittel und Waffen hortete, um fremde Hilfe bat – und diese Hilfe auch bekam.
„Warum?“, fragte Baine laut. Er dachte an seine Leute, stoisch und stark, und an seinen Treueschwur gegenüber Garrosh als dem Anführer der Horde. Vor seinem geistigen Auge sah er die Tauren als steif werdende Leichen, dahingemetzelt auf dem Schlachtfeld, aber eigentlich weniger ein Opfer der Allianzwaffen als vielmehr eines von Garroshs Torheit und völlig unerklärlichen Entscheidungen. Er hob das Gesicht dem Himmel entgegen, und scharfe, stechende Tränen füllten seine Augen, als er, allein mit den Geistern seiner Vorfahren, die Faust schüttelte und all die Verwirrung, Trauer und Wut in seinem Herzen hinausbrüllte. „Warum?“