15

Nichts. Er hatte einfach kein Glück. Die Fokussierende Iris setzte ihren Zickzackkurs quer durch Kalimdor fort, als wenn sie von einem Wahnsinnigen gesteuert würde. Zudem trübten gewisse Gefühle Kalecgos Sinne während der Suche: Sorge, Furcht, Verzweiflung, Zorn und – am schlimmsten von allen – ein schreckliches, nagendes Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit.

Normalerweise war er für die Arroganz, die so viele Drachen an den Tag legten, ganz besonders die des blauen Schwarms, nicht anfällig. Doch er war nun einmal ein blauer Drache, und, mehr noch, der frühere Aspekt der blauen Drachen. Die Fokussierende Iris gehörte ihnen. Wie konnte es jemandem gelingen, einen so mächtigen Gegenstand erst zu stehlen und ihn dann auch noch so gut vor seinem Zugriff zu schützen?

Warum fühlte er außerdem diesen Wunsch, nach Theramore zurückzufliegen und die Stadt gegen den bevorstehenden Ansturm zu verteidigen, anstatt seine Suche weiter fortzusetzen? Nun, zumindest die Antwort auf diese Frage war einfach. Aber er weigerte sich dennoch, sie hinzunehmen. Frustriert peitschte er die Luft mit seinem Schwanz, dann ging er in einen fast senkrechten Sturzflug, vollführte eine Rolle und wandte sich wieder gen Osten.

Die Horde blieb noch immer, wo sie war: eine gewaltige Ansammlung kleiner, tatenlos herumsitzender und -stehender Gestalten, umgeben von winzigen Kriegsmaschinen. Selbst jetzt, am Tage, konnte Kalec die kleinen, glühenden Punkte erkennen, die auf Lagerfeuer hindeuteten.

War die Armee … größer als zuvor? Hatte Garrosh den Angriff darum so lange hinausgezögert – um seinem Heer weitere Truppen einzuverleiben? Oder waren seine Kämpfer jetzt nur weiter verteilt?

Die Erkenntnis kam so plötzlich wie ein Blitzschlag, und der Donner, der ihm folgte, war das Gefühl, endlich zu wissen, was er tun sollte. Er schlug mit seinen gewaltigen Flügeln, einmal, zweimal, dreimal, dann wandte er seine sehnige, azurfarbene Gestalt um und sauste zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.

Die Fokussierende Iris war natürlich auch weiterhin sein Hauptziel. Sollten die Diebe das Artefakt für einen zerstörerischen Zweck einsetzen wollen, könnten sie der Welt unbeschreiblichen Schaden zufügen. Doch im Augenblick konnte die Iris nicht benutzt werden, und solange sie weiter wie irr kreuz und quer durchs Land getragen wurde, sollte das auch so bleiben. Sie war eine gewaltige Gefahr, gewiss, aber keine unmittelbare.

Die Horde hingegen schon.

Ihm war klar, dass er seine Prioritäten eigentlich anders hätte setzen müssen. Kein anderer Drache aus dem blauen Schwarm hätte dieselbe Entscheidung getroffen.

Doch Kalecgos war nun einmal kein anderer Drache. Mit jedem Schlag seiner mächtigen Flügel pochte sein Herz leichter.


Sie hatten sich zur Planung zurückgezogen und sich ganze viereinhalb Stunden Karten, Miniaturen, belegten Broten und teilweise hitzigen Diskussionen gewidmet, bevor Marcus Jonathan schließlich eine Pause vorschlug.

Jaina stellte sicher, dass sie diese wertvollen Minuten der Erholung alle allein und in Ruhe verbringen konnten. Sie hatte das Gefühl, als würden sie schon viel zu lange von einer Krise direkt in die nächste schlittern, in Situationen hinein, wo alle ihrer Aufmerksamkeit bedurften, ihrer Ratschläge, ihrer Fähigkeiten, ihres Wissens. Zuletzt war es die Suche nach der Fokussierenden Iris gewesen – eine Suche, an die sie zurzeit nicht allzu viel denken wollte, denn sie kämpfte mit der wachsenden Furcht, dass sie erfolglos bleiben könnte und nicht einmal ein einstiger Aspekt der blauen Drachen den Dieben rechtzeitig auf die Spur kommen mochte. Und nun das – die Horde zerstörte die Feste Nordwacht und wandte ihre Augen anschließend auf Jainas Stadt.

Als junge Frau war sie nie sonderlich gesellig gewesen; sie hatte das Vergnügen, allein in einer stillen Ecke über Büchern und Schriftrollen zu sitzen, der lebhaften Hektik von Bällen oder Feiern vorgezogen, und auch jetzt – als Erwachsene – hatte sich nicht viel an dieser Einstellung geändert. Als wichtige Diplomatin hatte sie sich zwar daran gewöhnt, zahllosen offiziellen Pflichten nachzukommen, am liebsten verhandelte sie aber unter vier Augen, von Angesicht zu Angesicht, sofern das möglich war. Zudem sehnte sie den Moment herbei, da die Verhandlungen abgeschlossen und die Verträge unterzeichnet wären, da sie dann nach Hause zurückkehren konnte, in das vergleichsweise isolierte Theramore, wo die Dinge einen viel langsameren Gang gingen. Nun war Theramore allerdings von mehr hektischer Aktivität erfüllt, als Jaina je bei einem ihrer Besuche in Lordaeron erlebt hatte. Auf den Straßen drängten sich Männer und Frauen, die Autorität und Entschlossenheit ausstrahlten. Die Einsamkeit von Jainas Refugium war zerschmettert wie ein kaputter Spiegel, in dessen gezackten Scherben sich nur noch Chaos und Eile spiegelten.

Nicht jeder hier in Theramore mochte den durchdringenden Geruch des nahen Sumpfes, aber als sie nun nach draußen trat und tief die Luft in ihre Lungen sog, musste Jaina lächeln. Mitnichten war das der angenehme Duft von Apfelblüten, wie sie ihn noch aus dem Dalaran ihrer Kindheit kannte, und auch nicht der saubere Piniengeruch, der Lordaeron erfüllte. Doch für sie war es der Duft der Heimat.

Ein Schatten fiel auf sie, und als sie den Kopf hob und die Augen abschirmte, sah sie, dass ein kleiner Umriss die Sonne aussperrte. Er kreiste über ihr, und während er sich tiefer und tiefer senkte, wurde er größer und größer. Jainas Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren Lächeln, und sie winkte Kalecgos zu.

Nachdem all die Truppen in der Stadt angekommen waren, gab es nun nicht mehr sehr viele Plätze, wo er landen konnte, und sie folgte ihm mit den Augen, als er in Richtung der Schreckensmoorküste abdrehte und zu dem sandigen Strand dort hinüberflog. Sie machte sich auf den Weg zu den Toren – die nun verschlossen und zu jeder Tages- und Nachtzeit bewacht waren – und winkte den Soldaten ungeduldig zu, den Riegel zurückzuschieben. Anschließend eilte sie über die Hügel zur Küste, wobei sie den vielen, langsam dahinkriechenden Schildkröten auswich, die hier an Land kamen oder sich wieder ins Meer zurückschoben.

Der Sandstreifen war eigentlich zu schmal, um ihn wirklich als Strand zu bezeichnen, doch bot er Kalecgos genügend Platz, um vorsichtig zu landen. Und noch während ihm Jaina entgegenhastete, verwandelte er sich in seine Halbelfenform. Als sie ihn fast erreicht hatte, verlangsamte sie ihre Schritte, und plötzlich erkannte sie, wie impulsiv und mädchenhaft es von ihr gewesen war loszurennen. Für eine Frau in ihrem Alter und ihrer Position geziemte sich so etwas nicht. Ihre Wangen glühten, aber ob nun aus Scham oder Erschöpfung, das konnte sie nicht sagen.

Als er sie sah, hellte ein Lächeln sein attraktives Gesicht auf, und sie fühlte neue Hoffnung, während sie seine ausgestreckten Hände umfasste. „Habt Ihr sie inzwischen gefunden?“

Kalecs Lächeln wurde schmaler. „Leider nicht. Sie bewegt sich noch immer viel zu willkürlich, als dass ich ihr wirklich näher kommen könnte.“

Mitfühlend rang sie die Hände. „Das tut mir leid“, flüsterte sie. „Für uns alle.“

„Mir ebenfalls. Aber sagt … warum wirkt Ihr so besorgt? Machen die Gespräche keine Fortschritte? Ich dachte, bei so vielen weisen Beratern müsstet Ihr schon längst einen Plan ausgearbeitet haben, um die Horde so vernichtend zu schlagen, dass ihre Krieger nach Hause zu ihren Müttern rennen, um in Zukunft nur noch zu stricken und sich um kleine Kätzchen zu kümmern.“

Diese Bemerkung ließ sie auflachen. „Wir können in der Tat von Glück reden, dass so viele erfahrene Krieger an unserer Seite stehen. Aber … vielleicht erweist sich genau das als Problem.“

Kalec blickte über ihre Schulter zu den Toren von Theramore. „Müsst Ihr sofort zurück?“

„Ein wenig Zeit kann ich entbehren.“

Er drückte ihre Hände, dann ließ er eine von ihnen los, aber die andere hielt er weiter in der seinen, während er mit einem Wink vorschlug, ein wenig am Strand entlangzuspazieren. „Sagt mir, was Euch bedrückt“, forderte er sie auf.

„Sie sind … sehr kriegerisch.“

„Schließlich sind es Generäle.“

Verzweifelt hob sie den Arm, gleichzeitig fragte sie sich aber, warum sie noch immer Kalecs Hand hielt, während sie über den Sand schritten. „Natürlich, aber – es ist nicht so, als wäre dieser Krieg unausweichlich. Für viele von ihnen ist das eine persönliche Angelegenheit. Ich weiß, auch damit hätte ich rechnen müssen, aber … Ihr kennt meine Geschichte, Kalec. Ich habe meinen Vater und meinen Bruder an die Horde verloren. Falls irgendjemand Grund hat, verbittert und hasserfüllt zu sein, dann bin ich es. Dennoch habe ich mich entschieden, nicht diesem Pfad zu folgen, sondern nach Frieden zu streben. Und wenn ich höre, wie einige von ihnen über die Horde sprechen – mit beleidigenden, grausamen Worten –, dann fühle ich nichts als Bedauern. Ja, ich möchte meine Heimat verteidigen, und ebenso möchte ich die Horde zurückdrängen, damit sie nicht länger eine unmittelbare Bedrohung darstellt. Aber ich – ich möchte sie nicht ausweiden oder ihre Köpfe auf Piken spießen!“

„Niemand könnte es Euch übel nehmen, falls Ihr es doch tätet“, meinte Kalec.

„Aber ich habe keine solchen Gedanken! Ich will nicht …“ Sie verstummte kurz, suchte nach den richtigen Worten. „Mein Vater wollte nicht einfach nur gewinnen. Er hasste die Orcs. Er wollte sie vernichten. Sie vom Angesicht von Azeroth tilgen. Und einige dieser Generäle empfinden genauso wie er!“ Sie konnte sein Gesicht nur von der Seite sehen. Seine Züge waren so glatt und ebenmäßig, als hätte ein Künstler sie mit ein paar vollendeten Strichen seines Stiftes gezeichnet, aber seine Stirn furchte sich, als er ihren Worten lauschte, und seine Augen blieben auf den Boden gerichtet, damit keiner von ihnen über eine Schildkröte stolperte. Schließlich spürte er Jainas Blick auf sich, und er drehte den Kopf zu ihr herum. Sie hatte noch gar nicht bemerkt, wie unglaublich blau diese Augen tatsächlich waren.

„Ihr habt sie sehr geliebt“, bemerkte er leise. „Euren Vater Daelin und Euren Bruder Derek.“

„Natürlich“, entgegnete Jaina, aber plötzlich konnte sie nicht mehr in diese gütigen blauen Augen sehen. Also starrte sie auf ihre Stiefel hinab, die sich einen Weg durch Sand und Treibholz bahnten. „Ich habe mich … schuldig gefühlt, als sie starben.“

„Euer Vater ist durch die Hand eines Orcs gestorben, dennoch wurdet Ihr und Thrall später gute Freunde. Und was Euren Bruder betrifft“, erklärte er, wobei seine Stimme weicher wurde. „Er ist von den roten Drachen getötet worden, auf denen die Orcs ritten.“

„Und jetzt bin ich mit einem Drachen befreundet, ich weiß“, sagte Jaina, um dem Augenblick seine drückende Schwere zu nehmen. Kalec lächelte kurz, aber seine Augen blieben ernst.

„Und Ihr fragt Euch, was Euer Vater wohl von Euren Entscheidungen gehalten hätte“, fügte er hinzu. Jaina nickte, verblüfft darüber, wie gut er sie zu verstehen schien. „Glaubt Ihr, dass an seinen Überzeugungen etwas Richtiges war?“

„Nein“, antwortete sie und schüttelte das blonde Haupt. „Aber es ist schwer für mich, jetzt die gleichen hasserfüllten Phrasen zu hören. Es ist … wie ein Echo aus der Vergangenheit, und ich glaube, ich hatte nicht damit gerechnet, es zu vernehmen. Ich war jedenfalls nicht bereit dafür. Wie kann ich ihnen nur klarmachen, dass ihr Zorn und Schmerz der falsche Weg sind, zumal sie doch so vieles und so viele verloren haben?“

„Es sind nicht ihr Zorn und ihr Schmerz, die Euch Sorgen bereiten“, erwiderte Kalec. „Ihr hattet schon oft mit beidem zu ringen, das weiß jeder. Die Schlussfolgerung, die sie aus ihren Erfahrungen gezogen haben – das ist es, was Ihr ablehnt. Es ist nichts Falsches daran, eine andere Meinung zu vertreten. Aber glaubt Ihr, dass der Hass diese Heerführer in der Schlacht unberechenbar machen wird?“

Jaina dachte eine Weile über diese Frage nach, dann sagte sie: „Nein.“

„Und ich glaube, sie denken ebenso wenig, dass Euer Streben nach Frieden Euch beeinflussen könnte, wenn es um die Verteidigung Eurer Stadt geht.“

„Dann – ist das also alles bedeutungslos. Wie sie fühlen, und wie ich fühle?“

„Oh, es ist alles andere als bedeutungslos. Aber Ihr seid Euch alle darin einig, dass Theramore nicht fallen darf. Und im Augenblick ist dies das Wichtigste.“

Da war etwas an der Art, wie er das sagte, das sie innehalten ließ, eine Dringlichkeit, die nichts mit dem Thema ihrer Unterhaltung zu tun hatte. Fragend blickte sie zu ihm hoch. „Kalec … ich weiß, es ist von größter Bedeutung, dass Ihr die Fokussierende Iris wiederfindet. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte nicht damit gerechnet, dass Ihr noch einmal zurückkehren würdet, auch nicht, nachdem Ihr sie gefunden hättet – dass Ihr überhaupt zurückkehren würdet. Also, warum seid Ihr wieder hier?“

Sie hatte gedacht, es wäre eine recht einfache Frage, doch Kalec schien von ihr überfordert. Er antwortete nicht sofort und blickte ihr auch nicht in die Augen, stattdessen wandte er den Kopf ab, als könnte er etwas sehen, das ihr verborgen blieb. Jaina wartete geduldig, bis er sich ihr schließlich wieder zuwandte und nach Ihren Händen griff.

„Auch ich musste eine Entscheidung treffen. Ich hätte weiter der Fokussierenden Iris folgen können, in der vermutlich unbegründeten Hoffnung, sie werde in nächster Zeit an einer Stelle bleiben. Oder ich konnte hierher zurückkehren, um Euch zu sagen, dass ich bereit bin, meinen Teil zur Verteidigung von Theramore beizutragen.“

Ihre Lippen teilten sich, aber es dauerte einen Moment, bis die Worte ihren Mund verließen. „Kalec … das ist äußerst ehrenhaft von Euch, aber – Eure Sorgen sollten nicht dieser Krise gelten. Ihr müsst die Fokussierende Iris finden.“

„Glaubt nicht, dass ich die Pflicht meinem Schwarm gegenüber vergessen hätte“, entgegnete er. „Ich werde meine Suche bis zum letzten Moment fortsetzen – aber wenn dieser Moment gekommen ist und Ihr, Jaina Prachtmeer, als die mächtige Magierin, die Ihr seid, einen blauen Drachen an Eurer Seite haben wollt … dann werde ich Euch in der Schlacht beistehen.“

Eine Woge der Dankbarkeit und neuen Hoffnung überwältigte Jaina und raubte ihr einen Augenblick lang ihre Kraft, sodass sie sich an Kalecs Händen festhalten musste. Er blickte weiter zu ihr hinab, aber sie wusste nicht, wie sie ihren Dank in Worte fassen sollte. Eine Freude erfüllte ihr Herz, die sich so anfühlte, als sollte sie ihr eigentlich vertraut sein. Rasch verscheuchte sie diesen Gedanken. Kalecgos war der Anführer des blauen Drachenschwarms, und während ihrer Gespräche hatte sie erfahren, dass er keineswegs ein typischer Drache war, wie er es selbst mehrmals genannt hatte. Sein Verhalten ihr gegenüber offenbarte gewiss nur sein lebhaftes Interesse an den Angelegenheiten der jüngeren Rassen. Dass mehr dahintersteckte, war eine Hoffnung, der sie sich nicht hingeben durfte. Sie war noch nie besonders geschickt darin gewesen, die Gefühle eines Mannes abzuschätzen. Aber … warum hielt er dann weiter ihre Hand? Seine Finger waren warm und stark, als sie schützend über den ihren lagen.

„Theramore und die Allianz werden Euch auf ewig dankbar sein“, brachte sie schließlich hervor, ohne ihm dabei aber in die Augen zu sehen.

Er schob den Zeigefinger unter ihr spitzes Kinn und drückte ihren Kopf hoch, so hoch, dass sie seinem Blick nicht länger ausweichen konnte.

„Ich tue das nicht für die Allianz und auch nicht für Theramore“, erklärte er mit sanfter Stimme. „Sondern für die Lady von Theramore.“ Anschließend trat er rasch einen Schritt nach hinten, so als fürchtete er, er könnte zu viel gesagt haben. „Ich muss meine Suche fortsetzen, aber ich werde niemals weit von hier entfernt sein“, erklärte er, nun wieder viel sachlicher. „Bevor die Horde hier eintrifft, werde ich zurückkehren. Das verspreche ich Euch.“

Er drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche, dann trat er mehrere Meter nach hinten, um sich erneut in seine Drachengestalt zu verwandeln. Einmal mehr ein blauer Riese, senkte er in einer höflichen Drachenverbeugung den Kopf, fast bis auf den Boden vor Jainas Füßen hinab. Dann schnellte er dem Himmel entgegen.

Jaina blickte ihm nach und legte langsam die Finger über ihre Handfläche, so als könnte sie damit den Kuss festhalten, den sie noch immer auf ihrer Haut spürte.


Zu guter Letzt erhielten sie ihre Befehle.

Die Horde sollte sich zum Aufbruch bereit machen.

Zelte, die zu lange schon von ungeduldigen Kriegern bewohnt worden waren, wurden rasch und mit Feuereifer abgebaut. Waffen, endlos geschärft und neu gefiedert, um sich die Lageweile und Rastlosigkeit der erzwungenen Untätigkeit zu vertreiben, wurden in Köcher und Scheiden gesteckt oder auf andere Weise verstaut, bis sie Allianzblut kosten würden. Rüstungen, die im roten Licht der Morgendämmerung glänzten, mit Öl eingerieben, damit sie geschmeidig blieben, wurden übergestreift. Und dann setzte sich die Horde in Bewegung.

Wie wilde Tiere an einer Leine schienen sich die ersten Divisionen darum zu streiten, wer die Führung übernehmen durfte, aber Garrosh hatte mit diesem Übereifer schon gerechnet. Die Kor’kron unter dem Kommando von Malkorok ritten mit ihren großen schwarzen Wölfen zwischen den einzelnen Gruppen dahin, im Schlepptau einige Trommler, die allmählich einen gleichmäßigen Marschrhythmus vorgaben. Daraufhin beruhigte sich das erwartungsvolle Durcheinander der Truppen Stück für Stück, und die Fraktionen nahmen ihre Stellungen ein – zuerst die Orcs, dann die Tauren, Trolle, Verlassenen und als Schlusslicht die Blutelfen, während die Goblins in kleineren Gruppen neben den furchterregenden Kriegsmaschinen dahinstapften – und nun in Gleichschritt fielen.

Die Erde schien unter all diesen stampfenden Füßen zu vibrieren, die dem donnernden Takt der Kriegstrommeln folgten – Trommeln, die in der Vergangenheit die Herzen der Feinde mit Furcht erfüllt hatten, lange bevor sie die Krieger auch nur zu Gesicht bekamen. Die Allianz sprach gerne von den Mitgliedern der Horde, als wären sie „Wilde“, damit man sich selbst „zivilisiert“ und deshalb überlegen fühlen konnte.

Doch welcher Zwerg, der sicher in seinen steinernen Hallen hockte, wusste schon, wie es war, sich an einem gefallenen Feind zu laben, so wie die Verlassenen es taten? Welcher Mensch konnte sich bei all seiner Selbstgefälligkeit so sehr im Kampfrausch verlieren, dass er erst Minuten nach dem Ende der Schlacht wieder zu sich kam, blinzelnd gegen das Blut in seinen Augen, die Stimme heiser wegen der mordlüsternen Kriegsschreie und zu seinen Füßen die Leichen seiner Feinde? Welcher kleine Gnom kannte schon die Freude, die Geister der Vorfahren zu sehen, die als spektrales Echo ihrer selbst an der Seite ihrer Söhne und Enkel in der Schlacht kämpften?

Keiner.

Dies war die Horde. Dies war ihr Ruhm. Der Boden vibrierte unter ihren nackten oder beschuhten Füßen, mit Zehen oder Hufen, während sie dahinmarschierten. Muskeln wölbten sich unter straffer grüner, blauer, brauner oder bleich rosafarbener Haut oder Fell; Mäuler und Münder wurden im Kriegsgesang aufgerissen. Speere und Schwerter, Bögen und Klingen waren gezückt, zum Angriff bereit.

Die gewaltige Woge rollte nach Süden, auf Theramore zu, Tausende Krieger stark, alle beseelt von nur einem Ziel.

Ehrenvoll und ruhmreich zu kämpfen und vielleicht auch zu sterben.

Für die Horde.


Es ergab keinen logischen Sinn, und Kalecgos war zu klug, um das nicht auch selbst zu erkennen. Aber dennoch erfüllte sein Abschied von Jaina den Drachen mit neuer Hoffnung. Die Überraschung und Freude auf ihrem Gesicht, als er ihre Hand geküsst hatte – er hatte nicht gewagt, weiter zu gehen, noch nicht –, ließ ihn die Welt mit völlig neuen Augen sehen. Er hatte von der Freude der Menschen gesprochen; aber jetzt erkannte er, dass auch er ein so starkes Glücksgefühl verspüren konnte.

Theramore würde sich gegen die Horde behaupten, das wusste er ganz einfach. Sie würden Garroshs Hochmut enthüllen, sodass auch die Horde ihn erkennen musste, und dann würden klügere Köpfe an den Verhandlungstisch treten – vielleicht Baine, oder Vol’jin –, auf dass ein neues Zeitalter beginnen konnte.

Alles war möglich, falls Jaina wirklich so fühlte wie er – und er wagte inzwischen zu hoffen, dass es tatsächlich so war.

Fast war es, als hätte seine neue, überschwängliche Zuversicht bewirkt, dass sich die bis dato so willkürlichen Bewegungen der Fokussierenden Iris plötzlich verlangsamten, wenngleich sie auch nicht völlig zum Stillstand kamen. Kalecgos hielt inne und schlug heftig mit seinen gewaltigen Flügeln, während er, in der Luft schwebend, seine durch Magie geschärften Sinne öffnete.

Das Artefakt war langsamer geworden, und … es hatte sich genähert. Näher war es, als er es je zuvor gespürt hatte. Da – es befand sich im Norden. Der Drache stürzte in die Tiefe, dann wirbelte er herum und raste mit einem wiedererstarkten Gefühl der Entschlossenheit in diese Richtung, der Spur der Iris folgend. Seine Augen waren fest auf den Boden gerichtet, und so dauerte es nicht lange, bis er mit einem Schrecken, so heftig wie ein Stromschlag, erkannte, dass er sich zu früh Hoffnungen auf einen Sieg gemacht hatte.

Die Horde war wieder in Bewegung.


„Sie sind beschwichtigt“, stellte Malkorok fest, während er neben seinem Kriegshäuptling dahinritt.

„Natürlich sind sie das“, erwiderte Garrosh, und sein stolzer Blick wanderte über die gewaltige Menge, die gleichmäßigen Schrittes gen Theramore marschierte. „Das sind Krieger. Es dürstet sie nach dem Blut der Allianz, und nun, nachdem ich sie eine Weile zurückgehalten habe, ist dieser Durst nur umso größer – und mein Plan umso sicherer.“ Er dachte an Baine und Vol’jin. Cairnes Tod hatte Garrosh eine wichtige Lektion erteilt, und wenngleich die Anführer der Tauren und Trolle ihn Mal um Mal zur Weißglut trieben, wusste er doch, dass es töricht wäre, einen der beiden zu einem Ritualkampf herauszufordern. Ihr Volk liebte und respektierte sie, und sowohl Baine als auch Vol’jin waren der Horde treu ergeben, wenn auch nicht unbedingt Garrosh persönlich. Bald schon würden sie ihren Irrtum einsehen und zugeben müssen, dass seine Taktik mehr als brillant gewesen war – und dass er mehr für die Horde bewirkt hatte als je ein Kriegshäuptling zuvor, einschließlich Thrall.

Ja, dann würden sie ihn ebenso ehren wie die Horde, und er würde seinen Großmut an ihnen demonstrieren, ebenso, wie er es bei Kapitän Briln getan hatte. Garrosh gestattete einem zufriedenen und durchaus auch selbstgefälligen Lächeln, seine Lippen zu verzerren.

Da ertönte plötzlich lautes Geschrei. Ringsum zeigten seine Krieger brüllend in den Himmel, und als Garrosh die Augen gegen das jetzt schon blendend grelle Sonnenlicht zusammenkniff, konnte auch er die schwarze Silhouette erkennen. Sie war lang und schlank und …

„Ein Drache!“, grollte er. „Holt ihn vom Himmel!“

Noch während er den Befehl brüllte, begannen die Windreiter mit ihrem Angriff. Die Horde verfügte nicht nur über Boden-, sondern auch über Lufttruppen, die neben den geliebten Wyvern der Orcs auch aus Fledermäusen, Drachenfalken und anderen Kreaturen bestanden, die die Horde gezähmt hatte, um ihre einzigartigen Fähigkeiten nutzen zu können. Der Drache ging tiefer, als die Angreifer auf ihn zurasten, und setzte zu einem ungleichmäßigen Zickzack an, um den langen Piken, Wurfspeeren und den Dutzenden von Pfeilen zu entgehen, die ihm entgegenflogen und ohne jeden Zweifel alle auf die empfindlichen Augen des Titanen zielten. Anschließend riss er den Rachen auf, und einer der Windreiter erstarrte, eingeschlossen in eine wie aus dem Nichts entstandene Hülle aus –

„Eis!“, rief Garrosh, warf den Kopf in den Nacken und lachte, obwohl der unglückselige Wyvern und sein Reiter wie ein Stein auf die Erde hinabstürzten. Dann klopfte er Malkorok auf den Rücken. „Eis!“, wiederholte er noch einmal. „Sieh nur, Malkorok, es ist ein blauer Drache, der uns angreift!“

Die Mitglieder der Horde um ihn herum wussten nicht, warum er lachte, nichtsdestotrotz regte sie das Geräusch an, und die Krieger auf dem Boden begannen nun, ihre fliegenden Kameraden anzuspornen, die in einem wilden Luftkampf um den Drachen herumrasten, so wie Spatzen um einen Falken herumflattern. Einige von ihnen spannten Ballisten und Katapulte und luden Kanonen, bevor sie die Waffen gen Himmel ausrichteten.

Garrosh war ganz aufgeregt vor Vergnügen, er ritt zwischen seinen Kriegern umher und brüllte ihnen ermutigende Worte zu. Er war es auch, der den Befehl gab, den ersten brennenden Bolzen abzufeuern, der beinahe senkrecht nach oben schoss. Sein Jubel übertönte den der anderen noch, als die Bewegungen des blauen Drachen plötzlich ungleichmäßiger wurden. Der Bolzen hatte sein Ziel getroffen.


Schmerz zuckte durch Kalecgos Körper. Er war so darauf konzentriert gewesen, der Spur der Fokussierenden Iris zu folgen, dass er blindlings in die Gefahr hineingeflogen war. Die Horde hatte schnell reagiert, und die Art, wie sie ihn nun angriff, erinnerte ihn in alarmierendem Maße an jene Schlacht, die vor gar nicht allzu langer Zeit am Wyrmruhtempel gewütet hatte.

Der lodernde Bolzen hatte eine schwarze Furche in seine Seite gebrannt; es war keine tödliche Verletzung, und sie holte ihn auch nicht vom Himmel, aber sie erinnerte ihn daran, dass er allein war. Und nicht einmal die Tatsache, dass er ein Drache war, änderte etwas an seinen Chancen. Falls er aus dem törichten Impuls heraus, kämpfen zu wollen, hierblieb, würden sie ihn besiegen, und tot wäre er Jaina wohl kaum eine große Hilfe. Davon abgesehen war die Fokussierende Iris zwar nahe, aber sie bewegte sich noch immer nach Norden, wohingegen die Truppen der Horde nach Süden marschierten. Seine schlimmste Furcht – dass die Horde das Artefakt gestohlen hatte – schien sich also nicht zu bestätigen, denn hätten sie einen solch mächtigen Gegenstand in ihrem Besitz, würden sie ihn mit sich nach Süden nehmen und in der bevorstehenden Schlacht gegen die verhasste Allianz einsetzen.

Er kämpfte gegen den beißenden Schmerz in seiner Seite an und schlug mit seinem Schwanz aus, woraufhin sich eine der Fledermäuse wild überschlug. Ihre Flügel peitschten die Luft, während sie darum kämpfte, nicht abzustürzen. Doch ihr Reiter fiel dem Boden – und damit seinem sicheren Ende – entgegen. Nicht einmal ein Verlassener würde einen solchen Aufprall überstehen.

Der Schlag seiner mächtigen Flügel trug Kalec schnell weiter, und schon bald war er sicher außerhalb der Reichweite der Waffen, mit denen die Horde vom Boden aus auf ihn zielte. Die Wyvern, Fledermäuse und Drachenfalken konnten mit diesem Tempo nicht mithalten und blieben ebenfalls hinter ihm zurück. Sobald er sicher sein konnte, dass er der unmittelbaren Gefahr entgangen war, streckte Kalec seinen langen, sehnigen Hals und zog die Klauen an, damit sein Körper dem Wind möglichst wenig Widerstand bot. Anschließend flog er direkt nach Süden, entschlossen, Theramore – und seine Lady – so frühzeitig wie nur möglich zu warnen, dass die Horde schon bald an ihr Tor pochen würde.

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