„Er ist verschwunden!“, schnappte die Leidende. „Dieser verfluchte Verräter Sangweber – er ist verschwunden! Den Berichten zufolge hat ihn eine kleine Gruppe der Horde befreit, als sie in die Stadt eingedrungen sind!“
„Ich werde ein paar Schildwachen mitnehmen und nach ihnen suchen“, erklärte Shandris. „Sie dürfen nicht entkommen.“
„Allerdings nicht“, meinte Vereesa. „Ich werde nicht zulassen, dass ein Blutelf der Horde Einzelheiten über uns preisgibt. Sucht Ihr auf der nördlichen Straße nach Sangweber, ich und ein paar andere werden uns im Westen umsehen.“ Sie wandte sich an Rhonin. „Ich denke, wir werden bald zurück sein.“
„Ich würde dir ja sagen, dass du auf dich achtgeben sollst, meine Liebe, aber das weißt du bereits“, sagte der Erzmagier. Die beiden sahen völlig erschöpft aus; Vereesa war mit Blut verschmiert, das glücklicherweise nicht ihr eigenes war, und Rhonin wirkte so geschwächt, als könnte ihn ein Windstoß von den Beinen fegen. Dennoch kannten sie beide ihre Pflichten, und nichts konnte sie davon abbringen, ihnen gerecht zu werden.
Anschließend umarmten sie einander und küssten sich, ganz so vertraut wie Liebende, die den Körper des anderen genau kennen. Der Kuss war zärtlich, dauerte aber nicht besonders lange.
„Ruh dich aus, falls du kannst“, murmelte Vereesa, und als Rhonin nur schnaubte, grinste sie. „Ich sagte doch: falls du kannst.“
„Ich werde es versuchen. Es gibt viele Verwundete, aber selbst diejenigen unter uns, die keine Heilzauber beherrschen, um eine arme Seele zu retten, verstehen es, einen Verband anzulegen.“
„Genau darum liebe ich dich so“, flüsterte sie. „Ich werde bald zurück sein, Geliebter.“ Shandris und ihre Schildwachen waren bereits durch das Nordtor verschwunden, und nun stiegen auch Vereesas Krieger in die Sättel. Kurze Zeit mussten sie noch warten, während die Waldläuferin selbst zu einem neuen Pferd hinübereilte, dann schwang sie sich mit leichtfüßiger Eleganz auf den Rücken des Tieres und ritt voran in Richtung Westtor, ohne noch einmal zu den anderen zurückzublicken. Rhonin hatte allerdings auch nicht damit gerechnet. Seine Frau hatte sich verabschiedet, und nun widmete sie sich ganz ihren Pflichten. Es wurde Zeit, dass er dasselbe tat.
Bereits während jener ersten Momente, als die Erkenntnis, dass sie gewonnen hatten, gerade noch in ihr Bewusstsein sickerte, galt Jainas drängendste Sorge wie immer ihrem Volk. Sie sprach kurz mit Jonathan, der ihr den neuesten Bericht über ihre Verteidigungslinie lieferte. Die schwersten Verluste hatten offenbar die Greifstaffeln und die anderen fliegenden Beschützer von Theramore erlitten. Aber er versicherte ihr, dass die Seemänner der gesamten Siebten Flotte an Land kämen, um den Verwundeten zu helfen.
„Glaubt Ihr, sie werden zurückkommen?“, fragte Jaina.
„Ich bezweifle es. Sie haben viele Krieger verloren und werden Zeit brauchen, um sie neu zu formieren. Davon abgesehen haben wir ja einen Drachen für den Fall, dass sie mehr als nur Bodentruppen schicken.“
Bei diesen Worten musste Jaina lächeln. „Dann lasst uns jetzt denen helfen, die Hilfe brauchen“, sagte sie. Ein kurzer Blick zeigte ihr, dass sich auch die anderen Generäle der Verwundeten annahmen. Inzwischen setzten die Jäger ihre tierischen Gefährten darauf an, zwischen den Trümmern nach Überlebenden zu suchen, und noch während Jaina sie beobachtete, wurden zwei Menschen unter Haufen aus Stein und Holz hervorgezogen. Sie waren verwundet, doch sie lebten – und lächelten.
Doktor Van Howzen hob den Kopf, als sie die Krankenstube betrat. „Lady Jaina“, sagte er, „könntet Ihr bitte drei Schritte nach hinten machen?“
Rasch tat sie, wie ihr geheißen, und zwei Soldaten, die einen dritten auf einer Bahre trugen, eilten an ihr vorbei. Die Krankenstube quoll über vor Patienten, aber das Gebäude machte noch immer einen stabilen Eindruck, auch wenn man durch ein großes Loch in der Decke den blauen Himmel sehen konnte. „Was braucht Ihr, Doktor?“, fragte Jaina.
„Wir müssen auch auf dem Hof Verwundete unterbringen“, erklärte er. „Und sagt den erfahrensten Heilern, sie sollen hierherkommen – zu mir. Wir können ihre Hilfe jetzt brauchen. Alle anderen würden jetzt vermutlich nur im Weg herumstehen.“
Jaina nickte rasch, woraufhin Van Howzen einen blutigen Finger auf sie richtete. „Und was Euch und die anderen Magier angeht, Ihr solltet etwas essen. Ich möchte Euch nicht auch noch behandeln müssen. Diese Soldaten hier brauchen mich dringender als Ihr.“
Sie lächelte schwach. „Habe verstanden.“ Anschließend drehte sie sich um und ging wieder nach draußen, darauf bedacht, den Helfern aus dem Weg zu gehen, die mit Verwundeten in die Krankenstube eilten. Sie zauberte etwas Brot und Wasser herbei, eine einfache Beschwörung, um ihre erschöpften Energiereserven wieder ein wenig aufzufüllen, und zwang sich zu essen, obwohl sie gerade jetzt alles andere als hungrig war.
Sie hatten gewonnen, dachte Jaina traurig, während sie sich umblickte, aber der Preis war hoch gewesen. All die Greifen und Hippogryphen waren mitsamt ihren Reitern getötet worden, und ihre pelzigen oder federbedeckten Leichen lagen noch immer dort, wo sie in die Stadt herabgestürzt waren, durchbohrt von Pfeilen oder versengt durch Zauber, ihre Horste zerstört von den Eindringlingen der Horde, die auch Sangweber befreit hatten. Diese Tiere waren jedoch nicht die einzigen, die heute ihren Tod gefunden hatten; die Kadaver riesiger Fledermäuse, Drachenfalken und löwenartiger Wyvern lagen ebenfalls zerschmettert auf den Straßen von Theramore.
Jaina erblickte eine kleine Gestalt, die ziellos durch die Ruinen irrte, wo sich einst das Gasthaus befunden hatte. Rasch lief sie zu Kinndy hinüber, erleichtert, dass ihre Schülerin den Kampf überlebt hatte. Aber als das Gnomenmädchen den Kopf hob, versetzte ihr Gesichtsausdruck Jainas Herz einen schmerzhaften Stich.
Kinndy war totenblass, selbst aus ihren Lippen schien das Blut gewichen. Ihre Augen waren riesig, aber trocken. Jaina streckte die Hand aus und streichelte tröstend ihr wirres rosafarbenes Haar.
„Ich dachte, ich wüsste … wie es werden würde“, sagte das Gnomenmädchen leise. Dass diese sanfte, leise Stimme einst freche Witze mit Tervosh ausgetauscht oder einen Drachen beleidigt hatte, war in diesem Augenblick kaum zu glauben.
„Du kannst alle Bücher der Welt lesen, Kinndy, aber niemand weiß wirklich, wie sich eine Schlacht anfühlt, bis er in einer gekämpft hat“, erklärte Jaina.
„Ihr … ging es Euch denn genauso?“
Sie dachte an ihre erste Begegnung mit den auferstandenen Toten in jenem Gebiet zurück, das unter dem Namen Pestländer bekannt werden sollte, und die Erinnerungen spülten über sie hinweg, viel lebhafter, als ihr lieb war: wie sie in eines der Bauernhäuser gegangen war und den übelkeiterregend süßen Geruch der Verwesung gerochen hatte; wie das schlurfende Wesen, das einmal ein lebender Mensch gewesen war, gekreischt hatte, als es sich auf sie stürzte; wie sie sich mit einem Feuerball verteidigt und dem widerlichen Gestank dadurch noch den Geruch verkohlten Fleisches hinzugefügt hatte. Sie hatte das Bauernhaus niedergebrannt und damit noch weitere der lebenden Leichen in den wahren Tod geschickt. Diese Schlacht war natürlich ganz anders gewesen als die heutige, gleichzeitig aber doch auch sehr vergleichbar. Soweit es Jaina betraf, war ohnehin alles dasselbe, was Gewalt und Töten und Getötetwerden beinhaltete. Selbst jetzt noch spürte sie bei der Erinnerung ein Kribbeln, wie die Berührung einer Knochenhand. Sie schauderte.
„Ja“, sagte sie dann, „mir ging es genauso!“
„Gewöhnt man sich daran … so etwas zu sehen?“ Kinndy breitete die kurzen Arme aus und deutete auf die Leichen, die auf dem Boden ringsum verstreut lagen. „Gewöhnt man sich daran, Leute, die vor ein paar Stunden noch quicklebendig und wohlauf waren … plötzlich so zu sehen?“
Ihre Stimme kippte bei den letzten Worten, und Jaina war erleichtert, als jetzt endlich Tränen in die Augen des Gnomenmädchens traten. Trauern zu können war der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung, wenn man ein solches Grauen miterlebt hatte.
„Nein, daran gewöhnt man sich nie“, sagte Jaina. „Es tut jedes Mal aufs Neue weh. Aber das Gefühl der Hoffnungslosigkeit verblasst, und man erkennt, dass man nach einem solchen Erlebnis trotzdem weitermachen kann. Man erkennt, dass diejenigen, die man verloren hat, wollen würden, dass man weitermacht. Du wirst lernen, wieder zu lachen, dankbar zu sein und das Leben zu genießen, aber du wirst nie vergessen, was hier geschehen ist.“
„Ich glaube nicht, dass ich je wieder lachen kann“, entgegnete Kinndy, und fast wollte Jaina ihr glauben. „Warum ich, Lady? Warum habe ich denn überlebt und all die anderen nicht?“
„Die Antwort darauf werden wir nie erfahren. Alles, was wir tun können, ist, diejenigen zu ehren, die nicht mehr hier sind, indem wir unser Leben bis zum Letzten auskosten. Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht umsonst gestorben sind. Denk daran, wie sehr deine Eltern dich lieben, und wie dankbar sie sein werden, dass du noch lebst!“ Sie schenkte ihrer Schülerin ein schmales Lächeln, aber auch Melancholie schwang darin mit. „Denk daran, wie dankbar ich bin, dass du noch lebst!“
Das Gnomenmädchen blickte forschend zu ihr hoch, dann huschte auch über ihre blassen Lippen das Phantom eines Lächelns, und Jaina spürte, wie sich ein weiterer Knoten in ihrem Magen löste. Kinndy war stark. Sie würde sich erholen.
Sie brach ein Stück Brot ab und hielt es dem Mädchen hin. „Du hast dich gut geschlagen, Kinndy. Du hast mir und deinen Eltern große Ehre gemacht.“
Jaina wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das, was nun geschah. Kinndy, diese besserwisserische, schnippische, unabhängige Kinndy, ließ das Stück Brot auf den blutgetränkten Boden fallen, drehte sich zu ihrer Lehrerin herum und schlang die Arme fest um sie, während sie schluchzte, als würde ihr Herz zerbrechen.
Jaina ließ den traurigen Blick ihrer blauen Augen noch einmal über die Folgen der Schlacht schweifen, dann kniete sie sich hin und nahm ihre Schülerin fest in den Arm.
Von all den Rassen, die der Horde ihre Treue geschworen hatten, waren die Tauren ganz ohne Zweifel eine der friedliebendsten. Standhaft und charakterfest, wie sie auftraten, konnte man sie nur schwer verärgern, dafür umso leichter beschwichtigen. Doch wenn ein Taure einmal einen Grund fand, wütend und empört zu sein, dann tat man gut daran, ihm aus dem Weg zu gehen.
Die Reihe der Hordesoldaten teilte sich hastig, als Baine zwischen ihnen hindurchstampfte.
Mit schweren, zornigen Schritten ging er nach vorn, sein Schwanz peitschte hin und her, die Ohren waren dicht an seinen Kopf angelegt. Er bat nicht um eine Audienz beim Kriegshäuptling, sondern forderte brüllend sein Recht darauf ein, so wie sein Vater es vor ihm getan hatte.
„Garrosh!“ Der Ruf des sonst so besonnenen Bullen brachte jede andere Unterhaltung in der Nähe zum Verstummen und ließ zahlreiche Köpfe herumrucken. Gefolgt von Hamuul Runentotem und Vol’jin marschierte Baine zum westlichen Rand der Brücke, die über die Bucht der Düstermarschen führte, hin zu der Stelle, wo der Kriegshäuptling mit vor der Brust verschränkten Armen stand und nach Theramore blickte. Garrosh drehte sich nicht um, als Baine seinen Namen brüllte. Ohne an die Folgen zu denken, die das für ihn haben könnte, packte der Taure den Orc am Arm und wirbelte ihn zu sich herum, sodass er ihm ins Gesicht sehen musste. Noch im selben Augenblick stürmten die Kor’kron herbei, Malkorok natürlich an vorderster Front, aber Garrosh schüttelte den Kopf, bevor einer von ihnen den wütenden Tauren niederstrecken konnte.
Baine grollte vor unbändigem Zorn und rieb dem Kriegshäuptling ein Stück blutgetränkten Stoffes ins Gesicht. Das entlockte dem Orc schließlich eine Regung; er riss Baine den Fetzen aus der Hand und zischte ihn an.
„Das ist das Blut eines jungen Tauren, der starb, als er Eure Befehle befolgte! Befehle, wegen denen nun viel zu viele in diesen schlammigen Wassern treiben und steif werden! Und wir haben nichts erreicht!“, bellte Baine. „Sein Blut ist ein passenderer Schmuck für dich als diese Tätowierungen, Garrosh!“
Malkorok trat vor und stieß den hünenhaften Bullen so heftig zurück, dass Baine tatsächlich einen Schritt nach hinten stolperte. Dann packte der Schwarzfelsorc seine Hände und begann sie brutal zu verdrehen. Dass ihm zwei Finger fehlten, verringerte nicht die Kraft seines Griffes. Da sagte Garrosh, der sich inzwischen das Blut vom Gesicht gewischt hatte: „Lass ihn los, Malkorok!“
Einen Moment lang schien es, als ignorierte der Orc diesen direkten Befehl, aber dann löste er schließlich doch seinen Griff, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. Nachdem er vor Baine auf den Boden gespuckt hatte, trat er zurück.
Garrosh musterte den Tauren, und dann – Baine konnte es kaum glauben – fing er zu lachen an, ein zunächst tiefer, langsamer, grollender Laut der Belustigung, der dann aber zu einem lauten Wiehern anschwoll, das über das Wasser hallte. „Du dummer Ochse“, sagte er schließlich, noch immer prustend, während er sich Baine zuwandte. Sein ausgestreckter Arm deutete auf Theramore. „Der Moment unseres Sieges ist gekommen!“
Baine starrte ihn an. Hinter ihm fand Vol’jin als Erster die Stimme wieder. „Wovon bei all’n Geistern sprecht Ihr da? Wir hab’n verlor’n, mein Freund! Und nich’ nur verlor’n – es war ein Desaster!“
„Desaster“, wiederholte Garrosh, wobei er das Wort dehnte, als wollte er es sich auf der Zunge zergehen lassen. „Nein, da irrst du dich. Ihr seid alle so wütend gewesen, weil ich euch bei der Nordwacht warten ließ. Ihr habt geheime Treffen abgehalten. Und ihr habt euch beschwert, immer und immer und immer wieder. Ihr habt nicht auf meine Weisheit vertraut. Auf meine Pläne. Und jetzt, sagt mir, was hat meine Entscheidung zu warten uns gebracht?“
„Eine Niederlage.“ Runentotem spuckte das Wort aus, als wäre es Säure.
Noch einmal lachte Garrosh dieses unerklärliche und unpassende Lachen, das nur noch mehr Öl ins Feuer von Baines Zorn und Trauer schüttete. Erneut musste er an all jene denken, die er verloren hatte, ohne dass ihr Tod einem höheren Ziel gedient hätte, als Garrosh Höllschreis Selbstsucht zu befriedigen. Doch bevor Baine das aussprechen konnte, schwand der belustigte Ausdruck vom Gesicht des Orcs, und er richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
„Seht, was mit jenen geschieht, die es wagen, sich gegen den Willen des Kriegshäuptlings der Horde zu stellen!“
Wie um Baines Verwirrung noch zu vergrößern, schwenkte Höllschreis Arm herum, fort von Theramore und dem Hafen, wo die Wracks der versunkenen Hordeschiffe lagen. Stattdessen deutete er nun nach oben.
Erst jetzt fiel Baine das surrende, summende Geräusch auf. So überwältigt, wie er von seinem Schmerz und seiner Wut gewesen war, war ihm bislang gar nicht aufgefallen, dass er und die anderen gegen diesen Laut angebrüllt hatten. Doch nun kam das Geräusch näher, und Baine spürte, wie es seine Knochen zum Vibrieren brachte. Weit in der Ferne, jenseits des Hafens, flog etwas dahin und kam schnell näher. In den vergangenen Kriegen hätte man es sofort für einen Drachen gehalten, doch war es keiner – es war eine riesige Himmelsgaleone der Goblins, an deren Unterseite man einen großen, runden Gegenstand befestigt hatte. So unerwartet war dieser Anblick, dass es ein paar Augenblicke dauerte, bis Baine überhaupt erkannte, was er da eigentlich anstarrte.
Doch dann begriff er, und seine Augen weiteten sich vor Grauen.
Inzwischen fuhr Garrosh mit seiner Ansprache fort, auch wenn er schreien musste, um überhaupt noch gehört zu werden. „Wir haben gewartet. Auf meinen Befehl hin haben wir gewartet. Wir haben gewartet, bis beinahe die vollständige Siebte Flotte im Hafen von Theramore einlief. Wir haben gewartet, bis die größten Generäle der Allianz – unter ihnen sogar Marcus Jonathan und Shandris Mondfeder – herbeieilten, um der armen Lady Jaina mit ihren besten Soldaten und ihren brillanten Strategien zur Seite zu stehen. Wir haben gewartet, bis Kalecgos vom blauen Drachenschwarm hierherkam und bis fünf Mitglieder der Kirin Tor einschließlich ihres Anführers Rhonin dazukamen. Schiffe und Soldaten, Magier und Generäle, alles in einer Stadt. Alles in Theramore. Wir warfen uns gegen die Tore, die unser Freund Thalen Sangweber schon für uns geschwächt hatte – und seine Loyalität hat sich bezahlt gemacht. Während die Allianz ihre ganze Aufmerksamkeit auf uns richtete, konnte eine kleine Gruppe unbemerkt in Theramore eindringen. Sie sollten dort gleich zweierlei Aufgaben erfüllen – zum einen Thalen befreien und zum anderen die Luftverteidigung der Allianz verkrüppeln. Und jetzt – ist die Zeit des Wartens endgültig vorbei!“
Kalec hatte das Gefühl, jede Rasse habe ihre eigene Art, die Gefallenen zu ehren. Manchmal diktierte die gnadenlose Notwendigkeit zwar, dass die Bedürfnisse der Lebenden Vorrang vor denen der Toten haben mussten, sodass man die Rituale verschob und die Verstorbenen auf eine oberflächlichere Form bestattete, als die Trauer der Hinterbliebenen es eigentlich gebot. Doch hier und heute gab es keinen Grund, aufgrund von Zweckmäßigkeit ein Massengrab auszuheben oder einen Scheiterhaufen zu errichten. Hier und jetzt war genug Zeit und ausreichend Platz, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Kalec half den Überlebenden der Schlacht von Theramore dabei, die zerschmetterten Körper vom Boden zu heben, sie zu identifizieren und auf Karren zu laden. Später sollten sie gebadet und in Eisenrüstungen gekleidet werden, welche die grausigen Schnitte in ihrem Fleisch verbargen. Und dann würde es eine formelle Zeremonie geben, bevor man die Toten schließlich auf dem Friedhof vor der Stadt zur letzten Ruhe bettete.
Der blaue Drache empfand gleichzeitig tiefe Melancholie und eine Art ernster Freude. Sie hatten den Angriff der Horde zurückgeschlagen. Er hatte überlebt, und Jaina ebenfalls. Es würde …
Plötzlich zog sich ihm das Herz in der Brust zusammen. Er blieb taumelnd stehen und musste sich an der Wand abstützen, um nicht den Körper des toten Soldaten fallen zu lassen, den er auf den Armen trug.
Während der Schlacht hatte die Präsenz der Fokussierenden Aura am Rande seines Bewusstseins geflackert. Er hatte befürchtet, sie wäre vielleicht der Horde in die Hände gefallen, doch dann war das Artefakt irgendwo im Süden zur Ruhe gekommen, und Kalec hatte beschlossen, ihm vorerst keine weitere Beachtung zu schenken. Stattdessen wollte er sich ganz auf den Kampf konzentrieren.
Nun bewegte sich die Iris wieder, rasend schnell.
Und sie bewegte sich nach Nordwesten. Auf Theramore zu.
Hastig, aber dennoch behutsam, legte Kalec den Leichnam, den er trug, auf den Karren, dann rannte er los, um Jaina zu suchen.
Sie kümmerte sich um die Verletzten, deren Wunden noch nicht behandelt worden waren, und Kalecgos fand sie auf dem Platz gegenüber der Zitadelle, wo früher einmal Rekruten mit ihren Ausbildern den Kampf geübt hatten. Jaina schritt zwischen den Liegenden herum und brachte einige von ihnen durch Portale in Sicherheit. Mehrere Soldaten, die auf dieselbe Weise hierhergelangt waren – sie gehörten jedenfalls ganz augenscheinlich nicht zu den Wachen von Theramore – halfen ihr bei dieser Aufgabe. Wohin man die Verwundeten brachte, wusste Kalec nicht; vielleicht nach Sturmwind oder nach Eisenschmiede – jede große Stadt, die tiefer im Territorium der Allianz lag, wäre ein sicherer Ort als Theramore.
Doch noch während er auf sie zueilte, schien etwas fehlzugehen. Das Portal erschien zwar, brach aber noch im selben Augenblick wieder in sich zusammen. Jaina runzelte die Stirn, sodass wieder jene kleine Falte zwischen ihre Brauen trat, die so charakteristisch für sie war. „Irgendetwas blockiert die Portale“, hörte er sie zu einem ihrer Assistenten sagen.
Schließlich wandte sie sich mit müdem, aber lächelndem Gesicht zu Kalec herum und streckte ihm die Hand entgegen. „Kalec, was ist los? Stimmt etwas nicht?“
„Die Fokussierende Iris“, antwortete er. „Sie ist auf dem Weg hierher. Jetzt in diesem Moment.“ Er spürte, wie Furcht seine Kehle zuzuschnüren drohte, schluckte sie jedoch hinunter.
„Aber wie kann das sein? Hat die Horde die Iris? Das ergibt keinen Sinn, Kalec. Falls sie das Artefakt gestohlen haben, warum haben sie es dann nicht gleich gegen uns eingesetzt?“
Er schüttelte den Kopf, sodass seine blauschwarzen Locken wild hin und her wirbelten. „Ich weiß es nicht“, gestand er, und in diesem Moment wurde ihm klar, dass seine Furcht genau daher rührte. Weil er nicht wusste, nicht verstand, warum.
Die Falte grub sich tiefer in Jainas Stirn. „Vielleicht ist das der Grund, warum die Portale nicht mehr funktionieren“, überlegte sie, dann wandte sie sich an ihre Freunde. „Vielleicht verursacht die Fokussierende Iris Störungen – oder die Horde hat einen anderen Weg gefunden, die Portale zu beeinflussen, einen Trick, den wir nicht kennen. Bitte … geht und sucht Rhonin! Bringt ihn her! Vielleicht können wir ein Portal trotz dieses störenden Feldes gemeinsam lange genug offen halten.“
Sie nickten und eilten davon, während Jaina sich wieder Kalecgos zuwandte. „Wo ist sie jetzt?“
„Ich kann sie nicht genau orten. Aber sie kommt näher. Ich muss sie finden. Falls die Horde sie als Waffe einsetzt …“ Er brachte es nicht über sich, den Satz zu beenden. Mehr als alles andere wollte er Jaina in diesem Moment in seine Arme schließen und sie küssen. Aber er verbot sich, dieses Risiko einzugehen.
Er wagte es nicht einmal, ihr einen Abschiedskuss zu geben.
Jaina kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, was gleich geschehen würde. Und so machte sie hastig ein paar Schritte zurück. Eilends, aber auf die Sicherheit der Verwundeten bedacht, die ringsum auf dem Boden lagen, verwandelte er sich in seine Drachenform und schnellte in den Himmel empor. Nach einem fast senkrechten Steigflug drehte er sich dem Hafen zu – und der Fokussierenden Iris.
Er konnte nur hoffen, dass es nicht zu spät war.
Rhonin half gerade bei der Suche nach Überlebenden und durchkämmte die Trümmer, die einmal die Burg gewesen waren, in der er, Jaina und die anderen ihre Strategie für die Schlacht ausgearbeitet hatten. Mit einem Ohr lauschte er den Worten der fünf Gestalten, die Jaina geschickt hatte, und während sie ihm mit zunehmender Panik Bericht erstatteten, setzte er in seinem Kopf die Teile des Puzzles zusammen. Falls Kalec das Nahen der Fokussierenden Iris spürte, waren sie in größerer Gefahr, als er bislang geahnt hatte. Rhonin zweifelte nicht daran, dass Garrosh und die anderen einen Weg gefunden hatten, sie alle zu überrumpeln – einschließlich Kalecgos, und ja, auch einschließlich seiner selbst. Es war also doch die Horde gewesen, die das Artefakt gestohlen hatte, und sobald Garrosh die unglaubliche Macht der Iris erst fest in seinen Händen hielte, gäbe es sprichwörtlich nichts, was er nicht damit tun könnte.
Ein Geräusch lenkte ihn von seinen Gedanken ab; zunächst war es noch leise, doch dann nahm es rasch an Lautstärke zu – ein surrendes, hackendes, mechanisches Geräusch. Rhonin hob den Kopf, und einen Augenblick lang blieb sein Herz stehen.
Eine Himmelsgaleone der Goblins kam aus dem Südosten auf die Stadt zu. Ihre unverwechselbare Silhouette verriet das Luftschiff, doch außerdem sah es aus, als wäre etwas unter seinen Bug geschnallt, etwas, das sich nur nach und nach aus den Schatten hervorschälte. Doch dann änderte die Galeone ihren Kurs um ein paar Grad, und Rhonin sah diesen Gegenstand im nachmittäglichen Sonnenlicht aufblitzen.
Eine Manabombe.
Die Blutelfen hatten diese verteufelten Waffen ersonnen – Bomben, mit purer, arkaner Magie gefüllt, die in Sekundenschnelle töteten. Es gab sie in den verschiedensten Größen, aber Rhonin hatte bislang nur Modelle gesehen, die ungefähr so groß wie Menschen waren. Dieser Sprengkörper, der so zerbrechlich wirkte wie ein Glasfasergespinst, erstreckte sich hingegen fast unter der gesamten Länge der Galeone. Und falls er sich wirklich aus der Fokussierenden Iris speiste …
Vereesa …
Trotz des Grauens, das von ihm Besitz ergriffen hatte, spürte er einen Schauder der Erleichterung. Vereesa war schon längst nach Westen unterwegs, und noch hatten sie keine Nachricht erhalten, dass die Suchmannschaften umgekehrt waren. Sie befand sich also außerhalb des Sprengradius. Seine Frau war in Sicherheit.
Das hieß: je nachdem, wo die Horde die Bombe abwerfen würde.
Er wandte sich Jainas Boten zu, die noch immer auf seine Antwort warteten. „Ja, bitte sagt Lady Jaina, dass ich eine Art aktives Hemmfeld aufgespürt habe! Darum funktionieren die Portale nicht. Sagt ihr auch, dass ich sie im obersten Raum des Turmes erwarte! Und sie soll sich beeilen.“
Sie eilten davon, um seine Nachricht zu überbringen, und auch Rhonin zögerte nicht länger. Er rannte auf den vereinbarten Treffpunkt zu, während die Gedanken durch seinen Kopf rasten. Der Turm war durch allerlei Abwehrzauber geschützt worden, eine standhafte Festung, ideal, wenn ein solcher Angriff drohte. Es könnte funktionieren – aber viele, viele Faktoren mussten da zusammenspielen.
Nun, dachte Rhonin, dann würde er eben dafür sorgen müssen, dass sie es auch taten.
Eine Manabombe!
Kalecs Gedanken überschlugen sich, als er erkannte, wobei es sich bei dieser so trügerisch harmlos wirkenden Kugel tatsächlich handelte. Dafür hatten die Diebe der Horde die Iris also gestohlen! Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass man eine so gewaltige Bombe bauen könnte. Wenn sie explodierte, würde Theramore förmlich dem Erdboden gleichgemacht werden.
Es sei denn, sie explodierte noch in der Luft …
Natürlich war das ein Selbstmordunternehmen, und einen kurzen Moment lang spürte Kalec einen scharfen stechenden Schmerz, als er sich vorstellte, dass er niemals wieder die anderen blauen Drachen sehen würde, allen voran Kirygosa, die er so liebgewonnen hatte; und auch Jaina Prachtmeer würde er nicht wieder zu Gesicht bekommen. Doch nur durch dieses Manöver konnte er Jaina und ihr Volk noch retten. Falls sein Leben der Preis für das ihre war, dann war es eigentlich gar keine so schwere Entscheidung. Er hatte mit ansehen müssen, wie Anveena sich selbst opferte – er könnte es nicht ertragen, wenn noch jemand starb, den er liebte, obwohl er etwas dagegen unternehmen konnte.
Er war ein Drache – doch das Luftschiff der Goblins würde vermutlich schwer bewaffnet sein, sowohl mit Magiern als auch mit herkömmlichen Waffen. Sein Angriff durfte also nicht nur auf bloßer Gewalt beruhen, sondern musste gut durchdacht sein. Ein paar wertvolle Sekunden schwebte er auf der Stelle und versuchte abzuschätzen, was ihm die Feinde entgegenschleudern würden, doch diese Denkpause wurde jäh unterbrochen, als drei Kanonen das Feuer auf ihn eröffneten.
Jaina war verwirrt und mehr als nur ein wenig aufgebracht, dass Rhonin ausgerechnet jetzt auf einem Treffen beharrte. Die Verwundeten, die eigentlich durch die Portale in Sicherheit gebracht werden sollten, waren doch noch hier – was wollte sie da im Innern des Turms? Dennoch taten sie und ihre Assistenten, worum der Erzmagier sie gebeten hatte, und rannten auf das Bauwerk zu. Rhonin wartete bereits an der Spitze des Turmes auf sie, und als sie eintraten, stieß er eines der mit Glasmalereien verzierten Fenster auf und deutete zum Himmel hinauf. Jaina keuchte.
„Ist das die Fokussierende Iris?“
„Ja“, bestätigte Rhonin. „Sie speist die größte Manabombe, die je erbaut wurde. Darum haben sie dieses Hemmfeld über Theramore geworfen – damit niemand entkommen kann.“ Er drehte sich zu ihr herum. „Ich kann die Energie der Bombe umleiten. Aber zunächst müsst Ihr mir helfen – ich schaffe es, das Hemmfeld lange genug zurückzudrängen, um diese Leute in Sicherheit zu bringen.“
Jaina ließ den Blick über ihre unerschütterlichen Begleiter schweifen. „Worauf warten wir dann noch?“
Rhonin murmelte eine Beschwörung, und seine Finger flatterten, während er sich konzentrierte. Anschließend nickte er Jaina zu. Sie stimmte den Zauber an, der das Portal öffnete, aber was sie darin sah, verwirrte sie. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Verwundeten direkt nach Sturmwind zu transportieren, doch statt wie erwartet die große Stadt aus Stein zu erblicken, gab es da nur eine Insel auf der anderen Seite. Sie war kaum mehr als ein großer Felsen, wie sie das Große Meer zu Dutzenden sprenkelten. Überrascht drehte sie sich zu Rhonin herum.
„Warum leitet Ihr mein Portal um?“
„Das verbraucht … weniger Energie“, ächzte der Magier. Schweißtropfen standen auf seiner Haut und klebten ihm das rote Haar an die Stirn.
Seine Argumentation ergab keinerlei Sinn, aber als sie den Mund öffnete, schnappte er: „Diskutiert jetzt nicht mit mir! Geht – geht einfach hindurch! Ihr alle!“
Jainas Begleiter gehorchten und rannten durch das wirbelnde Portal, doch Jaina zögerte noch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum war er …
„Ihr könnt die Bombe nicht entschärfen! Ihr wollt hier sterben!“
„Haltet den Mund! Und geht durch das Portal! Ich muss die Galeone hierherziehen, genau hierher, um Vereesa und Shandris zu retten, und … so viele andere, wie ich nur kann. Die Mauern dieses Turmes sind mit Magie durchtränkt. Ich sollte die Explosion eindämmen können. Seid nicht dumm, Jaina! Geht doch!“
Voller Grauen starrte sie ihn an. „Nein! Ich kann nicht zulassen, dass Ihr das tut! Ihr habt eine Familie. Ihr seid der Anführer der Kirin Tor!“
Seine Augen, die er geschlossen hatte, um sich besser zu konzentrieren, klappten bei diesen Worten auf, und er starrte sie gleichermaßen wütend wie bittend an. Sein Körper zitterte unter der Anstrengung, das Portal offen zu halten und das Hemmfeld zu blockieren.
„Und Ihr seid die Zukunft der Kirin Tor!“
„Nein! Das bin ich nicht! Theramore ist meine Stadt. Ich muss hierbleiben und sie verteidigen!“
„Jaina, falls Ihr nicht bald durch das Portal schreitet, werden wir beide sterben. Dann werden meine Bemühungen, diese verfluchte Bombe hierherzuziehen, damit sie nicht im Herzen der Stadt detoniert, umsonst gewesen sein. Ist es das, was Ihr wollt? Ist es das, ja?“
Natürlich nicht. Doch sie konnte nicht danebenstehen und zulassen, dass er sich für sie opferte. „Ich werde Euch hier nicht allein lassen!“, rief sie, wirbelte dann herum und sah zu der Bombe hinüber. „Vielleicht können wir gemeinsam die Explosion verhindern!“ Sie musste schreien, um sich über den Lärm der Himmelsgaleone verständlich zu machen. Sie kam immer näher, und wie Jaina nun entdeckte, schwirrten mehrere kleine fliegende Gestalten um das Luftschiff herum.
Und eine große.
Kalec!
Sofort faltete Kalec die Schwingen zusammen und ließ sich wie ein Stein fallen. Dennoch verfehlten ihn die Kanonenkugeln nur knapp. Rasch schlug er wieder mit den Flügeln und schraubte sich von unten auf die Galeone zu, seine Augen fest auf die Manabombe fixiert. Er riss den Rachen auf, um das Ding einzufrieren und es dann zu zerschmettern. Die folgende Explosion würde ihn natürlich töten, ebenso wie die Goblins, die den Sprengkörper transportieren. Doch das wenige an Restenergie, das sich dann noch über Theramore ergießen könnte, richtete gewiss nur leichten Schaden an. Die Stadt – und Jaina – würden überleben.
Da durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz. Er hielt inne und wirbelte herum, seinem Widersacher entgegen. Es war ein Verlassener auf einer riesigen Fledermaus. Seine Stangenwaffe hatte Kalec dort getroffen, wo sein Vorderbein vom Körper abknickte – eine der wenigen Stellen, wo sein Leib nicht durch dicke Schuppen geschützt war. Die Waffe hatte sich tief ins Fleisch des Drachen gebohrt. Als er sich so abrupt herumgedreht hatte, hatte er dem Verlassenen die Waffe aus der Hand gerissen, und nun folgte Kalecs Vergeltung in Gestalt eines instinktiven Schwanzschlages, der die Fledermaus samt ihrem Reiter vom Himmel fegte.
Die Galeone war inzwischen tiefer gegangen, sodass ihn die nach oben gerichteten Kanonen wieder im Visier hatten. Kalec versuchte noch, zur Seite wegzutauchen, aber da wurde er plötzlich von Dutzenden Windreitern attackiert. Einen Augenblick später erklang auch schon lauter Donner, und diesmal konnte der Drache den Kanonenkugeln nicht ausweichen.
Jaina schrie auf, als sie sah, wie Kalecgos vom Himmel fiel. Im selben Moment warf die Galeone ihre Fracht ab.
Sie würde niemals mit Gewissheit sagen können, was anschließend wirklich geschah. Sie spürte, dass man sie auf das noch immer wirbelnde Portal zuschob und -zerrte, registrierte, dass sie protestierend schrie und sich zu befreien versuchte. Und als sie dann den Hals streckte, um über die Schulter zu blicken, da sah sie die Hölle.
Die Welt wurde ganz und gar weiß, der Turm explodierte, und Rhonins Körper, der hoch aufgerichtet vor ihr stand, die Arme ausgebreitet, während er seinem Schicksal trotzig entgegenblickte, verwandelte sich in eine violette Silhouette. Den Bruchteil eines Herzschlages schien er in dieser Haltung erstarrt, dann explodierte er in einer Wolke azurblauer Asche. Als das Wabern des Portals sie umschloss und sie immer weiter und weiter fortgezerrt wurde, konnte sie auch die violette Sturmflut arkaner Energie sehen, die über Theramore hinwegbrandete. Schreie, ausgestoßen infolge eines umfassenden, endlosen Grauens, marterten ihre Ohren, und danach – konnte sie sich an nichts mehr erinnern.