8

Die Tauren und Trolle hatten ihren Marsch fortgesetzt, während die Nacht in die Morgendämmerung übergegangen war, und dabei einen weiten Bogen um den vorgelagerten Gefechtsstand der Allianz gemacht. Bislang waren sie auf keinerlei Widerstand gestoßen, doch als sie sich einen Weg durch die Überwucherung bahnten, entdeckten sie die Überreste eines Lagers. Das Feuer hatte man gelöscht, doch die Asche war noch warm. Wer hier gerastet hatte, ließ sich nicht sagen. In diesem Gebiet trieben sich sowohl Mitglieder der Horde als auch der Allianz herum, und eigentlich gab es fast immer jemanden, der hier von einem Ort zum nächsten wanderte. Der Kataklysmus hatte die Leben der Leute ebenso durcheinandergewirbelt wie das Land. Vorsichtig gingen sie weiter, aber Baine begann sich allmählich zu fragen, ob es sein konnte, dass man ihren Vormarsch noch gar nicht bemerkt hatte?

Kurz darauf stießen sie auf ein kleines Taurenheiligtum, und Baine ließ haltmachen. „Das ist ein Zeichen“, sagte er. „Hier wurden unsere Brüder und Schwestern von ihren Körpern befreit. Hier werden wir Rast einlegen, um unsere Herzen auf die Schlacht und unsere Seelen auf die Möglichkeit des Todes vorzubereiten. Trollbrüder, ich weiß, das ist nicht euer Ritual, aber ihr könnt euch gerne zu uns setzen, um über das Leben nachzusinnen und über jene, die vor uns dahingeschieden sind. Außerdem“, fügte er noch hinzu, „wollen wir den Segen unserer Vorfahren erbitten. Mögen sie uns führen, auf dass wir tun, was für unser Volk das Richtige und Beste ist.“

Baine schlug jedoch nicht vor, dass seine Leute die Vorfahren um ihren Segen für die kommende Schlacht bitten sollten. Die alten Tauren wären mit so etwas gewiss nicht einverstanden gewesen. Er dachte an Cairne Bluthuf: Nein, der hätte einem solchen Vorhaben niemals seinen Segen gegeben. Eine Mischung aus wilder Kampfeslust und Beunruhigung herrschte unter den Trollen und Tauren, als sie sich versammelten, und Baine, der seine Leute gut kannte, konnte ihren inneren Konflikt spüren. Einen Konflikt, der auch im Herzen ihres Anführers wütete.

Nach ein paar Sekunden – in denen einige Gesänge anstimmten, andere sich zum Gebet hinknieten und wieder andere einfach nur respektvoll dastanden – wurde es Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen. Der Große Graben klaffte zu ihrer Linken, und der Pfad neigte sich ein wenig, bevor er sie in eine wellige Hügellandschaft führte.

„Sieht aus, als hätt’n wir Glück gehabt“, meinte Vol’jin.

„Ich glaube nicht, dass irgendwelche Späher es noch geschafft haben, sie zu warnen“, sagte Baine grimmig.

Vol’jin blickte von seinem Raptor zu dem Tauren auf. „Sie hab’n Camp Taurajo zerstört, Freund“, erinnerte er ihn.

„Ja“, nickte Baine. „Sie haben ein militärisches Ziel ausgeschaltet. Aber ihr General hat sich geweigert, die Zivilisten niederzumetzeln. Er hätte jederzeit den Befehl geben können, sie alle abzuschlachten, doch er hat es nicht getan.“

Vol’jins Augen wurden schmal. „Wirst du den Leuten der Allianz dieselbe Gnade erweis’n?“

„Ich glaube nicht, dass es in der Festung Zivilisten gibt“, entgegnete Baine. Falls er Gefangene nehmen sollte, da war er sich sicher, würde Garrosh ihm ohnehin befehlen, sie hinzurichten. Aber das sprach er nicht laut aus. Ja, es war eine militärische Einrichtung, und dass der Kriegshäuptling sie zu ihrem ersten Ziel erklärt hatte, zeugte von guter taktischer Führung.

Das Problem war nur, Garrosh war an der Feste nicht als einem militärischen Ziel interessiert. Der Allianz die Kontrolle über die Nordwacht zu entreißen, war für ihn weniger eine Strategie, sondern vielmehr ein Sprungbrett. Sein echtes Ziel war Theramore. Dort hatte die Allianz zahlreiche Soldaten und Seemänner stationiert. Doch gab es hier auch ein Gasthaus und viele Händler und Familien, die in der Stadt lebten. Ebenso wie die eine, die Baine Bluthuf stets gerecht und freundschaftlich behandelt hatte.

Sie umrundeten eine Biegung des Weges, und als sich das Gelände vor ihnen öffnete, konnte der Taurenhäuptling in der Ferne grauen und weißen Stein sehen: die Türme der Nordwacht. Er hob eine Hand, woraufhin der Heereszug stehen blieb, um sich auf den Sturmangriff vorzubereiten – und fast gleichzeitig wurde die Stille des Brachlandes von Gewehrfeuer zerrissen. Die Trolle und Tauren reagierten sofort, indem sie ihre eigenen Gewehre und Pfeile auf die Allianzsoldaten richteten, die aus der Richtung der Hügel angriffen.

Wut wallte in Baine hoch. Er hätte damit rechnen müssen, doch er hatte sich von dem falschen Gefühl der Sicherheit einlullen lassen, und jetzt fielen seine Leute, wo sie gestanden hatten, und zahlten den Preis für seine Torheit.

„Vorwärts!“, schrie er, und seine vom Zorn noch verstärkte Stimme hallte weithin. „Schamanen! Unterbrecht ihr Feuer!“

Die Schamanen gehorchten, während die übrigen Trolle und Tauren losstürmten, so schnell ihre Füße sie trugen. Einen Augenblick später wurden die Schützen der Allianz auch schon durch plötzlich heranpeitschende Windböen von den Füßen gerissen, und einige andere kreischten vor Schmerzen, als ihre Kleider in Flammen aufgingen. Der Versuch der Menschen, sich neu zu gruppieren, endete in völligem Durcheinander, denn inzwischen hatten die Krieger von Mulgore bereits die Straße zur Feste erreicht und stürzten sich blutdürstig in die Schlacht.


„Die Tauren sind hier!“

Der Ruf wanderte die Reihen der Orcs entlang, während sie von Norden aus auf die Festung der Allianz zumarschierten. Diesen Worten folgte lauter Jubel. Garrosh, der Blutschrei über dem Kopf schwang, während er persönlich den Angriff anführte, gönnte sich einen Moment, um Malkorok zuzugrinsen. Er konnte das Geräusch hören, mit dem die gewaltigen Felsbrocken gegen die ohnehin schon beschädigten Mauern der Feste prallten, und dann warf er den Kopf zurück, um einen freudigen Schrei auszustoßen.

Er wünschte sich, diesen Plan schon viel früher umgesetzt zu haben. Der Kataklysmus hatte einige der Mauern der Burg zum Einsturz gebracht, und die Narren der Allianz hatten nicht einmal versucht, sie wieder richtig aufzubauen. Jetzt würden sie es bitterlich bereuen und für dieses Versäumnis mit Blut bezahlen.

Die Orcs stürmten über die behelfsmäßigen Brücken aus Felsen und Planken. Eine Wache rannte ihnen entgegen, direkt auf Garrosh zu. Es war ein Mensch, stark und schnell und im Umgang mit seiner Waffe erfahren, aber gegen die Kor’kron, die einen Kreis um den Kriegshäuptling bildeten, hatte er keine Chance. Die Orcs brüllten ihre Kriegsschreie hinaus, während sie sich auf ihn stürzten, mit ihren Schwertern auf ihn einhieben und mit ihren Streitkolben seinen von Metall umhüllten Körper zermalmten. Einer dieser Hiebe traf mit einem so lauten Knacken, dass es selbst über den Lärm der Trommeln, der Kämpfe und des Kanonenfeuers noch zu hören war. Danach sank die Wache zu Boden. Die Kor’kron und Garrosh stürmten über seinen gefallenen Körper hinweg, aber im Vorbeirennen gewährte der Kriegshäuptling dem Toten ein anerkennendes Nicken.

Die Donnerschreiorcs hatten ihnen sämtliche Schwachstellen der Feste aufgezählt, Garrosh wusste also ganz genau, wohin er seine Leute zu führen hatte. Die erste Welle schlug sich ausgezeichnet und stürmte die Straßen zu den Hofbereichen hinauf, während der Kriegshäuptling auf eine erhöhte Position kletterte, um die Lage abzuschätzen.

Links von ihm kamen die Schiffe der Blutelfen, Goblins und Verlassenen näher, genauso wie geplant. Trotz des Kanonendonners, der klang, als würde die Allianz ohne Unterlass feuern, hatten es mehrere Beiboote bereits an Land geschafft, und ihre Insassen rannten nun auf ihre Feinde zu und streckten sie gnadenlos nieder.

Zu seiner Rechten hämmerten die Trolle und Tauren derweil unermüdlich auf die Mauern ein, und während Garrosh noch hinüberblickte, brach eine von ihnen in sich zusammen, woraufhin eine Woge brauner, fellbedeckter oder blauhäutiger Leiber durch die Bresche strömte.

Unmittelbar vor ihm waren schließlich die Orcs – seine Orcs, sein Volk, die einzig wahren und ursprünglichen Mitglieder der Horde – und metzelten und schrien und lachten.

Es sollte nicht mehr als eine Stunde dauern, die Schlacht zu entscheiden; dann wären seine Krieger tief genug in die Feste vorgedrungen, dass keine schlaue List und keine verzweifelte Strategie von Admiral Aubrey die Angreifer noch zurückdrängen konnte. Doch Garrosh hatte nicht vor, so lange zu warten. Sein Blick huschte über das Kampfgeschehen hinweg. Der Großteil seiner Armee war weitergestürmt, nur ein paar Orcs waren hier am Rande der Schlacht zurückgeblieben, um die Wachen auszuschalten, die noch versuchten, den Angreifern den Weg in die Festung zu versperren. Sie würden keine weiteren Brücken bauen müssen.

Es war Zeit, den finalen Schlag anzubringen und diese Schlacht mit einem schnellen, entschlossenen Sieg zu beenden.


Ein paar Fuß unter ihm kämpfte Malkorok gerade mit drei Wachen – zwei Menschen, einer von ihnen war ein Mann, der andere eine Frau, sowie einem Zwerg. Die meisten Orcs bevorzugten große Waffen wie beidhändige Breitschwerter, schwere Äxte oder Hämmer, doch der Schwarzfelsorc benutzte in der Schlacht lieber zwei kleine, aber scharfe Äxte, die sich wunderbar schnell wirbeln ließen. Als die drei auf ihn zustürmten und ihn zu umzingeln versuchten, lachte er vor Hohn. „Tod der Allianz!“, brüllte er, nach vorn gebeugt und grinsend, dann schnellte er vor, viel schneller, als seine Gegner erwartet hatten. Die Äxte verschwammen in der Luft, zwei glänzende Wirbel des Todes. Bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah, hatte er die glücklose Menschenfrau bereits fast in zwei Teile gehackt, aber Malkorok wurde danach nicht langsamer. Stattdessen wirbelte er herum und ließ dem Hieb mit der einen Axt einen Schlag mit der anderen folgen. Der Zwerg konnte zwar noch mit seinem Schwert ausholen, aber die Klinge prallte von Malkoroks Rüstung ab, ohne Schaden anzurichten, und dann hatte ihm der Orc seine Axt auch schon tief in die ungeschützte Stelle zwischen Hals und Schulter gerammt. Während der Zwerg zusammenbrach, drehte Malkorok seinen Körper und wirbelte erneut die beiden Äxte; dass ihm an einer Hand zwei Finger fehlten, behinderte ihn dabei in keiner Weise. Die männliche Menschenwache riss ihr Schwert hoch, um die Schläge zu parieren, doch sie konnte nur einen abwehren. Mit einem Brüllen hob Malkorok die zweite, blutbesudelte Axt über den Kopf und begrub sie in der Brust des Mannes.

Anschließend wirbelte er herum, und seine Augen suchten schon nach einem neuen Ziel. Aber als sein Kriegshäuptling seinen Namen rief, zuckte sein Blick sofort zu ihm hoch.

„Die Schamanen!“, rief Garrosh. „Schick sie hinein!“

Malkorok grinste und reckte die Faust in die Höhe, um anzuzeigen, dass er den Befehl verstanden hatte. Garrosh nickte ihm kurz zu, dann schloss er seine Hände fester um Blutschrei, warf den Kopf zu einem wilden Heulen in den Nacken und sprang von seinem Aussichtspunkt herunter. Er landete auf einem Felsblock, stürmte danach durch das Wasser und kletterte auf mehrere ungleichmäßig platzierte Planken hinauf, um ans Ufer zu eilen. Garrosh Höllschrei hatte den letzten Befehl ausgesprochen, den er in dieser Schlacht geben musste, und Malkorok konnte sehen, wie sehr es ihn freute, dass er nun endlich Schulter an Schulter mit seinen Orcbrüdern kämpfen und die Streiter der Allianz mit der berühmten Waffe seines Vaters niedermetzeln konnte.

Der Schwarzfelsorc streckte den Arm aus, packte den Kor’kron, der ihm am nächsten stand, und wiederholte den Befehl. Der Krieger nickte und rannte zurück in Richtung Norden, wo die meisten der Schamanen bislang als Reserve gewartet hatten. Doch nun war ihr Augenblick gekommen.

Es dauerte nur ein paar Minuten, dann eilten mehrere von ihnen in die Schlacht. Die meisten waren Orcs, die aber nicht die schlichten weißen und erdbraunen Roben trugen, wie es eigentlich typisch für ihren Rang war; stattdessen steckten sie in bedrohlicher wirkenden Kleidern, die sie ein wenig wie Hexenmeister aussehen ließen. Mit kaum verhohlener Aufregung stürmten sie nach vorn.

Die Krieger, die die Schamanen begleiteten, bahnten ihnen einen Weg durch die Gruppen hektisch miteinander kämpfender Allianz- und Horde-Streiter, wobei sie ihre Schutzbefohlenen mit den schweren Panzerrüstungen vor dem Feind abschirmten. Die Schamanen machten keinerlei Anstalten, ins Kampfgetümmel einzugreifen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt vielmehr den Felsblöcken, die einige Meter vor ihnen in Schlamm und Wasser lagen.

Als sie sich der Stelle näherten, wurden die Schamanen langsamer, und während sie ihren Atem beruhigten, warfen sie einander Blicke zu und teilten ein verstohlenes Lächeln. Einen Moment später hoben sie die Hände und stießen die Befehle hervor, die die Elemente zum Gehorsam zwingen sollten.

Malkorok wusste bereits, was nun kommen würde, dennoch hielt er kurz im Kampfgetümmel inne, um es sich anzusehen. Sein Herz war von orcischem Stolz erfüllt. Da lagen mindestens zwei Dutzend Felsbrocken im Wasser; erst hatten sie den Truppen und den schwereren Waffen den Weg zur Feste gebahnt, und nun würden sie ihren zweiten Zweck erfüllen.

Unter dem erwartungsvollen Blick des Schwarzfelsorcs begannen die Felsen zu beben. Ihre Farbe wechselte, erst vom dunklen Rot und Braun einfachen Steins zu einem tieferen Rot, dann zu einem fleckigen Orange, und danach … schmolzen sie. Das Wasser konnte diese Verwandlung nicht aufhalten, das Magma nicht wieder in Stein verwandeln, wie es eigentlich der Fall sein müsste. Diese Felsen ließen sich nicht mehr abkühlen. Stattdessen fing das Wasser zu kochen und zu verdampfen an, als würde es voller Furcht vor diesem Zauber zurückschrecken, der in seiner Mitte gewirkt wurde. Die Steine bebten auch weiterhin, sie pulsierten regelrecht, während sie ihre Form verloren und sich verflüssigten. Ihre Hitze war so gewaltig, dass selbst die Schamanen, die sie kontrollierten, den Kopf abwenden oder ein paar Schritte zurück machen mussten.

Eine Ranke schoss aus einem der Felsen nach oben, dicht gefolgt von einer zweiten und einer dritten und dann noch einer. Während auch aus den anderen Steinblöcken diese Tentakel in die Höhe schnappten, wurden die Ranken des ersten Felsens bereits kürzer und dicker, und nun wuchsen Finger und Zehen aus ihnen hervor. Ein Kopf barst aus der Spitze, und ein Maul öffnete sich klaffend unter kleinen, glühenden Augen, die sich erst umblickten, dann an ihrem Körper hinab- und schließlich zu den Schamanen hinübersahen, die sie kontrollierten. Eines der Wesen grollte und drehte sich langsam herum, den Arm nach dem Schwarzfelsorc ausgestreckt. Doch als Malkorok gebieterisch die Hand hob, zuckte der geschmolzene Riese – denn nichts anderes war er – vor ihm zurück und stapfte nach vorn auf die Feste zu. Er würde gehorchen.

Selbst die Orcs, die mit dem Auftauchen der Titanen gerechnet hatten, schienen ob dieses Anblicks vor Ehrfurcht erstarrt. Und ihr habt auch allen Grund dazu, dachte Malkorok.

„Allianz!“, schrie er. „Seht die Macht, über die Garrosh Höllschrei gebietet! Seht und zittert und sterbt!“


Baine schwang seinen Streitkolben und drängte zwei Soldaten mit Piken zurück. Die Luft rings um ihn war von Lärm erfüllt: das Krachen von Gewehrfeuer, das Donnern von Kanonen, das Pfeifen, mit dem Pfeile von Sehnen schnellten, die Schreie der Horde und der Allianz, als ihre Krieger miteinander rangen und starben. Einer der Soldaten sprang auf ihn zu, aber Baine bewegte sich schneller, als der Mensch erwartet hatte, sodass die Pike nur leere Luft durchbohrte. Als der Soldat nach vorn stolperte, fällte ihn der Streitkolben des Tauren. Der andere Kämpfer der Nordwacht glaubte, diese Chance nutzen zu können, aber Baines Waffe zerbrach den Schaft seiner Pike, als wäre sie ein Zweig, und dann – auf dem Rückschwung – zerschmetterte der Kolben den Schädel des Menschen wie eine Walnuss.

Der Taure schüttelte den Kopf, Bedauern erfüllte ihn. Zumindest war es ein schneller Tod gewesen.

Da erkannte er, dass sich die Geräuschkulisse verändert hatte; ein neues Geräusch war hinzugekommen: ein tiefes, zorniges Brüllen, als hätte der Boden selbst eine Stimme bekommen. Baines Ohren stellten sich auf, und sein Kopf ruckte herum, um dem Geräusch zu folgen. Seine Augen weiteten sich, doch bevor er etwas sagen konnte, erhob sich eine zweite Stimme, laut und voll von gerechtfertigtem Zorn.

„Im Namen der Erdenmutter!“, bellte Kador Wolkenlied. „Garrosh! Was hast du getan?“

„Was sind das für – Dinger?“, fragte Baine.

Kador drehte sich zu ihm herum, sein Fell sträubte sich vor Wut. „Das sind geschmolzene Riesen“, erklärte er, „mächtige Elementarwesen des Feuers, die nicht freiwillig mit den Schamanen zusammenarbeiten, sondern erst gezwungen werden müssen, ihren Befehlen zu gehorchen. Die Erdenmutter ist wütend, dass ihre Kinder so benutzt werden. Der Irdene Ring hat einen derartigen Missbrauch untersagt, weil man befürchtet, dass die Erde dadurch weiter erschüttert wird.“

„So wie durch den Kataklysmus“, murmelte Baine.

Die treffend betitelten geschmolzenen Riesen ergötzten sich offenbar an der Zerstörung. Sie marschierten hierhin und dorthin, hoch über den Köpfen von Allianz und Horde aufragend, und schwangen ihre Arme, um zu zerschmettern, was immer sich in Reichweite befand.

Baine hatte genug gesehen. „Rückzug!“, schrie er. „Rückzug! Zieht euch zurück, Tauren von Mulgore!“ Er hatte sein Wort gehalten, seine tapferen Krieger auf das Schlachtfeld geführt. Und sie hatten furchtlos gekämpft: Seine Pflicht dem Kriegshäuptling gegenüber war erfüllt. Er würde nicht danebenstehen und zusehen, wie diese Monster im Namen von Garroshs törichter – und gefährlicher – Arroganz über die Menschen herfielen.


„Seht und sterbt!“ Die Krieger der Horde nahmen den Ruf auf, ihr Blutdurst war durch etwas angefacht, das hämischer Schadenfreude nahekam.

Dieser Moment entschied die Schlacht, genau wie Garrosh vorhergesagt hatte. Die Verteidiger der Allianz sahen voller Grauen zu, wie fast ein Dutzend Titanen aus geschmolzenem Fels auf sie zustampften, und viele von ihnen wurden unter den Füßen der Riesen zermalmt. Andere starben, als die verbliebenen Mauern mit gleichgültigen Schlägen zerschmettert wurden.

„Haltet eure Positionen, Soldaten der Allianz!“ Der Ruf erklang von einem der Türme herab. Mit einem leisen Lachen legte Malkorok den Kopf in den Nacken, um den Menschen dort oben sehen zu können. Er trug den Hut eines Admirals und versuchte ebenso verzweifelt wie erfolglos, seine Truppen zu mobilisieren. Es war ein närrischer Versuch, dennoch konnte der Schwarzfelsorc nicht anders, als diesem zum Tode verurteilten Menschen Respekt zu zollen. Zumindest würde er in Ehre sterben.

Die meisten der Soldaten, die er befehligte, ergriffen jedoch die Flucht, und Malkorok wollte ihnen keinen Vorwurf machen, schließlich war es genau die Reaktion, auf die Garrosh gezählt hatte.

Vor Angst keines klaren Gedankens mehr fähig, hatten viele der Menschen einfach ihre Waffen fallen lassen, und nun rannten sie der vermeintlichen Sicherheit des Wassers oder der Hügel entgegen. An jedem Ort wollten sie lieber sein als hier, wo ihnen der sichere Tod durch Kreaturen aus flüssigem Fels und Hass bevorstand. So wurden die flüchtenden Soldaten aber nur zu noch leichterer Beute für die Krieger der Horde, die an sämtlichen Ausgängen warteten. Es war beinahe schon zu einfach. Sollte es tatsächlich jemandem gelingen zu fliehen, dann müsste er schon äußerstes Glück haben.

Malkorok setzte ebenfalls den Allianz-Soldaten nach, die ihr Heil in der Flucht suchten. Sie hatten zu viel Angst, um auch nur gut zu kämpfen, und er streckte sie ohne große Gegenwehr nieder. Nach ein paar Sekunden waren die Auseinandersetzungen in seiner unmittelbaren Umgebung abgeebbt, und die einzigen Allianz-Mitglieder, die er noch sehen konnte, lagen reglos auf dem Boden. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er sich nach weiteren Kämpfen um, in die er eingreifen könnte, ohne jedoch fündig zu werden. Die geschmolzenen Riesen setzten derweil ihren Marsch durch die Feste fort, wobei sie die Überreste der Mauern brüllend niederrissen und Kanonen und andere Kriegsmaschinen durch die Luft wirbelten, als wäre es Kleinholz.

Nun erblickte Malkorok Garrosh, der über die Leiche eines Worgen gebeugt stand. Der Schädel des Wesens lag einen Meter von seinem Körper entfernt, die wolfsgleichen Züge zu einem Zähnefletschen erstarrt, seine Augen jedoch vor Furcht geweitet. Garrosh drehte sich zu dem Schwarzfelsorc herum, sein Gesicht und sein Körper waren mit Blut bespritzt, und grinste wild hinter seinen Hauern hervor.

„Nun?“, rief er.

„Wir haben gewonnen, mein Kriegshäuptling!“, antwortete Malkorok. „Ich sehe keine Allianz-Kämpfer mehr, die noch auf ihren Beinen stehen.“

Garroshs Grinsen wurde noch breiter, er warf den Kopf zurück, die Arme ausgebreitet, und stieß einen durchdringenden Triumphschrei aus. „Ein Sieg für die Horde! Ein Sieg für die Horde!“

Schnell fanden sich andere, die den Ruf wiederholten, und kurz darauf breitete er sich unter den Truppen wie ein Lauffeuer aus. Malkorok sah, wie die geschmolzenen Riesen langsamer wurden und dann schließlich ganz stehen blieben, und erkannte, dass die dunklen Schamanen, die sie herbeibeschworen hatten, nun ebenfalls die freudigen Jubelschreie vernahmen und die Elementarwesen dorthin zurückschickten, wo sie hergekommen waren.

Das hieß … sie versuchten es zumindest.

Es schien nämlich, als wollten die geschmolzenen Riesen ihre Gestalt nicht wieder aufgeben. Sie wandten sich langsam herum, und ihre kleinen Köpfe mit den winzigen roten Augen schwenkten hin und her, während sie nach ihren „Meistern“ suchten. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung.

Malkorok und Garrosh blickten sich ebenfalls nach den schwarz gekleideten Gestalten um, die mit einer an Panik grenzenden Vehemenz ihre Gesten in die Luft zeichneten. Kurze Zeit standen sich Elementarwesen und Schamanen in einem Kampf des Willens gegenüber, anschließend öffneten die geschmolzenen Riesen im Gleichklang ihre Mäuler und stießen einen furchterregenden Schrei aus, in dem sich Zorn und Verzweiflung vermengten.

Die Erde selbst antwortete auf diesen Hilferuf.

Malkorok spürte, wie der Boden unter seinen Füßen erbebte, zunächst kaum merklich, dann aber immer heftiger. Alarmiert blickte er sich um, doch in der Nähe gab es keinen Ort, wo er Schutz suchen konnte. Da waren nur Leichen und Waffen und Trümmer, wo einst die Festungsmauern gestanden hatten.

Warnende Schreie hallten in der Luft wider, als einige der Krieger das Gleichgewicht verloren und hart stürzten. Sie klammerten sich am Boden fest, obwohl er nun ihr Feind war. Wie aus dem Nichts ballten sich am Himmel dunkle Wolken zusammen, und Blitze zuckten, sofort gefolgt von einem beinahe ohrenbetäubenden Donnergrollen.

Die Münder der geschmolzenen Riesen öffneten sich weiter und dann noch weiter, während ihre Schädel und Schultern allmählich verschmolzen und sich auflösten. Die Elementarwesen verloren ihre feste Form, Körper und Glieder flossen zu einer Masse zusammen, dann schwand auch ihre Farbe, sie wurden dunkelrot und schließlich wieder braun. Einen weiteren Augenblick später schrumpften sie zu ihrer ursprünglichen Gestalt zusammen – nun waren sie nur noch Felsbrocken, sonst nichts.

Ein letztes Mal bäumte sich der Boden noch auf und bebte, dann kam auch er wieder zur Ruhe. Die folgende Stille fühlte sich an, als wären Malkoroks Gehörgänge mit Baumwolle gefüllt. Seine Ohren brannten nach all dem Lärm, und nachdem sich die gestürzten Mitglieder der Horde vorsichtig wieder auf die Füße gestemmt hatten, konnte er erneut Jubelrufe hören.

„Wir haben nicht nur die Allianz besiegt“, sagte Garrosh, als er neben den Schwarzfelsorc trat und ihm auf den Rücken klopfte, „wir haben auch unsere Herrschaft über die Elemente unter Beweis gestellt!“

„Was Ihr unter Beweis gestellt habt“, fuhr eine tiefe, grollende Stimme dazwischen, der gewaltiger Zorn einen eisigen Unterton verlieh, „ist lediglich Euer Leichtsinn, Garrosh Höllschrei!“

Die beiden Orcs wirbelten herum und erblickten Baine Bluthuf und einen seiner Schamanen. Der Häuptling der Tauren stand in voller Kriegsmontur da, sein Gesicht war mit Farbe verschmiert, wenn es auch keine Kriegsbemalung war, seine Rüstung schien mit Blut besprenkelt. Doch er erfreute sich nicht an ihrem Sieg.

Baine fuhr fort: „Kador Wolkenlied hat mir gesagt, der Irdene Ring soll diese Verwendung der Elemente ausdrücklich verboten haben, Höllschrei.“

Malkorok zog die Brauen zusammen. „Du wirst ihn gefälligst als Kriegshäuptling ansprechen“, knurrte er mit leiser Stimme.

„Nun gut. Kriegshäuptling“, zischte Baine, „Eure Entscheidung, diese … diese geschmolzenen Riesen einzusetzen ist ein Frevel an der Erdenmutter – und an der Horde, auf die Ihr Anspruch erhebt! Begreift Ihr überhaupt, was Ihr da tut? Habt Ihr nicht den Zorn der Erde selbst gespürt? Ihr könntet einen zweiten Kataklysmus heraufbeschwören. Bei den Vorfahren, habt Ihr denn gar nichts gelernt? Soll die Welt noch ein weiteres Mal untergehen?“

Ich habe den Kataklysmus für uns zum Vorteil gewandelt!“, brauste Garrosh auf. „Das“ – er deutete mit dem Finger auf die Trümmer, die einst die Feste Nordwacht gewesen waren – „ist der erste große Schritt in Richtung der völligen und absoluten Eroberung dieses Kontinents! Als Nächstes wird Theramore fallen – und ich werde jedes Werkzeug einsetzen, das nötig ist, um diese Ziele zu erreichen, Taure!“

„Ihr könnt doch nicht die Welt …“

Malkorok packte Baine am Arm und reckte dem Tauren sein Gesicht entgegen. „Schweig! Du dienst dem Kriegshäuptling, Baine Bluthuf. Sein Wille ist für dich Gesetz! Wagst du es etwa, ihn zu beleidigen? Wagst du es? Denn falls du dies tatsächlich tust, dann fordere ich dich hier und jetzt zum Mak’gora heraus!“

Er kochte vor Wut – und betete, dass der Taure die Herausforderung annehmen möge. Wie sein Vater vor ihm war auch dieser Bluthuf ein Stachel im Fleisch der Orcs. Die Tauren waren generell zu weich, zu friedliebend, aber die Bluthufs waren die Schlimmsten, und – ganz gleich, wie Cairne nun gestorben sein mochte – soweit es Malkorok betraf, war sein Tod ein echter Glücksfall gewesen. Es wäre eine Ehre für ihn, Garrosh auch von seinem Sohn, Baine Bluthuf, zu befreien.

Die Augen des Taurenhäuptlings blitzten vor Zorn, dann brummte er leise: „Ich habe heute viele tapfere Kämpfer verloren, als wir dem Befehl des Kriegshäuptlings Folge leisteten. Ich spüre kein Verlangen danach, die Horde grundlos um einen weiteren Krieger zu bringen.“ Sein Blick richtete sich wieder auf Garrosh. „Ich erhebe meine Stimme allein aus Sorge um das, was geschehen könnte. Das wisst Ihr, Kriegshäuptling.“

Garrosh nickte. „Ich nehme deine … Bedenken zur Kenntnis, wenn sie auch unbegründet sind. Ich weiß, was ich tue. Ich weiß, wozu meine Schamanen imstande sind. Das sind meine Methoden, Häuptling. Und mein nächster Schritt wird der Marsch auf Theramore sein. Dort werde ich die Versorgungsader der Allianz auf Kalimdor durchtrennen und die Prachtmeer vernichten, diese Hündin, die Diplomatie mit Einmischung verwechselt. Auch für die Mondfederfeste, Teldrassil, die Mondlichtung und Lor’danel habe ich schon Pläne – sie werden alle fallen. Dann wirst auch du es sehen. Dann wirst du erkennen, wie die Dinge wirklich stehen.“

Er lachte. „Und dann werde ich deine Entschuldigung gerne entgegennehmen. Bis dahin aber“ – Garrosh wurde wieder ernst – „will ich aber kein Wort mehr hören über … deine Bedenken. Verstehen wir uns?“

Baine legte die Ohren an den Kopf an. Seine Nüstern zuckten. „Ja, mein Kriegshäuptling. Ihr habt Euch mehr als klar ausgedrückt.“

Malkorok blickte ihm nach, als er davonstapfte.


Baine fühlte sich, als hätte der Zorn auch sein Innerstes geschmolzen. Es hatte ihn die größte Mühe gekostet, nicht vor Wut zu explodieren, als Malkorok seine Herausforderung ausgesprochen hatte. Er hatte keine Angst, dass ihn der Orc besiegen könnte – bevor Magathas Gift ihn dahingerafft hatte, hatte Cairne in seinem Duell mit Garrosh klar die Oberhand gehabt. Nein, er hatte nur abgelehnt, weil es für ihn keine Möglichkeit gab, wirklich zu gewinnen. Es würde ohne jeden Zweifel wieder Gift verwendet werden, wenn diesmal vermutlich auch besser getarnt. Doch selbst wenn er Malkorok niederstreckte, würde man ihm in den Schatten einen Hinterhalt bereiten. Was sollte dann aus seinem Volk werden? Es gab noch keinen klaren Nachfolger für das Amt des Häuptlings, und Garrosh würde gewiss dafür sorgen, dass ein Taure gewählt wurde, der mehr nach seinem Geschmack war – oder sich leicht beeinflussen ließ.

Nein. Seine Leute brauchten ihn jetzt lebend. Also würde Baine weiterleben und tun, was man ihm befohlen hatte. Genau das, nur das, und nichts anderes. Wenn dann der Tag kam, an dem sein glorreicher Plan Garrosh das tätowierte Genick brach, würden er, Vol’jin und die anderen besonneneren Führer bereit sein, die Scherben einzusammeln und die Horde zu beschützen – oder was Garrosh dann noch von ihr übrig gelassen hatte.

Doch Baine Bluthuf war nicht hilflos. Der Gedanke, der sich während des Marsches in Richtung Nordwacht in seinem Kopf herauskristallisiert hatte, war inzwischen noch konkreter geworden, und jetzt, da er gesehen hatte, wie Garrosh gedankenlos, ohne Achtung und Respekt die Elemente missbraucht hatte, war auch sein Kopf von der Richtigkeit dieser Idee überzeugt, die seinem Herzen entsprungen war. Er blieb nicht, um den Siegesfeierlichkeiten beizuwohnen, und überließ seine Truppen Kadors fähigen Händen.

Stattdessen zog er sich zu seinem Reisetipi zurück, um diesen Plan auszuführen. Bevor er die Zeltklappe anhob, blickte er sich noch einmal sorgfältig um, konnte aber keine Spur lauschender Ohren ausmachen. Anschließend wandte er sich dem jungen Krieger zu, der vor dem Tipi Wache stand. „Schick Perith Sturmhuf her. Ich habe eine wichtige Aufgabe für ihn.“

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