Die Elfin war gut, das musste Malkorok ihr lassen. Dass sie zuvor schon Schlachten überlebt hatte, verriet nicht zuletzt die lange Narbe, die ihr Gesicht verunstaltete. Die anderen Mitglieder der Horde hatten erkannt, dass sich ihr Anführer selbst um diesen Feind kümmern wollte, und sich verteilt, um gegen andere Angreifer zu kämpfen. Von den Vorfahren gab es noch immer mehr als genug.
Die blauhaarige Nachtelfin war unglaublich schnell, obwohl das schwere Schwert, das sie schwang, ihre Bewegungen verlangsamen musste. Malkorok selbst war für einen Orc auch alles andere als träge, zudem waren seine Waffen viel leichter als die ihre. Und dennoch schnitten die beiden kleinen Äxte nur durch leere Luft, als er sie angriff. Im einen Augenblick stand Blauhaar noch hier, im nächsten hatte sie sich bereits unter seinen Hieben hinweggeduckt und stand dort drüben. Mehr als einmal verhinderte nur seine Rüstung Schlimmeres, als ihre Klinge gegen seine Mitte schlug. Sollte die glühende Schwertspitze die ungeschützte Stelle zwischen Torso und Arm finden …
Er hieb mit einer Axt zu, während er die andere über dem Kopf wirbelte, und sie tauchte zwar zu Seite weg, doch diesmal schnitt seine Klinge tief in ihren Schenkel. Die Elfin ächzte.
„Ha!“, schnaubte Malkorok. „Wenn du blutest, kann ich dich auch töten.“
Doch da sprang sie unglaublich schnell auf ihn zu, den Mund zu einem Zähnefletschen geöffnet, das jedem Worgen Ehre gemacht hätte. Der Orc riss beide Äxte hoch und kreuzte sie schützend vor seinem Körper. Zu seinem Schrecken ignorierte Blauhaar ihre Wunde vollkommen und sprang stattdessen mit ihrem verletzten Bein auf die Äxte zu, so leichtfüßig, als hätte er ihr mit verschränkten Händen eine Räuberleiter gebaut. Die Spitze ihres Schwertes sauste von oben auf seinen Hals hinab.
Gerade noch rechtzeitig drehte er sich seitlich weg, auch wenn er dabei um ein Haar gestürzt wäre. Er riss die Axt in seiner Linken hoch, doch die Elfin stand nun hinter ihm, und Malkorok wirbelte herum, bereit dazu, den Kampf von Neuem zu beginnen.
Da ertönte plötzlich ein Horn. Doch es war kein Horn der Horde, dafür klang es zu hell und melodiös und fröhlich. Die Mitglieder der Allianz, die noch gegen seine Krieger kämpften, wirbelten sofort herum und rannten auf das offen stehende Stadttor zu. Blauhaar warf Malkorok noch ein höhnisches Grinsen zu, und als er seine Äxte auf die Stelle hinabsausen ließ, an der sie eben noch gestanden hatte, war sie bereits mit den anderen verschwunden.
Der Orc brüllte vor Verzweiflung und stürmte ihr hinterher.
Es schien ein völliges Durcheinander zu sein, aber tatsächlich geschah alles genau nach Plan. Wie Jonathan vorhergesagt hatte, wollte die Horde Theramore von drei Seiten aus angreifen. Die Geräuschkulisse war ohrenbetäubend und beängstigend – das beinahe ununterbrochene Donnern von Kanonenfeuer, die Explosionen im Norden, das Klirren von Schwertern und das Schrillen von Kriegsschreien im Westen.
Jaina und Kinndy standen auf einem der Wehrgänge, die den Blick nach Westen freigaben; zunächst hatte Jaina vorgehabt, das Gnomenmädchen an einem sicheren Ort einzuschließen, wo sie außer Gefahr wäre, aber dann hatte sie doch erkannt, dass sie ihrem Lehrling dadurch keinen Gefallen täte. Kinndy war hierhergekommen, um zu lernen, und es gab keinen besseren Weg, etwas über die Grauen des Krieges zu lernen, als sie aus erster Hand mitzuerleben. Natürlich beharrte sie darauf, dass das Gnomenmädchen nicht von ihrer Seite wich, aber dennoch hatte Kinndy einen guten Blick auf das Schlachtengetümmel unter ihnen.
Als das Horn erschallte, blickte Jaina ihre Schülerin an. „Mach dich bereit! Tu, was ich dir gesagt habe, und schlag zu, wenn ich es tue!“ Kinndy nickte, musste aber hart schlucken, während Jaina die Hände hob und auf den richtigen Zeitpunkt wartete. Dutzende Allianzstreiter rannten, so schnell sie konnten, auf die Stadt zu, der Sicherheit von Theramore entgegen. Die Plötzlichkeit und Geschwindigkeit des Rückzugs hatte ihnen ein oder zwei wertvolle Sekunden verschafft, aber nun setzte ihnen die Horde nach.
Doch die Angreifer wurden bereits erwartet – von über zwei Dutzend Kriegsmaschinen.
„Jetzt!“, schrie Jaina. Sie, Kinndy und die anderen, die nicht mit Schwertern kämpften, griffen alle gleichzeitig an. Gutturale Schreie erfüllten die Luft, als Tauren und Orcs, Goblins und Blutelfen, Verlassene und Trolle in Flammen aufgingen oder unter einem Hagel aus Pfeilen zu Boden gingen.
„Gut gemacht!“, rief Jaina. „Die Kriegsmaschinen werden sie fürs Erste aufhalten, danach kommen wir wieder hierherauf. Los jetzt!“
Hastig rannte sie die Stufen zum Tor hinab. Beinahe alle Verteidiger der Allianz hatten es inzwischen heil ins Innere der Stadt geschafft, doch es gab noch ein paar Nachzügler, deren Schritte durch ihre Wunden verlangsamt wurden – oder durch das Gewicht der Verletzten, die sie auf den Schultern trugen.
„Sie werden es nicht schaffen!“, keuchte Kinndy, ihre Augen weiteten sich so sehr, dass sie ganz rund wurden.
„Doch, das werden sie“, entgegnete Jaina, und betete, dass sie recht haben möge. Sie würden die Tore in wenigen Sekunden schließen müssen. Kommt schon, kommt schon …
Die letzten Überlebenden taumelten herein, und die Tore fielen mit einem widerhallenden Donnern hinter ihnen zu. Kinndy und Jaina eilten nach vorn und belegten diesen Eingang mit Schutzzaubern. Thoder Windermere schloss sich ihnen dabei an, und während sie ihre Beschwörungen aufsagten, schien die Luft um die Torflügel einen Moment lang in einem bleichen blauen Glanz zu schimmern.
„Magier Thoder, bleibt mit Kinndy hier und behaltet das Tor im Auge! Verstärkt es, sollte es dem Feind nachgeben!“
„Aber …“, setzte Kinndy zu einem Protest an. Jaina wandte sich zu ihr herum und sprach mit gehetzter, aber eindringlicher Stimme.
„Kinndy, falls dieses Tor fällt, werden Dutzende – sogar Hunderte – Soldaten der Horde in die Stadt eindringen. Wir müssen es also so gut sichern wie nur irgend möglich. Das ist vermutlich die wichtigste Aufgabe während dieser ganzen Schlacht. Du könntest unser aller Leben retten.“ Dies straf zu. Falls das Tor fiel, würden die Verluste schrecklich sein.
Kinndy nickte, dann wandte sie ihren Kopf mit dem rosafarbenen Haar den Toren zu. Den Mund entschlossen zusammengekniffen, streckte sie die Hände aus und unterstützte den Zauberer der Kirin Tor mit ihren eigenen Fähigkeiten.
Jaina erkannte, dass die Magier eine wichtige Rolle in dieser Schlacht spielen würden, allerdings nicht so, wie sie es vielleicht vermutet hätten. Dabei ging es nicht nur um die scheinbar so passive Verstärkung der Tore; nein, auch jedes der Allianzschiffe vor dem Hafen hatte mindestens einen Magier an Bord, der sich im Umgang mit Feuerzaubern auskannte. Aubrey hatte erklärt, dass ein einziger gut platzierter Feuerball schon ausreichen könnte, um ein ganzes Schiff zu versenken, wenn er die Segel oder das hölzerne Deck traf. Und so, wie es aussah, hatte der Admiral mit dieser Einschätzung recht gehabt.
Sie drehte sich um und eilte zu der Leidenden hinüber, die als eine der Letzten in die Stadt geflüchtet war. Die Elfin hatte eine klaffende Wunde an ihrem rechten Schenkel, ließ sich aber bereits von einer Priesterin behandeln, als die Lady Prachtmeer sie erreichte.
„Berichte!“, forderte Jaina ihre Leibwächterin auf.
„Wir haben sie völlig überrumpelt“, sagte die Leidende mit einem aufrichtigen, aber grausamen Lächeln. „Genau, wie Jonathan vermutet hatte. Mindestens ein paar Dutzend von ihnen haben wir erschlagen und selbst nur eine Handvoll verloren. Jetzt nehmen die Kanonen sie unter Beschuss, das sollte sie zumindest für eine Weile aufhalten.“
Für eine Weile, dachte Jaina, aber nicht ewig.
Die Leidende nickte der Heilerin dankbar zu, und während sie aufstand und ihre Rüstung wieder anlegte, fuhr sie fort: „Da ist ein Schwarzfelsorc bei ihnen. Seine Rüstung kennzeichnet ihn als einen der Kor’kron. Und er kann wirklich kämpfen.“
„Ein Schwarzfelsorc? Ist Garrosh denn so tief gesunken?“
Die Leidende zuckte mit den Schultern. „Mir ist vollkommen gleich, ob sie grün, braun, grau oder orange sind; solange sie die Heimat meiner Lady angreifen, werde ich sie alle töten.“
„Noch ist es ja nicht so weit“, sagte Jaina. „Aber ich fürchte, es wird nur eine Frage der Zeit sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Schlacht ohne weitere Nahkämpfe endet. Aber jetzt geh bitte erst einmal zu den Verwundeten und hilf dort, Leidende!“
„Ja, Mylady.“
Nun richtete Jaina ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Nordtor. Sprengspieler, der gnomische Zerstörungsexperte mit dem passenden Namen, der all die wohlplatzierten Bomben gezündet hatte, stand ein paar Meter vor dem Eingang. Jaina lächelte, als sie neben ihn trat.
„Eure Arbeit hat sich bezahlt gemacht, Sprengspieler“, sagte sie.
Mit betretener Miene blickte er zu ihr auf. „Ja“, brummte er, „aber es waren Hauptmann Wymor und die anderen, die dafür gesorgt haben, dass die Krieger der Horde an der richtigen Stelle standen.“
Jainas Herz schlug schwerer. „Sie – sie sollten sich doch zurückziehen! Sie kannten den sicheren Fluchtweg!“
Der weißhaarige Sonnenhäscher hielt in seinen Bemühungen, das Tor zu verstärken, inne und blickte zu ihnen hinüber. „Wymor und seine Soldaten sind geblieben“, erklärte er leise. „Das war eine wahrhaft heroische Geste. Viele unserer Feinde wurden in den Tod gerissen. Aber das hält die anderen nicht davon ab, ihren Angriff fortzusetzen.“
„Mylady“, rief ein Spähposten von der Mauer herab. „Der Magier Sonnenhäscher hat recht. Sie rennen einfach über die Leichen ihrer Gefallenen hinweg!“
„Schützt weiter das Tor“, schrie Jaina, während sie bereits zum nächsten Wehrgang hinaufrannte. Wie eine dunkle Woge brandete die Horde weiter auf die Stadt zu. Die Brücke war in die Luft gesprengt worden, und Trümmerteile und Leichen trieben im Wasser, was einige der Hordekämpfer aber nicht davon abhielt, auf die andere Seite zu schwimmen. Der Rest kletterte über die leblosen Körper der Kameraden hinweg, so wie der Wachtposten berichtet hatte. Jaina hob die Arme und flüsterte einen Zauberspruch.
Scharfe Eissplitter regneten auf die Kämpfer der Horde herab, und viele von ihnen gingen tot oder verletzt zu Boden. Mit einer weiteren Bewegung aus dem Handgelenk ließ Jaina mehrere Überlebende mitten in der Bewegung zu Eis erstarren, nur, um diese gefrorenen Statuen dann mit einem Feuerball zu zerschmettern. Die erste Welle der Gegner zog sich zurück, aber Jaina wiederholte die Zauber dennoch in regelmäßigem, geradezu methodischem Rhythmus, und bei jeder ihrer Handbewegungen fiel mindestens ein Dutzend Gegner. Knapp außerhalb ihrer Reichweite konnte sie die Gestalt eines Orcs sehen, der wild Befehle brüllte. Anhand der unverwechselbaren Dämonenhauer, die ihm als Schulterpanzer dienten, erkannte sie ihn.
„Garrosh“, wisperte sie. Er hätte die Explosion eigentlich nicht überstehen dürfen, die Wymor getötet hatte – doch aus irgendeinem Grund lebte er noch, und obwohl er ihr leises Flüstern unmöglich hören konnte, blickte er genau in diesem Moment nach oben, mitten in ihr Gesicht hinein. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen, dann hob er Blutschrei und deutete mit der Waffe auf sie.
Malkorok schäumte vor Wut – Wut auf sich selbst, weil er nicht mit einem solchen Hinterhalt gerechnet hatte; Wut auf die Späher, weil sie die Angreifer nicht entdeckt hatten; Wut auf die Generäle der Allianz, die sich diesen Plan ausgedacht hatten, und Wut auf ihre verfluchte Gerissenheit. Die erste Welle der getarnten Schurken, Druiden und Jäger samt ihrer tierischen Gefährten hatte viele Krieger der Horde das Leben gekostet, und das anschließende Handgemenge hatte ihnen dann noch deutlich mehr Verluste eingebracht. Als wäre dies noch nicht genug, wurden sie jetzt von Kanonen und Ballisten unter Beschuss genommen, die Reihe um Reihe niedermähten, als die Horde sich näher an die Stadt heranzuarbeiten versuchte.
Er war eine andere Taktik nötig, und so blies er in sein Horn, auf dass sich die Krieger zurückzogen. Während die Heiler hektisch darangingen, die Verwundeten zu versorgen, gab Malkorok brüllend seine neuen Befehle aus.
„Gegen ihre Kriegsmaschinen haben wir keine Chance“, erklärte er, die Hand erhoben, um jeden wütenden Protest im Keim zu ersticken. „Wir müssen diese Waffen ausschalten – oder die Kontrolle über sie gewinnen. Diejenigen von euch, die sich auf unbemerktes Schleichen und Morden verstehen – geht! Wir werden ihr Feuer auf uns ziehen. Schleicht euch in den Rücken dieser Allianzwürmer, die sich feige hinter ihrem Gerät verstecken, und rammt ihnen eure Messer zwischen die Rippen! Dreht dann ihre Kriegsmaschinen herum und setzt sie gegen Theramore selbst ein!“
Die zornigen Widerworte verwandelten sich in Jubelrufe, und auch Malkorok brummte zufrieden. Diese Strategie konnte gar nicht fehlgehen. Die Generäle der Allianz mochten schlau sein, gewiss.
Aber er war es ebenfalls.
„Für die Horde!“, brüllte er, und die anderen stimmten in den Ruf mit ein: „Für die Horde! Für die Horde! Für die Horde!“
Kalec flog über den Schiffen im Hafen dahin. Aus der Ferne sahen sie wie Spielzeuge aus – Spielzeuge, die Kanonen abfeuerten, in Flammen aufgingen und versanken. Doch die Verluste beschränkten sich nicht auf eine Seite; die Horde hatte ebenfalls erkannt, dass es ein Vorteil war, Magier an Bord zu haben, die feindliche Schiffe in Brand setzen konnten. Und auf mehr als einem der Kriegsschiffe der berühmten Siebten Flotte entfalteten sich Blüten aus rotem und goldenem Feuer. Der Drache jagte im Tiefflug über ihnen hinweg und erstickte die Flammen mit seinem eisigen Atem, wo er nur konnte, begleitet von den Jubelrufen der erleichterten Besatzungsmitglieder. Anschließend krümmte er seinen Körper und wirbelte herum, bereit dazu, sich den Schiffen der Horde und der grimmigen Aufgabe zu stellen, nicht länger nur zu verteidigen, sondern auch anzugreifen. Der blaue Drache flog in die Höhe, bis er direkt über einer kleinen Gruppe aus drei feindlichen Schiffen schwebte. Dann zog er die Flügel an den Leib und stürzte auf sie hinab, so schnell, dass die Kanoniere ihn erst sahen, als es schon zu spät war, ihr Feuer noch auf ihn zu richten. In der letzten Sekunde breitete Kalecgos die Flügel wieder aus und hieb mit seinem Schwanz nach unten. Der Mast des mittleren Schiffes brach wie ein morscher Zweig entzwei, und während sich Kalec wieder in die Höhe schraubte, sprach er einen Zauber, der Eissplitter auf die Feinde herabprasseln ließ, die groß genug waren, um gewaltige Löcher in die Decks zu schlagen. Nun donnerten schließlich die Kanonen, aber Kalec war bereits außer Reichweite.
Er flog zurück in die Richtung der Stadt, wohl wissend, dass die Schlacht auch dort in der Luft ausgetragen wurde. Als er eine Gruppe von Hordekämpfern sah, die einer Handvoll gepanzerter Greife zusetzte, schwenkte er herum und stürzte sich in den Kampf.
Die Horde hatte das Nordtor erreicht, und das furchterregende, gleichmäßige Hämmern eines Rammbocks mischte sich in die Geräuschkulisse der Schlacht. Wie sie die Ramme bis vor die Stadtmauern geschafft hatten, war Jaina ein Rätsel – vermutlich, überlegte sie, während sie zu dem Tor hastete, mussten mehrere Tauren das gewaltige Kriegswerkzeug auf ihre Schultern genommen haben und so durch den Sumpf gewatet sein, nachdem die Brücke zerstört worden war.
Eigentlich wollte sie die Stufen zum Wehrgang wieder hinaufeilen, um denen, die bereits oben standen, mit möglichst vielen magischen Angriffen zu helfen. Aber dann sah sie etwas, das sie zurückhielt: Die Torflügel erbebten unter den Stößen des Rammbocks.
Eigentlich hätten sie sich nicht rühren dürfen.
Vor allem nicht, da doch ein Mitglied der Kirin Tor sie mit einem steten Strom mächtiger Zaubersprüche verstärkte. Ein schrecklicher Gedanke schlich sich in ihren Kopf.
Bumm! Bumm! Bumm!
Die schweren Balken wölbten sich unter dem Aufprall, und die Angeln und Metallstreifen …
Sie rollten sich zusammen …
Jaina wirbelte herum und schickte einen gewaltigen Stoß arkaner Energie direkt auf Thalen Sangweber.
In seinem Hochmut hatte er mit einem solchen Angriff nicht gerechnet und stolperte nun nach hinten. Doch einen Moment später hatte sich der Blutelf bereits wieder erholt und starrte Jaina an. Kurz hatte es den Anschein, als wollte er seine Unschuld bezeugen, aber dann zogen sich seine weißen Augenbrauen zusammen, und er hob mit einem Schnauben die Hände zum Himmel.
Nur, um plötzlich leblos in sich zusammenzubrechen. Die Leidende stand hinter ihm, in der Hand das Schwert, dessen Griff den Feind auf eine so wenig elegante, aber effektive Weise außer Gefecht gesetzt hatte.
„Ich bin überrascht, dass du ihn nicht getötet hast“, sagte Jaina, als die beiden Frauen zu Sangweber hinüberrannten, um ihn an Händen und Füßen zu fesseln.
„Einen Verräter in der Hand zu haben, kann sich als nützlich erweisen“, bemerkte die Leidende. „Mit ein wenig Glück … werden wir ihn überreden können, alles auszuspucken, was er weiß.“
„Wir sind nicht der Scharlachrote Ansturm, Leidende“, mahnte Jaina, bevor sie Augen und Aufmerksamkeit wieder auf das Tor richtete. Aber zwei andere Magier, ein Mensch und ein Gnom, waren bereits vorgetreten, um es zu beschützen.
„Ich hoffe doch, es ist nicht geplant, ihn auf eine Tasse Tee einzuladen“, brummte die Leidende.
„Nein. Ich werde ihn Hauptmann Ebenstab übergeben. Er und die anderen können ihn verhören, wenn sie gerade etwas Zeit haben.“ Sie nickte ein paar Soldaten zu, die den bewusstlosen Blutelfen daraufhin fortschleiften. Es dauerte aber noch ein paar Sekunden, bis Jaina erkannte, dass Rhonin neben sie getreten war.
„Ich kann es nicht glauben“, murmelte er. „Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt, dass er mit uns kommt.“
„Ich bin sicher, Ihr seid nicht der Einzige, den er getäuscht hat“, meinte Jaina.
„Allerdings“, sagte Rhonin verbittert. „Das ist ein herber Rückschlag für Aethas und sein Streben.“
„Glaubt Ihr, Thalen hat eigenmächtig gehandelt?“
„Ja“, nickte Rhonin. „Denn würde ich es nicht glauben …“
Das Tor zersplitterte und fing Feuer, und dann stürmte die Horde hindurch.
Kinndy zitterte vor Anstrengung, und das, obwohl sie von einem Kirin-Tor-Magier unterstützt wurde! Zuversichtlich lächelte Thoder zu ihr herab, einen gütigen Ausdruck auf seinem harten Gesicht. „Du schlägst dich gut“, sagte er. „Da hat sich Lady Jaina einen hervorragenden Lehrling ausgesucht.“
„Es würde mir besser gehen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass ich jeden Augenblick umkippen könnte“, murmelte das Gnomenmädchen.
„Dann ruh dich ein wenig aus“, schlug Thoder vor. „Iss etwas. In ein paar Minuten wirst du wieder kräftiger sein. Solange kann ich das Tor auch allein halten.“
Kinndy nickte dankbar und stolperte davon. An die Steinwand gelehnt verschlang sie ein Stück Brot und nahm mehrere gierige Schlucke Wasser. Dabei fragte sie sich, ob sie je auch nur ansatzweise so gut sein würde wie Thoder oder Lady Jaina. Das Gnomenmädchen hatte voller Ehrfurcht beobachtet, wie Jaina Welle um Welle der heranstürmenden Hordekrieger zurückgeschlagen hatte, und vor allem: Es schien ihr keinerlei Mühe bereitet zu haben. Während sie aß, wanderten Kinndys Gedanken zu den Geräuschen der Schlacht hinüber, die nur wenige Meter entfernt, auf der anderen Seite der Mauer tobte – und sie spürte, wie sie davor zurückschreckte. Sich ganz darauf konzentrieren zu können, das Tor zu befestigen, hatte sie mehr vom Grauen des Kampfes abgelenkt, als ihr überhaupt klar geworden war. Von dieser Erkenntnis beunruhigt, richtete sie sich auf, und nachdem sie sich die Krümel vom Mund gewischt hatte, eilte sie zu Thoder zurück, um ihm bei seiner Aufgabe zu helfen.
Sie hatte ihn noch nicht ganz erreicht, da sah sie, wie sich die Holzbalken des Tores verbogen, und alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Die Schlacht draußen verlief nicht zu ihren Gunsten.
Kinndy, falls dieses Tor fällt, werden Dutzende – sogar Hunderte – Soldaten der Horde in die Stadt eindringen. Wir müssen es also so gut sichern wie nur irgend möglich. Das ist vermutlich die wichtigste Aufgabe während dieser ganzen Schlacht. Du könntest unser aller Leben retten.
Sie beschleunigte ihre Schritte während der letzten paar Meter noch weiter, und dabei streckte sie die Arme schon aus und murmelte einen Zauber. Dass das Zittern des Holzes daraufhin abebbte, erfüllte sie ebenso mit Stolz wie mit Überraschung.
„Die Horde ist durch das Tor gebrochen! Die Horde ist durch das Tor gebrochen!“
In einem kurzen Moment der Verwirrung dachte Kinndy: Nein, die Tore halten doch! Aber dann begriff sie. Die Magier am Nordtor hatten offensichtlich nicht so viel Erfolg gehabt wie sie hier.
In seiner ganzen Geschichte war Theramore selten Zeuge solcher Gewalt geworden. Die Horde strömte durch das Tor wie eine Woge durch eine Lücke im Deich.
Dass die Angreifer früher oder später in die Stadt eindringen würden, sei es nun, indem sie einen Eingang stürmten oder über die Mauer kletterten, war von vornherein erwartet worden, und so hatten die Verteidiger entsprechende Vorbereitungen getroffen. Womit allerdings niemand gerechnet hatte, war, dass es in den Reihen der Kirin Tor einen Verräter geben könnte. Die Schlacht verlagerte sich viel zu früh ins Innere von Theramore, und die Soldaten der Allianz, die in einem solchen Fall die Eindringlinge im Nahkampf binden sollten, erholten sich noch von ihren früheren Verletzungen.
Ein altes Sprichwort besagte, das Generäle Kriege aus dem Hintergrund planten, während andere darin kämpften und starben. Von diesen Generälen konnte man das jedoch sicher nicht behaupten. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, stürmten Jonathan, Rotmähne, Machthieb, Shandris und Tiras’alan in die Bresche, in voller Rüstung und bewaffnet, damit sich die Kämpfer der Horde nicht nur unerfahrenen Soldaten gegenübersahen, sondern auch einigen der besten Krieger, die die Allianz je hervorgebracht hatte.
Kalecgos flog über Theramore dahin, um zu beobachten, wie sich die Schlacht entwickelte und wo man ihn am meisten brauchte. Als er sah, wie die Horde in die Stadt drängte, ging er sofort zum Angriff über. Er hauchte ihnen eine Wolke aus Frost entgegen, um ihre Bewegungen zu verlangsamen. Dann stieg er wieder in die Höhe, wendete und setzte zu einem zweiten Sturzflug an.
Als er diesmal in die Stadt hinabeilte, griff er mit seiner vorderen Klaue nach Jaina und trug sie darauf mit sich in die Lüfte empor – nicht, um sie aus dem Schlachtgeschehen fortzureißen, sondern damit sie die ganze Lage aus dem Blickwinkel eines Drachen betrachten konnte.
„Wo braucht Ihr mich am dringendsten?“, fragte er. „Und wo müsst Ihr sein?“
Sie schien im Griff seiner riesigen Vorderpranke vollkommen entspannt, während sie, die Hände auf einer seiner gewaltigen Klauen ruhend, nach unten spähte. Die Windstöße seiner Flügel wirbelten ihr das Haar ins Gesicht.
„Das Nordtor!“, rief sie. „Die meisten von ihnen sind noch immer vor der Stadt – wir müssen verhindern, dass noch mehr hereingelangen! Kalec – könnt Ihr ein paar Bäume und Felsblöcke herbeischaffen, um den Eingang zu versperren, und dann dafür sorgen, dass die Horde vor den Toren bleibt? Könntet Ihr sie vielleicht sogar zurückdrängen?“
„Ich werde einen Weg finden“, versprach er. „Und Ihr?“
„Setzt mich oben auf dem Dach der Zitadelle ab“, wies sie ihn an. „Von dort kann ich fast alles überblicken und die Horde angreifen, ohne mich selbst zum Ziel zu machen.“
„Aber was ist mit den Feinden, die aus der Luft kommen?“, warnte Kalec.
„Ich weiß, es ist ein Risiko, aber daran können wir jetzt nichts ändern. Beeilt Euch, bitte!“
Sogleich nahm der Drache Kurs auf die Zitadelle, und dort angekommen setzte er Jaina mit größter Behutsamkeit auf dem Dach ab. Sie dankte es ihm mit einem herzlichen Lächeln, als Kalec sich dann aber wieder in die Höhe emporschwingen wollte, streckte sie die Hand aus, um ihn zurückzuhalten.
„Kalec, wartet! Ihr müsst wissen – Garrosh ist bei den Truppen am Nordtor! Falls wir ihn gefangen nehmen könnten …“
„Könnten wir diesen Krieg hier und heute beenden“, ergänzte er den Satz. „Ich verstehe.“
„Versperrt den Zugang durch das Tor – dann versucht, Garrosh zu finden!“
Er nickte, flog steil nach oben und wendete dann, um seinen frostigen Atem noch einmal über die Krieger der Horde am Nordtor zu ergießen, bevor er in Richtung Sumpf davonflog.
Von ihrem neuen Standort aus konnte Jaina die ganze Stadt sehen. Sie richtete ihren Blick auf den Hafen. Es schien, als stünden sich die Fraktionen dort ebenbürtig gegenüber; sie erspähte sowohl Schiffe der Horde als auch der Allianz, die in hellen Flammen standen, außerdem flatterten über mehreren halb versunkenen Wracks klagend die Fahnen beider Seiten. Das Westtor schien zu halten, und bei diesem Gedanken durchströmte Jaina ein tiefer Stolz auf Kinndy. Zudem drängten sich mehrere Jäger, Magier, Hexenmeister und andere, die sich auf den Fernkampf verstanden, auf den Wehrgängen in der Nähe dieses Eingangs.
Nun richtete sie ihren Blick nach Norden, und dabei empfand sie sowohl Bedauern als auch Entschlossenheit. Verteidiger und Angreifer kämpften dort auf engstem Raum, sie würde also ganz genau zielen müssen, um die Feinde zu verwunden oder zu töten, ohne dabei auch Mitglieder der Allianz in Mitleidenschaft zu ziehen.
Als sie Baine entdeckte, spürte sie einen schmerzhaften Stich. Der Taurenhäuptling war gerade in einen Kampf mit der Leidenden verstrickt, aber Jaina erkannte, dass sie es nicht über sich brachte, ihn anzugreifen, zumindest nicht, solange es andere Feinde gab, um die sie sich kümmern konnte. Und, beim Licht, es herrschte wahrlich kein Mangel an Zielen – Untote, die mit ihren halb verrotteten Armen Schwerter schwangen; hünenhafte Orcs; flinke Goblins; wunderschöne Sin’dorei, die sich mit der Grazie von Tänzern bewegten.
Sie konzentrierte sich auf einen Orcschamanen, dessen dunkle Kleidung aber mehr an einen Hexenmeister erinnerte; es bestand jedenfalls keinerlei Ähnlichkeit mit den angenehmen, natürlichen Farben, die Go’el getragen hatte. Jaina murmelte einen Zauberspruch, und Dornen aus Eis prasselten auf den Schamanen hernieder. Sie durchbohrten seine schwarzen Roben wie Dolche, und noch während er fiel, suchte Jaina – traurig, aber ohne innezuhalten – nach einem neuen Ziel.
Als er das Donnern hörte, mit dem der erste Felsbrocken vor dem zerstörten Tor landete, erkannte Vol’jin alarmiert, dass Garroshs Plan womöglich einen Fehler hatte. Einen großen Fehler.
Mit vielen anderen seiner Krieger stand er im Hof jenseits des Tores und nutzte seine Verbindung zu den Loa, um seinen Brüdern und Schwestern zu helfen. So wand sich beispielsweise gerade eine zischende Schlangenwache vor einigen Mitgliedern der Horde und schirmte sie vor der Allianz ab. Doch als der Felsen dann aufprallte, wirbelte der Troll kurzzeitig abgelenkt herum.
Vol’jin fluchte in seiner Muttersprache und blickte sich um. Baine kämpfte an Garroshs Seite. Die blauhaarige Nachtelfin, die ihm gegenüberstand, schien ihm einen guten Kampf zu liefern. Mehrere Verteidiger der Allianz, unter ihnen auch zwei Zwerge in formell wirkender Rüstung, stürmten derweil auf Garrosh ein. Vor ein paar Sekunden war der blaue Drache über ihnen vorbeigeflogen; nun war die Kreatur wieder da – und offenbar hatte sie vor, das Tor erneut zu verschließen.
Vol’jin kämpfte sich zu Garrosh und Baine durch, dann brüllte er auf Orcisch gegen den Lärm an, der ihn umgab. „Der Drache versucht, uns hier drin’ einzusperr’n!“
Baines lange Ohren zuckten nach vorn, anschließend trieb der Oberhäuptling seine Gegnerin gekonnt zurück, damit auch er sehen konnte, was Vol’jin meinte. Seine Augen weiteten sich, aber da stürzte sich auch schon wieder die Elfin auf ihn. Baine konnte seinen Streitkolben noch rechtzeitig hochreißen und sie von sich fortstoßen, aber sie rollte sich sofort wieder aus dem Sturz heraus und auf die Beine. Rasch setzte Vol’jin die Schlangenwache auf sie an, damit der Taure einen Moment lang Atem schöpfen konnte. „Garrosh!“, schrie Baine. „Sie wollen uns den Rückweg abschneiden!“
Der Kriegshäuptling grunzte und riskierte einen kurzen Blick über die Schulter. Merkwürdigerweise schien er nicht wirklich besorgt zu sein. „Also gut. Rückzug, meine Horde! Lasst euch zu euren Brüdern zurückfallen!“
Gerade als das Hornsignal gegeben wurde, stürzte ein gewaltiger Baumstamm neben den Felsen. Ein Schamane musste die Hilfe der Elemente beschwören, damit der Gesteinsbrocken ein Stück zur Seite rollte und der Spalt breiter wurde. Die Mitglieder der Horde, die eben noch so eifrig in die Stadt gestürmt waren, verließen sie nun hastigen Schrittes wieder, und die Allianz tat alles in ihrer Macht Stehende, um ihre Flucht zu unterbinden. Mit neuer Vehemenz drangen sie im Nahkampf auf ihre Feinde ein, während andere das zerstörte Tor fast ebenso schnell wieder blockierten, wie die Horde es zuvor niedergerissen hatte.
Obwohl er sich noch immer der Angriffe der hartnäckigen Nachtelfin erwehren musste, blieb Baine ein wenig hinter den anderen zurück, um seinen Kriegern mehr Zeit für ihre Flucht zu verschaffen. Vol’jin rief die Trolle zurück, doch es war offensichtlich, dass ihr Blutdurst inzwischen fast übermächtig geworden war und sie nur höchst ungern von ihren Gegnern abließen. Garrosh eilte merkwürdigerweise ohne Umschweife nach draußen, und nur einmal hielt er inne, um jenen zuzurufen, die ihm nicht gleich folgten.
„Baine!“, schrie er. „Zieh dich sofort zurück! Ich habe keine Lust, eine Befreiungsmission zu starten, nur, um dein stinkendes Fell zu retten!“
Mit einem lauten Brüllen zwang Baine die Nachtelfin, sich zu ducken, dann hieb er ein letztes Mal mit seinem Streitkolben nach ihr und stürmte durch die immer schmaler werdende Lücke vor der Tür nach draußen.
Sie zogen sich zurück! Einmal mehr hallte der tiefe Klang der Hörner durch die Luft, und ihr Lied begleitete nicht nur den Rückzug der Angreifer aus dem Norden, als sie zurück in den Sumpf flüchteten, sondern auch den Rückzug der Hordetruppen im Westen, die sich ebenfalls eilends in Sicherheit brachten.
Jaina wandte sich herum, da sie sehen wollte, ob derselbe Befehl auch auf den Schiffen im Hafen gegeben worden war. Es hatte ganz den Anschein – noch während sie hinsah, ein wenig zitternd, als die Spannung von ihr abfiel, segelten die verbliebenen Schiffe der Horde aufs offene Meer hinaus. Die Siebte Flotte versuchte nicht, sie zu verfolgen – ohne Zweifel auf Admiral Aubreys Befehl hin.
Jaina atmete lang gezogen aus, und als ein gewaltiger Schatten die Sonne verdeckte, hob sie den Kopf. Kalecgos schwebte über ihr, und nach einem kurzen Moment ging er tiefer und hielt ihr seine Vorderklaue hin. Bereitwillig kletterte sie zwischen seine Krallen.
„Wir haben gewonnen, Kalec!“, rief sie. „Wir haben gewonnen!“