Baine Bluthuf blickte sich unsicher um, als er und seine kleine Gruppe die Stadt Orgrimmar betraten. Als einziges Kind von Cairne, dem zu Lebzeiten innig geliebten und nun im Tod tief betrauerten Oberhäuptling der Tauren, hatte Baine die Stellung eingenommen, die sein Vater so viele Jahre innegehabt hatte. Es war eine Verantwortung, nach der er eigentlich nie wirklich gestrebt hatte, und er war zu gleichen Teilen von Demut und Bedauern erfüllt gewesen, als er sie schließlich angenommen hatte. Das war noch gar nicht so lange her, und doch hatte sich die Welt in der kurzen Zeit, die seither vergangen war, in scheinbar jeder Hinsicht verändert.
Seine persönliche Welt war in der Nacht zerschmettert worden, als sein Vater in einem Mak’gora, einem rituellen Duell, getötet worden war. Cairne war gegen Garrosh Höllschrei angetreten, der erst vor Kurzem von Thrall zum neuen Kriegshäuptling der Horde ernannt worden war. Eigentlich hatte er vorgehabt, ehrenhaft zu kämpfen, doch jemand anders hatte etwas dagegen gehabt: Magatha Grimmtotem, eine Schamanin, die lange einen Hass gegen Cairne gehegt hatte und danach strebte, die Tauren anzuführen. Sie hatte die Klinge von Garroshs Axt Blutschrei nicht mit Salböl, sondern mit Gift bestrichen. Dieser Betrug hatte den edlen Cairne das Leben gekostet.
Garrosh hatte sich aus dem Konflikt herausgehalten, der im Anschluss an diese Ereignisse ausgebrochen war, als Magatha die Führung der Tauren unverfroren für sich in Anspruch gennommen hatte. Baine hatte die Möchtegern-Thronräuberin besiegt und sie verdammt, gemeinsam mit allen anderen, die sich weigerten, ihm loyal zu folgen. Anschließend hatte er selbst dem Kriegshäuptling der Orcs die Treue geschworen, und zwar aus zweierlei Gründen – erstens, weil sein Vater es so gewollt hätte, und zweitens, weil er wusste, dass er nur auf diese Weise sein Volk beschützen konnte.
Seitdem war Baine Bluthuf nicht mehr nach Orgrimmar gekommen. Er hatte niemals das Verlangen danach gespürt, und jetzt, da er hier war, wünschte er sich noch mehr, dass er diesem Ort für immer hätte fernbleiben können.
Doch Garrosh hatte die Anführer der verschiedenen Rassen vorgeladen, und da er Grom Höllschreis Sohn nun einmal seine Unterstützung zugesichert hatte, war Baine dieser Einladung nachgekommen, ebenso wie all die anderen auch. Sich Garroshs Wunsch zu widersetzen, hätte einen offenen Krieg bedeuten können.
Baine und sein Gefolge ritten auf ihren Kodos durch die schweren Stadttore, und mehr als einer der Tauren blickte dabei mit nervös zuckenden Ohren zu dem hoch aufragenden Gerüst und dem gewaltigen Kran empor, der über ihnen von einer Seite auf die andere schwang. Orgrimmar war nie so ländlich und idyllisch gewesen wie Donnerfels, aber nun wirkte es durch und durch martialisch. Riesige Eisenkonstruktionen, schwer und schwarz und unheilvoll, hatten die einfachen Holzhütten ersetzt, angeblich, um „einen weiteren Brand zu verhindern“, wie Garrosh gesagt hatte. Baine wusste aber, dass es Höllschrei ebenso darum ging, Erinnerungen an die alten Hochzeiten der Horde zu erwecken. Jeder sollte wissen, dass man die Orcs, und infolgedessen die gesamte Horde, ernst nehmen musste – auch nach dem Chaos des Kataklysmus und der folgenden Schreckensherrschaft von Todesschwinge. In Baines Augen drückten diese hässlichen Veränderungen aber keinesfalls Stärke aus, vielmehr stellte das „neue Orgrimmar“ für ihn ein Sinnbild der Dominanz, der Eroberung, der Unterdrückung dar. Das harte, gezackte Metall, das hier allgegenwärtig schien, war eine Bedrohung, kein Schutz. Er fühlte sich jedenfalls alles andere als sicher an diesem Ort, und er glaubte, dass es jedem anderen Wesen, das kein Orc war, ebenso ergehen musste.
Garrosh hatte sogar die Festung Grommash aus dem Tal der Weisheit, wo sie seit der Gründung der Stadt unter Thralls Herrschaft gestanden hatte, ins Tal der Stärke versetzen lassen – eine Entscheidung, die, wie Baine fand, viel über das Wesen des Kriegshäuptlings verriet. Als sich die Tauren der Festung näherten, schloss sich ihnen in ihrem roten und goldenen Ornat eine Gruppe von Blutelfen an. Lor’themar Theron, der seine lange hellblonde Mähne zu einem Haarknoten nach oben gebunden hatte und sein Kinn mit einem kleinen Streifen Bart schmückte, blickte zu Baine hinüber und nickte ihm gelassen zu. Bluthuf erwiderte die Geste.
„Baine, mein Freund!“, rief da plötzlich eine ölige, fröhliche Stimme. Baines Kopf ruckte nach rechts herum, dann nach unten. Ein verschlagen wirkender, fettbäuchiger Goblin mit einem leicht lädierten Zylinder auf dem Kopf winkte ihm gutgelaunt zu, während er auf seiner Zigarre herumkaute.
„Du musst Handelsprinz Jastor Gallywix sein“, sagte Baine.
„Der bin ich, in der Tat, der bin ich“, erwiderte der Goblin enthusiastisch und schenkte ihm ein zähnestarrendes, leicht raubtierhaftes Grinsen. „Und ich bin genauso erfreut, heute hier sein zu dürfen, wie du es sicher auch bist. Mein erster offizieller Besuch an Kriegshäuptling Garroshs Hofe!“
„Ich weiß nicht, ob ich es einen Hof nennen würde“, erwiderte Baine.
„Ah, wollen wir mal nicht so kleinlich sein. Ich bin trotzdem erfreut, ja. Wie geht es euch denn so, drüben in Mulgore?“
Baine musterte Gallywix. Es war keineswegs so, dass er prinzipiell etwas gegen Goblins hatte; um die Wahrheit zu sagen, stand er sogar tief in der Schuld von Gazlowe, dem Goblin-Herrscher über die Hafenstadt Ratschet. Als Magatha nämlich Donnerfels angegriffen hatte, hatte Gazlowe Baine seine Zeppeline, Waffen und Krieger für einen (nach Goblin-Standards) wirklich großzügigen Preis zur Verfügung gestellt. Diese Unterstützung war für Bluthuf von unschätzbarem Wert gewesen. Nein, Baine hatte nichts gegen Goblins im Allgemeinen, nur gegen diesen einen Goblin. Falls es stimmte, was seine Kundschafter ihm erzählten, gab es aber niemanden, der Gallywix leiden konnte, nicht einmal seine eigenen Leute.
„Wir bauen unsere Hauptstadt wieder auf und treiben die Stacheleber zurück, die in unser Territorium drängen. Die Allianz hat erst vor Kurzem Camp Taurajo zerstört, und wir haben ein großes Tor errichtet, damit sie nicht weiter vordringen können.“
„Oh, tja, das tut mir leid. Und Glückwunsch!“ Gallywix lachte. „Und viel Glück mit alldem, hm?“
„Äh … danke“, sagte Baine. Trotz ihrer geringen Größe schlängelten sich die Goblins durch den Strom der anderen Horderassen, um als Erste die Festung Grommash zu betreten. Baine zuckte mit dem Ohr, dann seufzte er und stieg von seinem Kodo. Nachdem er einem wartenden Orc die Zügel in die Hand gedrückt hatte, stapfte anschließend auch er selbst durch den Eingang der Festung.
Diese Inkarnation von Grommash war, wie alles andere im „neuen“ Orgrimmar auch, weniger persönlich und dafür deutlich kriegerischer – bis hin zum Thron des Horden-Kriegshäuptlings. Unter Thralls Herrschaft waren der Schädel und die Rüstung des Dämons Mannoroth, dessen Blut einst die Orcs verdorben hatte, und der auf heldenhafte Weise von Grom Höllschrei besiegt worden war – auf einem gewaltigen Baumstumpf am Eingang der Feste ausgestellt gewesen, als Symbol seines größten Triumphes. Aber Garrosh hatte sie von dort entfernt, um seinen eigenen Thron damit zu schmücken. Was Thrall für die gesamte Horde zugänglich gemacht hatte, war durch ihn zu einem persönlichen Tribut geworden. Er trug sogar zwei Hauer des Dämons als Schulterpanzer. Jedes Mal, wenn Baine den neuen Kriegshäuptling sah, sackten seine Ohren angesichts dieses Affronts herab.
„Baine“, rief eine raue Stimme, und als sich der Taure umdrehte, stieg zum ersten Mal, seit er Donnerfels verlassen hatte, eine Woge der Freude in ihm hoch.
„Etrigg“, sagte er in freundschaftlichem Ton und umarmte den alten Orc. Es schien, als wäre dieser ehrenhafte Veteran das letzte Mitglied von Thralls ursprünglichem Beraterstab, das noch übrig geblieben war. Er hatte Thrall gut und loyal gedient, und auf seinen Wunsch hin war er in Orgrimmar geblieben, um Garrosh mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dass der neue Kriegshäuptling noch keine Intrige gesponnen hatte, um den alten Orc aus dem Weg zu räumen, ließ Baine hoffen. Etrigg war es gewesen, der als Erster das Gift an Garroshs Waffe, Blutschrei, entdeckt hatte, und ebenso war er es gewesen, der dem jungen Kriegshäuptling erklärt hatte, dass man ihn benutzt hatte, um Cairne auf unehrenhafte Weise zu ermorden. Baine hatte Etrigg schon immer respektiert, aber durch diese Tat hatte sich der Orc seine ewige Freundschaft verdient.
Baine kniff die braunen Augen zusammen, als ihm der Ausdruck auf Etriggs Gesicht auffiel. Er versuchte, möglichst leise zu sprechen – keine leichte Aufgabe für einen Tauren – und fragte: „Ihr seid nicht glücklich über das Thema der heutigen Zusammenkunft, nicht wahr?“
Etrigg schnitt eine säuerliche Grimasse. „Das ist noch eine Untertreibung. Und ich bin nicht mal der Einzige, der so denkt.“ Er klopfte dem jungen Anführer der Tauren auf den Arm, dann trat er zurück und bedeutete Baine, sich zum traditionellen Platz seines Volkes zu begeben, links vom Thron des Kriegshäuptlings. Zumindest hatte Garrosh nicht versucht, die Tauren von ihrem Platz zu verbannen. Baine fiel aber auf, dass Lor’themar nun auf der rechten Seite des Thrones saß, und neben der rot-goldenen Pracht der Blutelfen leuchtete die grüne Haut der Goblins. Sylvanas und ihre Verlassenen hatten direkt den Orcs gegenüber Platz genommen, und Vol’jins Trolle saßen neben Baine. Die Orcs, denen die Ehre zuteilwurde, diesem Treffen beiwohnen zu dürfen – die meisten von ihnen waren Kor’kron, die traditionellen Leibwächter des Kriegshäuptlings –, standen kerzengerade in einem Kreis um die versammelten Abgesandten herum.
Baine erinnerte sich noch daran, wie ihm sein Vater von ähnlichen Treffen in Orgrimmar erzählt hatte. Damals waren solche Anlässe ebenso von Lachen, Festmählern und festlicher Atmosphäre bestimmt worden wie von Debatten und Diskussionen. Baine sah jedoch keinerlei Anzeichen, dass es heute ein Festmahl geben würde. Im Gegenteil, dachte er, und nahm einen Schluck abgestandenen Wassers aus dem Trinkschlauch, der von seinem Gürtel hing. Es war eine gute Idee gewesen, dass er und seine Leute ihr eigenes Wasser mitgebracht hatten. Andernfalls wären die Tauren inzwischen wohl schon zusammengebrochen, in dieser Stadt unter der glühenden Sonne, wo die Eisengebäude all die Hitze absorbierten.
Die Sekunden verrannen, und allmählich wurden die versammelten Anführer und ihre Begleiter unruhig. Leises Gemurmel breitete sich unter den Verlassenen aus, und Baine gewann den Eindruck, als wäre „Geduld“ eine Tugend, die nicht jeder der Untoten beherrschte, obwohl sie dieses Wort nur allzu gerne benutzten, wenn sie andere tadelten. Seine scharfen Taurenohren schnappten ein gezischtes Flüstern von Sylvanas auf, und daraufhin erstarb das Gemurmel abrupt.
Ein Orc in der Uniform der Kor’kron trat nach vorn. An einer Hand hatte er nur noch drei Finger, und eine fahle Narbe, die sich scharf von seiner dunkleren Haut abhob, beschrieb ein Zickzackmuster über sein gesamtes Gesicht, und dann bis hinunter zu seinem Hals. Rote Kriegsbemalung, die wie vergossenes Blut aussah, zierte seine Züge und Arme. Doch es waren nicht diese Eigenheiten, die Baine veranlassten, die Augen zusammenzukneifen, als er den Neuankömmling betrachtete. Es war der Farbton der rot bemalten Haut.
Dunkelgrau.
Das bedeutete zweierlei. Zum einen, dass der Orc ein Mitglied des Schwarzfelsclans war – ein Clan, der viele berüchtigte Mitglieder hervorgebracht hatte –, und zweitens, dass dieser Orc schon seit Jahren nicht mehr das Licht der Sonne gesehen hatte. Er hatte im Inneren des Berges Schwarzfels gelebt und Thralls Feinden gedient.
Namen, die sein Vater nur mit ernster Stimme ausgesprochen hatte, hallten in Baines Kopf wider: Schwarzfaust, der Zerstörer, Kriegshäuptling der Horde und geheimes Mitglied des Schattenrates, unter dessen Herrschaft die ersten Hexenmeister aufgetaucht waren, die es in seinem Volk je gegeben hatte; sein Sohn Dal’rend, genannt „Rend“, der sich jahrelang in den Tiefen der Schwarzfelsspitze verborgen hatte und Thralls Herrschaft nicht anerkennen wollte. Von all den Orcs des Schwarzfelsclans hatte Thrall nur von den wenigsten mit Respekt gesprochen. Eine Handvoll unter viel zu vielen. Dass diesem augenscheinlich kampferfahrenen Veteran die Ehre zuteil wurde, die Zeremonie zu eröffnen – sogar noch vor den Kor’kron –, verstärkte Baines Sorge über das, was da kommen mochte.
Der Veteran machte eine herrische Geste, und mehrere grünhäutige Orcs traten vor, in den Händen lange, verzierte Schimärenhörner. Mit präzisen Bewegungen hoben sie die Hörner an ihre Lippen, dann holten sie tief Luft und bliesen hinein. Ein lang gezogener, tiefer, hohler Laut dröhnte durch den Saal, und trotz der gegenwärtigen Situation spürte Baine, wie sein Geist diesem Aufruf zur Ordnung folgte. Als der Klang verhallt war, traten die Orcs in die Schatten zurück.
Der Schwarzfelsorc ergriff mit einer tiefen, rauen Stimme, die den gesamten Raum erfüllte, das Wort.
„Euer Anführer, der mächtige Garrosh Höllschrei, kommt näher! Zeigt ihm eure Ehrerbietung!“ Der Orc schlug sich mit der heilen Hand gegen die stämmige Brust und wandte sich dem Eingang zur Festung Grommash zu.
Garroshs brauner Körper war mit Tätowierungen bedeckt, und selbst auf seinem Unterkiefer waren schwarze Muster zu erkennen. Seine Brust war nackt, doch auf den Schultern trug er Mannoroths gewaltige Hauer, bedeckt mit Stacheln, und um seine Mitte lag ein Gürtel mit einem geschnitzten Totenschädel, welcher in seiner Form an den Kopf des großen Dämons erinnerte, der den Thron zierte. Als er Blutschrei, die legendäre Waffe seines Vaters, in die Höhe reckte, hallte der Saal kurz vor Jubelschreien und -rufen wider, und Garrosh stand genießerisch da und saugte es in sich auf. Dann senkte er die Axt wieder und öffnete den Mund.
„Ich heiße euch alle willkommen“, sagte er, während er die Arme in einer allumfassenden Geste ausbreitete. „Ihr seid wahre Diener der Horde. Euer Kriegshäuptling hat euch gerufen, und ihr seid gekommen.“
Wie abgerichtete Wölfe, dachte Baine. Er versuchte, ein Stirnrunzeln zu unterdrücken, schaffte es aber nicht. Thrall hatte niemals so zu seinen Untertanen gesprochen.
Garrosh fuhr indes fort: „Viel ist geschehen, seit ich zum Kriegshäuptling wurde. Wir haben uns Herausforderungen und Gefahren gegenübergesehen, Feinden, die unsere Welt und unsere Lebensweise bedrohten. Und doch haben wir obsiegt. Wir sind die Horde. Wir werden niemals zulassen, dass jemand unseren Willen bricht!“
Noch einmal hob er Blutschrei, und noch einmal brachen die versammelten Orcs daraufhin in ein lautes Geheul aus. Die anderen Mitglieder der Horde stimmten in den Jubel mit ein, selbst Baine, denn hier ging es darum, ihre Unterstützung für die mächtige Horde zu zeigen, der sie alle angehörten. Zumindest in diesem Punkt hatte Garrosh recht: Wer sich ein Mitglied der Horde nannte, der würde sich von nichts und niemandem entmutigen lassen – nicht von einer zerschmetterten Welt, nicht von einem wahnsinnig gewordenen Aspekt und auch von sonst nichts.
Nicht einmal von dem Mord an einem Vater.
Garroshs Lippen um seine Hauer verzogen sich zu einem zustimmenden Lächeln, als er zu seinem Thron hinüberging, dann hob er den Arm, um Stille einzufordern. „Ihr habt mich nicht enttäuscht“, erklärte er. „Ihr seid die besten Vertreter eurer Rassen – ihre Anführer, ihre Generäle. Und genau darum habe ich euch hierhergerufen.“
Er setzte sich und bedeutete den anderen mit einem Winken, dass sie ebenfalls Platz nehmen durften. „Es gibt eine Bedrohung, die diese Welt schon viel zu lange heimsucht, und jetzt ist die Zeit gekommen, sie ohne jede Gnade auszulöschen. All die Jahre, die wir bereits im Schatten dieser Gefahr stehen, haben wir sie ignoriert, in dem Irrglauben, dass es nur eine kleine Schande wäre, sie zu tolerieren, eine Schande, die der mächtigen Horde nicht zu schaden vermag. Doch damit ist jetzt Schluss. Ich habe es schon früher gesagt, und jetzt sage ich es wieder: Jede Schande ist eine große Schande! Jede Bedrohung ist eine große Bedrohung! Und wir werden sie nicht länger dulden!“
Ein Schauder rann durch Baines Körper, und er musste an Etriggs Reaktion auf seine Frage vorhin denken. Schon, als der Befehl an die Anführer der Horde ergangen war, sich in Orgrimmar zu versammeln, hatte er geahnt, was Garrosh ihnen allen sagen wollte, aber er hatte gehofft, dass er sich irrte.
Der Orc sprach weiter: „Wir müssen unser Schicksal erfüllen. Und es gibt ein Hindernis auf dem Weg zu diesem Schicksal – eines, das wir unter unseren Füßen zermalmen sollten wie das unbedeutende Insekt, das diese Gefahr in Wahrheit darstellt. Die Würmer der Allianz begnügen sich nicht länger damit, die Östlichen Königreiche in ihrem Würgegriff zu halten. Viel zu lange – denn auch nur ein Moment wäre schon zu lange! – haben sie sich in unsere Lande hineingegraben, in unser Territorium. Nach Kalimdor.“
Baine schloss einen Moment lang gequält die Augen.
„Stück für Stück stehlen sie uns unsere Bodenschätze, und ihre bloße Anwesenheit beschmutzt unsere Erde! Sie wollen uns verkrüppeln, verhindern, dass wir wachsen und uns zu den Höhen aufschwingen, von denen ich weiß – mit absoluter Sicherheit weiß –, dass wir sie erreichen können! Denn mit ganzem Herzen glaube ich, dass es nicht unser Schicksal ist, auf unseren Knien herumzurutschen und die Allianz um einen Frieden anzubetteln. Es ist unser Recht, dieses Land Kalimdor zu bewohnen und zu beherrschen. Es gehört uns, und als solches werden wir es zurückfordern!“
Garroshs Orcs brüllten zustimmend. Das heißt, zumindest die meisten, die, die bei den Kor’kron und dem Schwarzfelsorc standen. Einige andere murmelten jedoch nur leise vor sich hin. Viele Mitglieder der Horde folgten dem Beispiel der Kor’kron, wobei einige voller Überzeugung skandierten, während andere deutlich weniger Enthusiasmus an den Tag legten, wie Baine auffiel. Er selbst blieb ruhig sitzen. Ein paar seiner Tauren applaudierten und stampften mit ihren Hufen auf den Boden – ihr Volk war von den jüngsten Veränderungen nicht verschont geblieben. Die Allianz hatte sich von der Feste Nordwacht aus vorgearbeitet, angetrieben von falschen Nachrichten, wonach die Tauren einen Angriff planten, und dann hatten sie Camp Taurajo dem Erdboden gleichgemacht. Die einzigen Einwohner, die das Dorf jetzt noch aufwies, waren Plünderer. Viele Tauren waren bei dem Angriff gestorben, andere waren zur Vendettakuppe geflohen, von wo aus sie sporadische Angriffe auf die Späher der Feste Nordwacht starteten, und wieder andere hatten sich im Camp Una’fe in Sicherheit gebracht, ihrer „Zufluchtsstätte.“
Bei seiner Reaktion auf diese Aggression hatte Baine den Schwerpunkt darauf gelegt, sein Volk zu schützen. Die Straße nach Mulgore war einst offen gewesen; nun hatten sie das Große Tor, wie sie es nannten, geschlossen, um jede Möglichkeit für einen groß angelegten Vorstoß der Allianz im Keim zu ersticken. Die meisten Tauren waren damit zufrieden, dass man dieses Tor gebaut hatte; es dürstete sie nicht nach Rache. Ein paar andere wollten den Angriff nicht einfach so vergessen. Baine konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Er herrschte nicht mit eiserner Hand über sein Volk; die Tauren folgten ihm aus eigenem Willen und voller Zuneigung – und vermutlich nicht zuletzt auch aus Respekt vor seinem Vater. Dennoch waren sie ihm gegenüber offen, und jeder, der mit Baines Entscheidung nicht einverstanden war, so wie Grimmtotem, oder sich entschloss, die Allianz von der Vendettakuppe auf eigene Faust anzugreifen, wurde zwar aus Donnerfels verbannt, musste darüber hinaus aber keine Bestrafung fürchten.
Seine Gedanken richteten sich wieder auf das Hier und Jetzt, als der Jubel leiser wurde und Garrosh mit seiner Rede fortfuhr.
„Darum beabsichtige ich, die Horde auf eine Mission zu führen, die uns auf unseren rechtmäßig vorbestimmten Pfad zurückbringen wird.“ Er hielt inne und ließ seinen Blick über das Meer aus Gesichtern schweifen, um den Augenblick in die Länge zu ziehen. „Unser erstes Ziel wird die Feste Nordwacht sein. Wir werden sie bis auf die Grundmauern niederbrennen. Und nachdem wir dieses Gebiet als unser Land zurückgefordert haben, werden wir uns dem nächsten Schritt zuwenden – Theramore!“
Baine konnte sich nicht erinnern, von seinem Stuhl hochgefahren zu sein, aber plötzlich stand er auf seinen Hufen – und er war nicht der Einzige. Natürlich erfüllte Jubel die Luft, doch kurz darauf folgten protestierende Rufe.
„Kriegshäuptling! Lady Jaina ist zu mächtig!“, schrie jemand. Es klang wie einer der Verlassenen. „Sie hat sich die ganze Zeit über zurückgehalten. Doch provoziert Ihr sie jetzt, dann bedeutet das Krieg – einen Krieg, auf den wir nicht vorbereitet sind!“
„Mehr als einmal hatte sie Gelegenheit, uns durch Gewalt oder Betrug zu schwächen, doch stets hat sie sich gerecht verhalten!“, donnerte Baine. „Ihre diplomatischen Bemühungen und ihre Entscheidung, mit Kriegshäuptling Thrall zusammenzuarbeiten, haben zahllose Leben gerettet! Ohne Grund in ihr Reich einzufallen, das mehrt ganz sicher nicht die Ehre der Horde, und ein närrisches Unterfangen wäre es obendrein!“
Viele der Anwesenden murmelten zustimmend. Andere Anführer der Allianz waren ihnen verhasst, aber Lady Jaina genoss in Teilen der Horde großen Respekt. Es machte Baine Mut, als er dieses Murmeln hörte. Garroshs nächste Worte schleuderten ihn jedoch in den Sog der Verzweiflung zurück.
„Zunächst einmal“, schnappte Garrosh, „hat Thrall mir die Führung der Horde übertragen. Was auch immer er getan oder nicht getan hat, jetzt ist es bedeutungslos. Von nun an zählen allein meine Entscheidungen. Ich bin der Kriegshäuptling, dem ihr alle Treue geschworen habt, und diejenigen unter euch, die meinen Plan jetzt schon ablehnen, wissen noch nicht einmal, worum es dabei wirklich geht. Also schweigt und hört zu!“
Das Stimmengewirr verebbte, aber nicht all jene, die von ihren Stühlen aufgesprungen waren, setzten sich wieder hin.
„Ihr reagiert so, als wäre die Eroberung von Theramore das Ziel unserer Mission. Doch lasst mich euch sagen, das ist nur der Anfang! Ich spreche nicht nur von der Vernichtung der menschlichen Siedlungen in Kalimdor, sondern auch, und zwar noch vehementer, von der Vertreibung der Nachtelfen. Sollen sie doch in die Östlichen Königreiche fliehen, während wir ihre Städte zerstören und uns ihre Vorräte nehmen!“
„Sie alle vertreib’n?“, fragte Vol’jin verwirrt. „Sie leb’n schon länger hier als wir. Und wenn wir so etwas versuch’n, wird sich die Allianz auf uns stürz’n wie die Bienen auf den Honig! Ihr würdet ihnen nur den Vorwand biet’n, den sie brauch’n!“
Langsam wandte sich Garrosh zum Anführer der Dunkelspeertrolle herum, und Baine erschauderte innerlich. Vol’jin hatte nach dem Tod von Cairne zu Garroshs lautesten Kritikern gehört, und zu sagen, dass die beiden nicht viel füreinander übrig hatten, wäre eine Untertreibung gewesen. Garrosh hatte die Dunkelspeertrolle in die Elendsviertel von Orgrimmar gezwungen, und in seinem Zorn über diese Schmähung hatte Vol’jin seinen Leuten befohlen, Orgrimmar ganz zu verlassen. Heute kam der Anführer der Trolle nur noch dann in die Stadt, wenn man es ihm befahl.
„Das Hin und Her in Eschental dauert nun schon beinahe seit dem Tag an, als wir in diese Welt kamen. Es macht mich krank“, grollte Garrosh. Baine wusste, dass der Orc noch immer nicht über die letzte Niederlage hinweg war, die ihm Varian Wrynn dort beigebracht hatte. „Und was mich mit noch mehr Übelkeit erfüllt, ist unsere eigene Unfähigkeit, zu erkennen, was wir tun können und tun müssen. Die Nachtelfen behaupten, sie wären barmherzig und weise, und doch ermorden sie unsere Brüder, bloß weil sie auf der Suche nach lebensspendendem Schutz ein paar Bäume fällen! Die Nachtelfen haben lange genug hier gelebt. In Zukunft soll man sie in diesen Landen nur noch als böse Erinnerungen kennen. Die Zeit ist gekommen, da die Horde über diesen Kontinent herrscht! Also lasst uns herrschen! Aus diesem Grund ist Theramore auch so wichtig, seht ihr das denn nicht?“ Er starrte die Mitglieder der Horde an, als wären sie kleine Kinder. „Wir zermalmen Theramore, und falls die Allianz Verstärkung aus dem Süden schickt, drängen wir sie zurück. Und dann … bekommen die Nachtelfen, was sie verdienen.“
„Kriegshäuptling!“ Einer Frau gehörte diese Stimme, die zugleich melodisch und eisig klang. Sylvanas Windläufer, einstige Befehlshaberin der Windläufer der Hochelfen und nun die Anführerin der Verlassenen, erhob sich und blickte Garrosh aus hell leuchtenden Augen an. „Vielleicht schickt die Allianz wirklich keine Verstärkung. Zumindest nicht sofort. Stattdessen werden sie sich uns in den Östlichen Königreichen zuwenden und ihren Zorn an uns auslassen – an meinem Volk und den Sin’dorei.“
Beinahe flehend blickte sie zu Lor’themar hinüber, doch das Gesicht des Blutelfenführers blieb regungslos. „Varian wird gegen meine Grenzen ziehen und uns vernichten.“ Die Bemerkung galt zwar Garrosh, aber Sylvanas’ Augen blieben weiter auf Lor’themar gerichtet. Baine fühlte mit ihr; sie hoffte auf die Unterstützung von jemandem, der sie ihr nach allen Regeln der Vernunft eigentlich auch geben sollte, doch sie erhielt keine.
„Kriegshäuptling? Dürfte ich kurz mit Euch sprechen?“ Das war Etrigg, der sich mit all dem Respekt, den er seinem Herren schuldete, an Garrosh wandte.
„Ich kenne deine Meinung bereits, mein Berater“, brummte der Orc.
„Aber wir nicht“, rief Baine. „Etrigg war ein Freund meines Vaters und einer von Thralls Ratgebern. Er kennt die Allianz besser als die meisten von uns. Gewiss werdet Ihr nichts dagegen haben, wenn wir hören, was solch ein weiser Ältester zu sagen hat, oder?“
Der Blick, den ihm Garrosh daraufhin zuwarf, hätte selbst Steine zum Schmelzen gebracht. Der Taure hielt ihm jedoch mit gespielter Ruhe stand. Schließlich nickte der Häuptling Etrigg dann aber doch zu. „Sag, was du zu sagen hast!“, befahl er barsch.
„Es ist wahr, dass die Horde schon viel getan hat, um sich von dem Kataklysmus zu erholen“, begann der alte Orc. „Und das alles unter Eurer Herrschaft, Kriegshäuptling Garrosh. Ihr habt recht. Dieser Titel steht Euch rechtmäßig zu, und es ist an Euch, die Entscheidungen zu treffen. Aber ebenso tragt Ihr auch die Verantwortung. Denkt bitte eine Sekunde über die Konsequenzen nach, die diese Entscheidung haben würde!“
„Die Nachtelfen wären endlich fort, die Allianz hätte Angst, uns anzugreifen, und Kalimdor würde wieder der Horde gehören. Das wären die Konsequenzen, Ältester.“ Garrosh sprach das Wort ohne jeden Respekt aus. Tatsächlich klang es aus seinem Mund geradezu verächtlich. Baine fiel auf, dass zwei oder drei Orcs ob seines Tonfalls die Brauen zusammenzogen, bevor sie neugierig Etriggs Worten lauschten.
Der Berater schüttelte den Kopf. „Nein“, entgegnete er. „Das ist es, was Ihr hofft. Ihr hofft, Euch diesen Kontinent zu eigen machen zu können. Und vielleicht wird es Euch auch gelingen. Aber Ihr würdet dadurch einen Krieg beginnen, der Armeen in allen Ecken der Welt betreffen würde. Horde und Allianz würden sich in einem Konflikt gegenüberstehen, der Jahre andauern und unsere Ressourcen aufzehren würde. Ist denn der Preis, den wir gezahlt haben, nicht schon hoch genug?“ Die Orcs, die so aufmerksam gelauscht hatten, nickten nun. Einen von ihnen erkannte Baine als einen Ladenbesitzer hier aus Orgrimmar. Ein anderer, der zustimmend den Kopf neigte, war überraschenderweise eine der Wachen, wenn auch kein Mitglied der Kor’kron-Elite.
„Preis?“, echote eine leicht schrille Stimme. „Ich habe nicht gehört, dass Kriegshäuptling Garrosh einen Preis erwähnt hat, Etrigg, mein Freund.“ Natürlich war es Handelsprinz Gallywig. Die Spitze seines Zylinders war alles, was man von ihm sehen konnte, aber die wogte lebhaft auf und ab, während er seine Rede schwang. „Ich höre nur eines aus seinen Worten heraus: Profit für uns alle. Warum nicht expandieren und die Ressourcen unserer Feinde übernehmen, während wir sie von unserem Land vertreiben? Selbst ein Krieg kann ein gutes Geschäft sein, wenn man es nur richtig anstellt!“
Baine hatte genug. Wie dieser gierige, selbstgefällige Goblin leichtfertig Scherze über das Blut von Helden und Feinden machte, das nur der Profite wegen vergossen werden sollte, dies zwang ihn, sein besonnenes Schweigen zu brechen.
„Garrosh!“, rief er. „Es gibt keinen hier, der behaupten wird, dass ich die Horde nicht liebe. Und ebenso kann niemand bestreiten, dass ich Euren Titel ehre.“
Garrosh sagte nichts. Er hatte bestimmt nicht vergessen, dass er Baine seine Hilfe vorenthalten hatte, als sie dringend benötigt wurde, dennoch respektierte ihn der Taure nach wie vor als Kriegshäuptling. Davon abgesehen hatte Baine einmal sogar Garroshs Leben gerettet. Darum verbot er ihm nicht das Wort … zumindest noch nicht.
„Ich kenne diese Lady. Ihr nicht. Sie hat unermüdlich auf den Frieden hingearbeitet, weil sie wusste, dass wir keine Monster sind, sondern Personen – so wie jene Personen, die die Allianz bilden.“ Seine stechenden Augen glitten über die Menge hinweg, und jeder Hitzkopf, der versucht war, hochzufahren und zu protestieren, weil er Menschen, Nachtelfen, Zwerge, Draenei, Worgs und Gnome als „Personen“ bezeichnete, war schlau genug, sich auf die Zunge zu beißen, als er seinem Blick begegnete. „Sie hat mir in ihrem Haus Hilfe und Unterkunft gewährt. Sie stand mir bei, wenn nicht einmal Mitglieder der Horde dies getan hätten. Sie hat es nicht verdient, so verraten zu werden, und …“
„Baine Bluthuf!“, knurrte Garrosh, während er mit wenigen Schritten zum Oberhäuptling der Tauren hinüberstampfte. Baine überragte ihn zwar um ein ganzes Stück, doch davon ließ sich der Orc nicht einschüchtern. „Ich rate dir, hüte deine Zunge, falls du nicht das Schicksal deines Vaters teilen möchtest!“
„Ihr meint, durch Betrug zu sterben?“, schnappte Baine zurück.
Garrosh brüllte. Der Erzdruide Hamuul Runentotem trat im selben Augenblick vor wie Etrigg, und dann schob sich jemand zwischen Baine und Garrosh – der Schwarzfelsorc. Er berührte Baine nicht, aber der Taure konnte dennoch das Feuer des Hasses fühlen, das die paar Zentimeter zwischen ihnen erfüllte. Die Augen des Orcs blitzten, aber ihr eisiger Blick kühlte die Hitze seines Zornes nicht ab, sondern verstärkte sie sogar noch. Ein Schauder des Unbehagens rann durch Baines Körper. Wer war dieser Krieger?
„Malkorok“, zischte Garrosh. „Das reicht.“
Eine gefühlte Ewigkeit blieb der Orc reglos vor ihm stehen. Baine hatte keine große Lust zu einem Kampf – nicht hier, nicht jetzt. Garrosh oder seinen grauhäutigen Krieger anzugreifen, dessen einzige Aufgabe es offenbar war, ihn zu beschützen, das würde den Zorn des jungen Kriegshäuptlings nur weiter schüren, und dann wäre er der Stimme der Vernunft wahrscheinlich gar nicht mehr zugänglich. Schließlich stieß Malkorok den Atem in einem verächtlichen Zischen durch die Nase aus und tat, wie ihm geheißen.
Nun schob sich Garrosh nach vorn und reckte das Gesicht zu dem des Tauren hoch.
„Jetzt ist nicht mehr die Zeit für Frieden! Jetzt ist es Zeit für Krieg – für einen Krieg, der schon längst überfällig ist! Dein eigenes Volk leidet unter der Expansion der Allianz. Ohne provoziert worden zu sein, haben sie sich in eurem Land ausgebreitet. Falls jemand wünschen sollte, dass wir zumindest die Feste Nordwacht zerstören, wenn nicht noch mehr, dann solltet ihr Tauren es sein! Du sagst, Jaina Prachtmeer hat dir einmal geholfen. Heißt das, deine Loyalität gilt ihr und der Allianz, die deine Leute umgebracht hat … oder stehst du noch immer zu mir und der Horde?“
Baine atmete lange und tief ein und ließ die Luft dann durch seine Nüstern wieder entweichen. Anschließend beugte er seinen Kopf vor, sodass ihn nur noch zwei Zentimeter von Garrosh trennten. Er flüsterte so leise, dass nur der Orc es hören konnte: „Hätte ich mich gegen Euch und die Horde gestellt, dann hätte ich das schon lange vor dem heutigen Tage getan, Garrosh Höllschrei. Auch wenn Ihr sonst kein Wort glaubt, das ich sage – das könnt Ihr glauben.“
Einen Herzschlag lang sah es aus, als würde ein beschämter Ausdruck über Garroshs braunes Gesicht huschen, doch dann kehrte die Wildheit in seine Züge zurück, und der Orc wirbelte herum, um sich wieder an die versammelte Menge zu wenden.
„Das ist der Wille eures Kriegshäuptlings“, erklärte er geradeheraus. „Das ist der Plan. Erst die Feste Nordwacht, dann Theramore, und dann vertreiben wir die Nachtelfen und nehmen uns, was ihnen gehört. Was die Bedenken bezüglich der Allianz betrifft“, fuhr er mit einem Seitenblick in Sylvanas’ Richtung fort, „versichere ich euch, dass wir jede ihrer Bemühungen schnell zerschlagen werden. Ich bin für eure Loyalität in dieser Sache dankbar, aber etwas anderes habe ich auch nicht von der großen Horde erwartet. Kehrt nun in eure Städte zurück und bereitet euch vor. Bald schon werdet ihr wieder von mir hören. Für die Horde!“
Der inbrünstige Jubel, der diesen Worten so oft folgte, erfüllte auch in diesem Augenblick die Festung. Baine stimmte in die Rufe mit ein, aber seinem Herzen war nicht nach Triumphgeschrei zumute. Nicht genug damit, dass Garroshs Plan in gefährlichem Maße skrupellos war – was an sich schon ausreichen würde, um ihn zu missbilligen –, nein, er fußte auch noch auf Verrat und Hass. Die Erdenmutter könnte einem solchen Unterfangen nie ihren Segen geben.
Ein letztes Mal schwenkte Garrosh Blutschrei über seinem Kopf, und als der Wind dabei durch die Löcher in der Klinge pfiff, schien die Waffe zu singen. Anschließend senkte der Kriegshäuptling die Axt und verließ den Raum. Der Schwarzfelsorc – Malkorok, so hatte Garrosh ihn genannt – ging unmittelbar hinter ihm, noch vor Etrigg und selbst vor den Kor’kron. Die Orcs, die entlang der Wände der Festung Stellung bezogen hatten, nahmen Haltung an, dann folgten sie ihrem Anführer nach draußen.
Nun begann sich die Menge auch aufzulösen. Als Baine sah, wie sich ein blauhäutiger, rothaariger Trollanführer auf ihn zuschob, verlangsamte er seine Schritte.
„Du hast ihn gereizt“, sagte Vol’jin ohne Umschweife.
„Ja. Das … war nicht klug.“
„Nein, war es nich’. Darum hab ich den Mund gehalt’n. Ich muss an meine Leute denk’n.“
„Ich verstehe.“ Die Trolle lebten nicht weit von Orgrimmar entfernt und würden Garroshs Zorn darum viel unmittelbarer spüren, sollten sie ihn erzürnen. Baine machte Vol’jin keinen Vorwurf. Er musterte den Troll. „Aber ich weiß, was dein Herz dir sagt.“
Vol’jin seufzte traurig und nickte. „Wenn wir diesen Pfad beschreit’n, wird uns das nichts Gutes bring’n.“
„Sag mir, weißt du, wer dieser Malkorok ist?“
Der Troll schnaubte. „Ein Schwarzfels. Man sagt, er kann das Sonn’nlicht in Durotar noch immer nich’ aussteh’n, weil er so lang im Berg Schwarzfels gelebt und Rend gedient hat.“
„Dachte ich mir schon“, brummte Baine.
„Er hat sich von Rend losgesagt und um Vergebung für seine früher’n Verbrech’n gebet’n. Garrosh hat ihn in seine Reih’n aufgenomm’n, und er bietet jedem dasselbe an, der schwört, ihn mit seinem Leb’n zu schütz’n. Tja, und jetzt hat er dies’n hübsch’n, groß’n Hund mit den scharf’n Zähn’n, der ihn bewacht.“
„Aber – wie kann man so jemandem vertrauen?“
Vol’jin lachte kurz. „Es gibt Leute, die würd’n sag’n: Wie kann man einem Grimmtotem vertrau’n? Und doch lässt du die, die dir Treue schwör’n, in Donnerfels leb’n.“
Baine zog die Brauen zusammen. Er musste an Tarakor denken, einen schwarzen Bullen, der unter Magatha gedient hatte. Er hatte den Angriff gegen Baine geführt, später aber für sich und seine Familie um Vergebung gebeten. Baine hatte ihm verziehen und es nie bereut, ebenso wenig wie bei den anderen, denen er diese Gnade erwiesen hatte. Doch irgendwie war ein Grimmtotem nicht das Gleiche wie ein Schwarzfelsorc für ihn.
„Vielleicht sind es nur Vorurteile“, meinte er. „Ich habe eine höhere Meinung von Tauren als von Orcs.“
„In letzter Zeit“, flüsterte Vol’jin, nachdem er sich versichert hatte, dass niemand sie belauschte, „hab’ ich das auch.“
Garrosh wartete draußen, damit diejenigen, die diese Gelegenheit nutzen wollten, ihm die Treue zu schwören, dies ohne unnötige Umstände tun konnten. Jetzt gerade kniete ein weiblicher Goblin vor ihm und plapperte irgendetwas vor sich hin, da sagte Malkorok plötzlich: „Da ist er.“
„Bring ihn her!“
Er unterbrach die Goblinfrau, tätschelte ihren Kopf und erklärte: „Ich akzeptiere deinen Eid.“ Dann schob er sie mit seinem Fuß aus dem Weg, als Malkorok zurückkam, neben sich den Anführer der Blutelfen. Lor’themar neigte in einer Geste des Respekts das bleiche, blonde Haupt.
„Ihr wolltet mich sprechen, Kriegshäuptling?“
„Ja, das wollte ich“, brummte Garrosh, während er den Blutelfen ein paar Schritte von den anderen fortführte, sodass sie sich unter vier Augen unterhalten konnten. Malkorok stellte sich vor sie und verschränkte die mächtigen grauen Arme vor der Brust, um dafür zu sorgen, dass niemand sie störte. „Von all den Anführern, mit Ausnahme allenfalls von Gallywix – der mich aber nur unterstützt, weil er einen Profit wittert –, bist du der einzige, der seinen Kriegshäuptling nicht anzweifelt. Nicht einmal, wenn Sylvanas versucht, an dein Mitgefühl zu appellieren. Ich weiß das zu schätzen, Elf. Du sollst wissen, dass deine Loyalität zur Kenntnis genommen wird.“
„Die Horde hat mein Volk aufgenommen und unterstützt, als sonst niemand uns helfen wollte“, entgegnete Lor’themar. „Das werde ich nicht vergessen. Und darum gilt meine Loyalität – und die meiner Leute – ganz und gar der Horde.“
Unruhe breitete sich in Garrosh aus, als ihm auffiel, wie der Blutelf die Betonung auf das letzte Wort legte. „Ich bin der Kriegshäuptling der Horde, Lor’themar. Und als solcher bin ich die Horde.“
„Ihr seid der Kriegshäuptling“, bestätigte Lor’themar bereitwillig. „Ist das alles, was Ihr von mir wolltet? Meine Leute warten ungeduldig darauf, nach Hause zurückzukehren und die Vorbereitungen für den Krieg zu treffen.“
„Gewiss“, sagte Garrosh. „Du darfst gehen.“
Der Blutelf hatte nichts Aufwieglerisches gesagt, dennoch wollte Garroshs Nervosität nicht weichen, als er dem Meer aus Rot und Gold nachblickte, das in Richtung der Tore von Orgrimmar verschwand.
„Den sollten wir im Auge behalten“, meinte er, an Malkorok gewandt.
„Wir sollten sie alle im Auge behalten“, erwiderte der Schwarzfelsorc.