12

Jedes Mal, wenn Jaina nach Dalaran reiste, wurde sie aufs Neue daran erinnert, wie atemberaubend schön es hier war. Die tiefvioletten Türme streckten sich dem Himmel entgegen, wenngleich die Stadt selbst schon hoch über Nordrend schwebte, unberührt und nicht beeinflusst von den Problemen unten auf dem Boden. Die Straßen leuchteten, ihr rotes Kopfsteinpflaster war bar jeglichen Schmutzes, und die Einwohner, von denen die meisten ebenso unberührt und sorgenfrei blieben wie die Stadt selbst, schlenderten ungezwungen dahin. Hier konnte man Gegenstände kaufen, die man sonst nirgends sah, angeboten von Händlern, die sich auf das Seltene und Kuriose spezialisiert hatten; hier konnte man Zauber erlernen oder sich in leisen, friedlichen Hallen im Flüsterton die Geschichte von Azeroth erklären lassen.

Einst war Dalaran fester Bestandteil eines völlig anderen Kontinents gewesen, und die meisten von Jainas Erinnerungen an die Stadt stammten gerade aus jener Zeit. Damals war sie durch die Gärten gewandert und hatte Goldrindenäpfel, warm vom Kuss der Sonnenstrahlen, von den Bäumen gepflückt.

Doch dann war Arthas gekommen.

Er hatte Dalaran zwar zerstört, es aber nicht auslöschen können. Die Kirin Tor waren zurückgekehrt und hatten die Hauptstadt der Magier wieder aufgebaut, geschützt durch eine Kuppel violetter Magie, bis die Zeit gekommen war, da Dalaran erneut aufblühte, diesmal als schwebende Insel. In dieser Form war der Stadtstaat zu einem der Brennpunkte des Nexuskrieges gegen Malygos geworden, und auch im anschließenden Kampf gegen den Lichkönig hatte es eine Rolle gespielt. Dennoch musste man schon lange suchen, bevor man hier etwas entdeckte, was noch an dieses martialische Erbe erinnerte. Dalaran war am produktivsten und seine Bevölkerung am glücklichsten, wenn Wissen und Lernen im allgemeinen Fokus lagen.

Jaina selbst hatte hier ein Monument zum Andenken an Antonidas errichtet. Normalerweise besuchte sie „ihn“, wann immer sie in der Stadt war, und manchmal saß sie dann im Schatten der Statue dieses großen Mannes und sprach ihre Gedanken laut aus, als könnte er sie hören. Doch heute hatte ihre Mission Vorrang.

Sie materialisierte im Inneren der Violetten Zitadelle, und das erste Gesicht, das sie sah, war dasjenige Rhonins. Zwar begrüßte er sie mit einem Lächeln, doch seine Augen waren voller Sorgen.

„Willkommen, Lady Jaina“, sagte er. „Ihr kennt die anderen ja bereits.“

„In der Tat“, nickte Jaina. Neben ihm stand seine Ehefrau, die weißhaarige, wunderschöne Vereesa Windläufer, Gründerin des Silberbundes und Schwester von Sylvanas, die nun die Verlassenen anführte, und Alleria, welche in der Scherbenwelt verschollen war. Die Familie Windläufer hatte also mehr Tragödien als genug erleiden müssen, und dennoch schien Vereesa in ihrer Rolle als Frau eines großen Magiers und stolzer Mutter von zwei wundervollen Kindern Freude gefunden zu haben. Diese häuslichen Aufgaben hinderten die Hochelfin aber nicht daran, auch ins öffentliche Rampenlicht zu treten. Wie Jaina wusste, hatte Vereesa als Leiterin des Silberbundes öffentlich und erbittert dagegen protestiert, dass Blutelfen in die Reihen der Kirin Tor aufgenommen werden sollten.

Dass diese Bemühungen gescheitert waren, bewies die Gestalt zu Rhonins Linker: Erzmagier Aethas Sonnenhäscher, der Blutelf, der so hart darum gekämpft hatte, den Kirin Tor beitreten zu dürfen, ohne sich dabei von Vereesas Verbotsversuchen abschrecken zu lassen. Der vierte Anwesende war eine Menschenfrau, die, ihrem schneeweißen Haar zum Trotz, aussah, als könnte sie es in einem Kampf mit ihnen allen aufnehmen – und auch noch gewinnen. Erzmagierin Modera nahm einen ganz besonderen Platz im Kreis der Kirin Tor ein, saß sie doch schon seit dem Zweiten Krieg – und damit länger als jeder andere – im hohen Rat der Magier, dem Rat der Sechs.

Zum Gruß nickte Jaina ihnen allen respektvoll zu, bevor sie sich wieder an Rhonin wandte. Er machte einen Schritt nach hinten und bewegte seine Hände mit der Ungezwungenheit einer Person, die daran gewöhnt ist, Zauber zu wirken. Ein Portal erschien, und Jaina runzelte die Stirn. Normalerweise konnte man genau erkennen, an welchen Ort man teleportiert wurde, aber dieses Portal schien nicht in einen Raum zu führen – oder an irgendeinen anderen Ort an Land –, sondern einfach nur in die leere Luft hinein. Sie warf Rhonin einen fragenden Blick zu.

„Die übrigen Mitglieder der Sechs haben sich dort bereits versammelt“, erklärte er, ohne ihre wortlose Frage zu beantworten. „Lassen wir sie nicht noch länger warten, in Ordnung?“

Jaina vertraute ihm bedingungslos, und so ging sie durch das Portal.

Der Boden, auf den sie hinaustrat, bestand dankenswerterweise doch aus festem Stein, der von schlichtem Grau war, verziert mit einem Diamantmuster. Aber das schien auch alles zu sein, was wirklich feste Form hatte. Über ihr und ringsum sah sie einen sich beständig verändernden Himmel. Jetzt gerade war er von einem hellen Blau, durchzogen von träge dahinziehenden Wolken. Aber nur einen Herzschlag später erschienen plötzlich die Sterne, und eine tiefe Schwärze ergoss sich wie verschüttete Tinte über das Firmament.

„Willkommen in der Kammer der Luft, Lady Jaina“, sagte eine Stimme – oder waren es mehrere Stimmen, die gleichzeitig sprachen? Jaina war sich nicht sicher, zu sehr verwirrte sie der endlose, beständig wechselnde Ausblick. Sie riss ihre Augen von der faszinierenden, beinahe schon hypnotischen Himmelswand fort und blickte die Sechs an, die rings um sie einen Kreis bildeten.

In der Vergangenheit, das wusste sie, hatten die Mitglieder des Rates ihre Identitäten verborgen, selbst vor den anderen Kirin Tor. Vor Kurzem war es jedoch zum Bruch mit dieser Tradition gekommen, sodass sie nun jeden der Anwesenden ohne Schwierigkeiten erkennen konnte. Neben Modera, Aethas und Rhonin saß da Ansirem Runenweber, der eigentlich nicht oft in Dalaran war; seine neuen Pflichten verlangten von ihm, dass er oft und lange verreiste. Welche Missionen er dabei erfüllte, konnte Jaina natürlich nicht sagen. Der Runenweber-Platz war nach diesem scharfäugigen, entschlossenen Menschen benannt worden. Ebenfalls anwesend war Karlain, Alchemist und Magier in einem. Früher einmal seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert, hatte Karlain inzwischen gelernt, sie zu kontrollieren. Es gab kaum jemanden, der so beherrscht und wohlbedacht war wie er.

Der Letzte, aber gewiss nicht der Unbedeutendste in dieser Runde war ein Mann, in dessen gealtertem Gesicht Jaina noch immer den jungen Mann sah, der er einst gewesen war – Khadgar, einer der mächtigsten Magier in der Geschichte von Azeroth. Obwohl er aussah, als könnte er ihr Großvater sein, wusste sie doch, dass er gerade mal zehn Jahre älter war als sie. Einst ein Lehrling von Medivh, dann ein Beobachter für die Kirin Tor und schließlich derjenige, der das Dunkle Portal geschlossen hatte, lebte er inzwischen in der Scherbenwelt, wo er mit dem Naaru A’dal zusammenarbeitete. Dass er sich heute hier eingefunden hatte, um über den Schutz von Theramore zu sprechen, gab ihr Hoffnung.

„Seht mich nicht nur mit offenem Mund an“, sagte er tadelnd, aber mit einem lustigen Funkeln in den Augen. „Ich werde gewiss nicht jünger.“

Voller Respekt beugte Jaina den Kopf. „Lasst mich zunächst sagen, dass Ihr mir eine große Ehre erweist, indem Ihr meiner Bitte Gehör schenkt. Ich will mich kurz fassen. Ihr alle kennt mich als gemäßigte Diplomatin. Seit Jahren arbeite ich ohne Unterlass auf einen Frieden in Azeroth hin, auf einen Frieden zwischen der Allianz und der Horde. Dass ich nun hier stehe und die Kirin Tor bitte, bei der Verteidigung einer Allianz-Stadt gegen die Horde zu helfen, zeigt Euch hoffentlich, wie kritisch und einseitig die Situation wirklich ist.“

Sie drehte sich langsam im Kreis, während sie sprach, um den Magiern einem nach dem anderen so ins Gesicht zu blicken, dass sie sehen konnten, wie ernst sie es meinte. Khadgar, vermutete sie, war geneigt ihr zuzustimmen, in Karlains Zügen ließ sich hingegen nicht so leicht lesen, ebenso wenig in Ansirems; die beiden blickten sie mit ausdruckslosen Mienen und vor der Brust verschränkten Armen an.

„Die Horde hat die Feste Nordwacht zerstört. Garrosh Höllschrei aber hat nicht nur eine gewaltige Armee sämtlicher Horderassen versammelt, seine Schamanen haben auch dunkle Magie eingesetzt, um geschmolzene Riesen zu kontrollieren – unberechenbare, gewalttätige Feuerelementarwesen. Ein solcher Missbrauch könnte eine Katastrophe von ähnlich verheerenden Ausmaßen haben, wie sie der Kataklysmus heraufbeschwor, sollten die Elemente in ausreichendem Maße erzürnt werden.“

Ihre Augen wanderten weiter zu Modera, die ihr ein unmerkliches Lächeln schenkte, und dann zu Aethas, der, seinen Helm auf dem Kopf, dastand, als wäre er aus Stein gemeißelt. „Als nächstes Ziel haben sie sich Theramore ausgesucht. Wir haben eine starke Verteidigung, und König Varian Wrynn hat sich bereit erklärt, uns mit seiner Siebten Flotte zu unterstützen.“

„Warum braucht Ihr dann unsere Hilfe?“, fragte Karlain. „Theramore ist doch für sein Militär berühmt. Und wenn Euch auch noch eine Flotte zur Verfügung steht, dann könnt Ihr die Horde sicher in ihr Territorium zurückjagen, mit der Schamesröte im Gesicht.“ Aethas Kopf drehte sich bei dieser Bemerkung unter dem Helm, aber der Mund des Blutelfmagiers blieb geschlossen.

„Ich brauche Eure Hilfe, weil die Horde bereits versammelt und zum Aufbruch bereit ist“, erklärte Jaina. „Und die Flotte Seiner Majestät befindet sich noch mehrere Tage entfernt.“ Sie wandte sich um und sprach nun Aethas direkt an. „Ich würde ein Treffen am Verhandlungstisch dem auf dem Schlachtfeld vorziehen, aber ich muss meine Leute verteidigen. Sie zählen darauf, dass ich sie beschütze. Ich möchte nicht gegen die Horde kämpfen, aber falls es keine andere Möglichkeit gibt, dann werde ich es tun. Falls sich die Kirin Tor bereit erklären, Theramore in dieser Lage zu helfen, in der es so verwundbar ist, können wir den geplanten Angriff vielleicht in eine Chance auf neuen Frieden verwandeln.“

„Trotz all Eurer Jahre als Diplomatin, Jaina Prachtmeer“, sagte Aethas mit seidenweicher Stimme, „scheint Ihr nur wenig über die Horde zu wissen. Glaubt Ihr denn ernsthaft, sie wäre bereit die Waffen beiseitezulegen, wenn sie den Sieg schon wittern kann?“

„Vielleicht werden sie ihre Waffen beiseitelegen, wenn sie die Magier der Kirin Tor sehen“, entgegnete Jaina. „Bitte … viele Familien leben in Theramore. Ich werde sie mit meinem Leben schützen, ebenso wie die Soldaten, die in der Stadt stationiert sind. Aber vielleicht wird das nicht ausreichen. Und falls Theramore fällt, dann fällt auch Kalimdor. Nichts könnte die Horde noch von einem Angriff auf das Eschental oder auf Teldrassil abhalten. Sie würden die Nachtelfen aus ihrer angestammten Heimat vertreiben. Garrosh will den gesamten Kontinent für sich – und, bei allem Respekt, das kann unmöglich das sein, was sich die Kirin Tor für Azeroth wünschen. Nicht, wenn Ihr wirklich an die Neutralität glaubt.“

„Wir verstehen Eure Lage“, meinte Karlain. „Ihr müsst uns nicht über unsere Pflichten belehren.“

„Das will ich auch gar nicht“, erwiderte Jaina. „Aber ich zähle auf Eure Weisheit. Ihr müsst erkennen, dass dies keine Bitte ist, Partei zu ergreifen. Dies ist eine Bitte, unschuldige Leben zu retten – und ein Gleichgewicht zu bewahren, das ohnehin schon viel zu empfindlich ist.“

Die Magier mussten ein unmerkliches Zeichen untereinander ausgetauscht haben, denn nun machte einer nach dem anderen einen Schritt nach hinten. „Danke, Lady Jaina“, sagte Rhonin mit einer Stimme, die klarmachte, dass sie gehen sollte. „Wir werden erst noch mit anderen sprechen und ihre Meinung einholen, bevor wir eine Entscheidung treffen. Ich werde Euch benachrichtigen, sobald wir zu einer Einigung gekommen sind.“

Mit einem Summen öffnete sich ein weiteres Portal, und Jaina trat hindurch – in die beinahe schon zu sauberen Kopfsteinstraßen von Dalaran. Dabei fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen, dem man gesagt hatte, es solle gefälligst sein Zimmer aufräumen, sonst gäbe es kein Abendessen. Sie war nicht daran gewöhnt, dass man ihr Befehle erteilte. Aber falls es jemanden gab, der das Recht dazu hatte, überlegte sie, dann war es wohl der Rat der Sechs.

Sie war schon dabei, ein Portal zurück nach Theramore zu erschaffen, da hielt sie plötzlich mitten in der Bewegung inne. Da waren noch zwei Personen, die sie aufsuchen musste, bevor sie die schwebende Stadt wieder verlassen konnte.


Nachdem Jaina die Kammer der Luft verlassen hatte, wandten sich die fünf anderen Mitglieder des Rates erwartungsvoll zu Rhonin herum, doch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, hob er die Hand. „Wir wollen uns in einer Stunde wieder versammeln.“

„Aber wir sind doch schon alle hier“, bemerkte Modera ein wenig verwirrt.

„Ich – ich möchte mir ein paar Präzedenzfälle ansehen“, erklärte er. „Und schlage vor, Ihr tut das ebenfalls. Wie auch immer wir uns dann entscheiden – ob wir Theramore nun beistehen oder uns zurückhalten und die Horde kommen lassen – diese Entscheidung wird weitreichende Auswirkungen haben, und ich möchte mehr als nur meine eigene Meinung kennen, bevor ich meine Stimme abgebe.“

Er sah in ein paar säuerliche Gesichter, aber dann nickten die anderen, und Rhonin teleportierte sich in seine Kammer zurück. Dort blieb er einen Moment lang stehen, seine roten Augenbrauen dicht zusammengezogen. Anschließend ging er zu seinem Schreibtisch hinüber, der fast bis auf den letzten Zentimeter mit leerem Pergament, Schriftrollen und Büchern bedeckt war, und hob die Hand.

Das Durcheinander schwebte in die Luft empor und verharrte ungefähr einen Meter über der Tischfläche, die nun aufklappte und eine kleine, schlichte Kiste enthüllte. Was in ihrem Inneren lag, war jedoch alles andere als schlicht.

Rhonin nahm die Kiste aus dem Tisch, klappte ihn wieder zu und ließ die Blätter, Bücher und Schriftrollen in ihre vorherige Position zurücksinken, dann ging er zu einem Stuhl hinüber und setzte sich. „Alter Freund, in Zeiten wie diesen vermisse ich dich mehr, als ich es in Worte fassen kann“, murmelte er. „Aber ich muss zugeben, es tut gut zu hören, dass du auch nach dem Tod noch zu mir spricht – selbst wenn du dich in Rätseln ausdrücken musst.“

Er öffnete die Kiste mit dem winzigen Schlüssel, den er um den Hals trug, und blickte gedankenverloren auf den kleinen Stapel von Schriftrollen hinab. Jede davon enthielt eine Prophezeiung von Korialstrasz, dem verstorbenen Gefährten von Alexstrasza, der Lebensbinderin. Die Visionen hatten sich ihm im Verlauf der Jahre offenbart, und als er sie an Rhonin weitergegeben hatte, hatte er mit einem Grinsen gesagt: „Das wird dir vielleicht helfen zu verstehen, warum ich manchmal so verdammt schlau wirke.“ Rhonin war zutiefst geehrt gewesen. Anschließend hatte Krasus ihn gebeten, die Weisheit dieser Prophezeiungen zu verbergen, und nach seinem Tod sollte Rhonin den Schlüssel nur einer einzigen Person anvertrauen. „Sie dürfen nicht in die falschen Hände fallen“, hatte er ihn gewarnt.

In jener Nacht war Rhonin bis in die frühen Morgenstunden wach geblieben, um die Schriftrollen zu lesen, und eine von ihnen wollte er sich nun noch einmal zu Gemüte führen.

„Andererseits“, sagte er laut. „Warum musstest du deine Weisheiten nur in so kryptischer Form niederschreiben, Krasus?“

Er war sicher, dass der große rote Drache jetzt irgendwo saß und lachte.


Es war erst Jainas zweiter Besuch bei der Familie Funkenleuchter; beim ersten Mal war sie gekommen, um ihre Tochter in ein weit entferntes Land mitzunehmen. Damals waren sie alle vor Stolz auf Kinndy beinahe geplatzt, aber Jaina hatte auch erkannt, wie stark die Bande in dieser Familie waren, was vielleicht daran liegen mochte, dass sie nur aus drei Personen bestand. Es war jedenfalls deutlich zu spüren gewesen, dass ihnen dieser Abschied schwergefallen war, doch sie hatten Jaina nicht wie einen Eindringling behandelt, der ihnen ihre Tochter wegnahm, sondern waren ihr mit weit offenen Armen begegnet, als wäre sie ein lange verschollener Verwandter. Nichtsdestotrotz zögerte Jaina nun vor der Türschwelle. Hierherzukommen war eine plötzliche Entscheidung gewesen. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass sie es den Eltern ihrer Schülerin schuldig war; sie sollten wissen, wie sehr sie von Kinndys Fähigkeiten beeindruckt war, außerdem wollte sie ihnen sagen, dass dieses beeindruckende Mädchen, das sie so innig liebten, bald schon einer großen Gefahr ins Auge sehen würde.

Nachdem sie sich für diese Begegnung gewappnet hatte, klopfte sie an der Tür. Wie beim letzten Mal öffnete sich daraufhin quietschend eine kleinere Tür, die in die eigentliche Tür eingelassen war, und ein älterer, ganz in Violett gekleideter Magier spähte hinaus, erst nach links, dann nach rechts, und schließlich nach oben.

„Guten Tag, Magier Funkenleuchter“, sagte Jaina lächelnd.

Rasch nahm er seinen spitz zulaufenden Hut ab und verneigte sich tief. „Lady Prachtmeer!“, rief er. „Was verschafft uns diese Ehre …“ Seine Augen weiteten sich unmerklich. „Mit unserer kleinen Kinndy ist doch alles in Ordnung, oder?“

„In bester Ordnung sogar. Sie wird den Pflichten eines Lehrlings in bewundernswerter Weise gerecht“, erklärte Jaina. Zu diesem Zeitpunkt entsprachen beide Aussagen schließlich noch der Wahrheit. „Dürfte ich hereinkommen?“

„Oh, gewiss, gewiss!“ Pakke Funkenleuchter duckte sich wieder nach drinnen, schloss die kleine Tür und öffnete die große Haupttüre, damit Jaina eintreten konnte.

Die ordentliche kleine Wohnung war mit vollendeten Miniaturen richtiger Möbel ausgestattet – zumindest kamen sie Jaina wie Miniaturen vor. Auch wenn die Decke hoch genug war, dass sie aufrecht stehen konnte, wäre es ihr also unmöglich gewesen, sich auf einen der kleinen Stühle zu setzen. Glücklicherweise holte Pakke einen Große-Leute-Stuhl, wie er es nannte, herbei.

„Hier. Setzt euch doch ans Feuer!“ Jaina blickte zum Kamin hinüber, in dem zwar Holzscheite platziert waren, aber kein Feuer brannte. Sie musste ein Schmunzeln unterdrücken. Das war ein alter Witz der Familie Funkenleuchter, und sie hatte nicht vor, Pakke die Pointe zu verderben. Der Gnom stieß ein gespieltes Ächzen aus. „Oh, das Feuer brennt ja gar nicht!“, entfuhr es ihm, dann zog er einen Stab hervor, murmelte ein paar leise Worte und richtete die Spitze seines magischen Werkzeuges auf den Kamin. Im selben Moment flackerten helle Flammen auf und verliehen der ohnehin schon heimeligen Wohnung einen noch fröhlicheren Eindruck.

Ein verlockender Geruch wehte herbei, als eine grauhaarige Gnomenfrau durch die Küchentür spähte. Ihr Gesicht war mit Mehl verschmiert. „Pakke, wer war an der – oh, Lady“, sagte sie. „Was für eine Überraschung! Gebt mir nur einen Moment, um diese Kuchen in den Ofen zu schieben. Ich bin gleich wieder da.“

„Lasst Euch nur Zeit, Frau Funkenleuchter.“

„Ich hatt’ es Euch doch schon gesagt, als wir uns zum ersten Mal trafen: Nennt mich Jaxi, sonst gibt es keine Apfeltörtchen“, tadelte sie sanft, und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit konnte Jaina nicht anders, als zu lachen.

Sie setzte sich in den gemütlichen, ihrer Größe entsprechenden Stuhl und nahm dankbar eine Tasse Tee und ein paar Plätzchen entgegen. Nachdem Pakke und Jaxi ebenfalls Platz genommen hatten, auf ihren eigenen, kleineren Sitzgelegenheiten, ergingen sie sich ein paar Minuten in ungezwungenem Geplauder.

Schließlich stellte Jaina ihre Tasse beiseite und blickte die beiden Gnome an. „Eure Tochter“, begann sie, „ist eine gute Schülerin. Nein“, korrigierte sie sich dann, „eine ausgezeichnete Schülerin sogar. Jeden Tag beeindruckt sie mich mehr, und ich bin sicher, eines Tages, wenn ihre Ausbildung abgeschlossen ist, wird sie die ganze Welt beeindrucken. Viele Lehrlinge haben das Potenzial, aber längst nicht alle können es auch ausschöpfen.“

Das Ehepaar Funkenleuchter strahlte förmlich, dann blickten die beiden einander an und schlossen die Hände fest um die des anderen. „Sie ist unser einziges Kind, müsst Ihr wissen“, erklärte Pakke. „Ich bin sicher, es ist Euch nicht aufgefallen, aber ich werde allmählich alt.“ Dies sagte er mit einem Funkeln in den Augen; der lange weiße Bart war nicht zu übersehen. „Jaxi und ich hatten die Hoffnung auf ein Kind schon aufgegeben. Kinndy ist unser kleines Wunder.“

„Wir machen uns zwar Sorgen um sie, weil sie so weit entfernt in Theramore ist“, fügte Jaxi hinzu, „aber wir freuen uns, dass sie uns so häufig besuchen kommt.“

„Mich freut es auch“, meinte Jaina. „Wenn ich daran denke, dass sie jedes Mal einige Eurer gebackenen Köstlichkeiten mitbringt, würde ich sie am liebsten jeden Tag hierherschicken! Es ist wirklich eine Schande, dass ich sie nicht immer entbehren kann.“

Da mussten sie alle lachen. Die Atmosphäre in dem heimeligen, altmodisch eingerichteten Raum mit dem knisternden Kaminfeuer war so fröhlich, dass Jaina einen Augenblick lang von dem Gedanken an die Gefahr befreit war, die Theramore drohte. Sie wünschte sich, es könnte immer so einfach sein.

„Oh, Lady Jaina“, sagte Jaxi. „Welche unglücklichen Gedanken machen Euch so traurig?“

Sie seufzte. Sosehr sie sich auch wünschte, dass die Situation eine andere wäre, diese guten Gnome hatten ein Recht darauf, zu wissen, in welcher Gefahr ihre Tochter schwebte.

„Theramore braucht die Hilfe der Kirin Tor“, erklärte sie leise. „Um die Wahrheit zu sagen, es war sogar Kinndys Idee, hierherzukommen und um Unterstützung zu bitten. Mehr kann ich Euch leider nicht sagen, aber ich fürchte, ich werde mit leeren Händen nach Theramore zurückkehren.“

„Was für eine …“, setzte Jaxi zu einer Frage an, aber Pakke legte eine faltige Hand auf die ihre und drückte sie.

„Na, na. Lady Jaina scheint wichtige Dinge zu tun zu haben“, sagte er. „Wenn sie meint, sie könne es uns nicht sagen, dann will ich ihr das glauben.“

„Ich natürlich auch“, sagte Jaxi hastig. Ihre andere Hand glitt zu der ihres Mannes hinüber. „Es ist nur … ist Kinndy …“

„Kinndy hat unermüdlich gearbeitet, und ihre Hilfe ist von unschätzbarem Wert für mich“, versicherte ihr Jaina. „Ich gebe Euch mein Wort, ich werde sie beschützen, so gut ich nur kann. Schließlich“ – und sie versuchte, wieder unbesorgt zu klingen – „habe ich schon zu viel Zeit in ihre Ausbildung investiert. Es wäre doch eine Schande, wenn ich noch einmal von vorn anfangen müsste, mit einem Schüler, der ganz grün hinter den Ohren ist!“

„Macht Euch keine Sorgen wegen der Kirin Tor“, meinte Pakke, um sie aufzumuntern. „Sie würden Euch und Theramore nicht einfach so im Stich lassen. Sie werden das Richtige tun. Ihr werdet schon sehen!“

Sie drängten ihr noch eine Tasche mit mehreren eingepackten Kuchen auf und wünschten ihr zum Abschied herzlich alles Gute. Dabei waren sie so zuversichtlich und fröhlich, dass Jaina wieder Hoffnung schöpfte. Vielleicht – vielleicht würde sich diese Reise nach Dalaran ja doch noch auszahlen.

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