6

Es dauerte nicht lange, bis sie ihre eindeutigen Befehle erhielten. Baine hasste, was er nun tun musste, aber falls er sich weigerte, würde sich Garrosh mit der gesamten Macht der restlichen Horde gegen ihn wenden – und gegen die Tauren. Er machte sich keine Illusionen über den Idealismus der Verlassenen, der Blutelfen oder der Goblins; sie verfolgten ihre eigenen Pläne. Die Orcs waren traditionell Freunde der Tauren, doch gab es nur wenige unter ihnen, die an ihrem neuen Kriegshäuptling Kritik übten, und die Trolle, nun, die konnten es sich nicht leisten, ein solches Risiko einzugehen. Falls die Tauren also offen Position gegen Garrosh bezogen oder sich weigerten, seine Befehle auszuführen, würde niemand ihnen helfen.

Baine zerknüllte das Schreiben in seiner Hand und wandte sich mit grimmiger Miene zu Hamuul Runentotem um. „Bereiten wir uns vor“, sagte er. „Zumindest dieser Teil des Krieges, in den uns Garrosh da hineinzieht, hat den Hauch einer Berechtigung.“

Die Befehle waren unmissverständlich gewesen. Baine sollte „mindestens zwei Dutzend tapfere Krieger“, Kodos und Waffen mobilisieren und sich von Westen aus der Feste Nordwacht nähern. Die Trolle würden sich ihnen anschließen, auch wenn der Weg von den Echoinseln nach Mulgore ein sehr langer war. Die Orcs würden derweil von Orgrimmar aus losmarschieren, und nachdem sie sich in Ratschet mit den Verlassenen, den Goblins und den Blutelfen zusammengetan hatten, die auf dem Seeweg dorthin reisen sollten, würden sie schnell vorstoßen und vor der Feste Nordwachte mit den Tauren zusammentreffen.

Einst hatte es im Brachland zwischen Mulgore und Nordwacht außer ödem, trockenem Land und einem kleinen Dorf namens Camp Taurajo nichts gegeben, und das größte Problem der Einwohner war es gewesen, die Stacheleber auf Distanz zu halten. Jetzt würde Baine seine Leute an den Ruinen von Taurajo vorbeiführen müssen, und dann durch die Region, die inzwischen als die Felder des Blutes bekannt war.

Gemäß den Anweisungen, die er so verabscheute, versammelte Baine seine Krieger unauffällig auf ihrer Seite des Großen Tores. Schweigend, wie er es ihnen befohlen hatte, standen die Tauren da, und nur das gelegentliche Knarzen einer Rüstung oder das Hufscharren eines Kodos durchbrach die Stille. Baine konnte die Anspannung fühlen, und er fragte sich, ob die Allianz auf der anderen Seite der Mauer sie nicht vielleicht auch wahrnehmen würde. Er hatte mehrere Späher vorgeschickt, um sicherzugehen, dass sie die Kundschafter der Allianz mit ihrem Angriff überraschen würden. Sie waren alle mit der Nachricht zurückgekehrt, dass zu dieser Stunde nur wenige Wachen ihrer Feinde patrouillierten. Zwei Tauren, wohl darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben, kletterten von den Aussichtsplattformen herab und eilten davon, um tiefer im Feindesland die Lage auszukundschaften. Sie konnten im Dunkel besser sehen als die Menschen, und davon abgesehen waren ihre Feinde oft dumm genug, die Lagerfeuer auch nachts brennen zu lassen.

„Oberhäuptling“, sagte einer der zurückgekehrten Späher, indem er seine Stimme mühsam zu einem Flüstern senkte. „Die Trolle – sie sind überall in den Hügeln. Und warten nur auf Euren Befehl.“

„Den Feuern nach zu schließen, sind zurzeit nicht mehr Menschen in der Nähe als sonst“, erklärte ein anderer. „Sie rechnen nicht mit einem Angriff.“

Angesichts dessen, was er nun tun musste, schmerzte Baines Herz. „Macht Meldung bei Vol’jin und sagt ihm, dass seine Leute angreifen können. Sobald sie die Allianz in ein Gefecht verstrickt haben, werden wir das Große Tor öffnen und ihnen mit unseren eigenen Waffen den Rest geben.“

Der Späher nickte, wandte sich um und rannte den Hügel hinauf bis zu der Stelle, wo ihn die Mauer kreuzte. Baine ließ seinen Blick derweil über die versammelte Menge der Tauren schweifen, deren Umrisse im Licht der wenigen Fackeln aber kaum auszumachen waren. Da standen mehrere Dutzend Krieger und noch zahlreiche andere versammelt, die wichtige Pflichten erfüllen würden, sobald der Kampf in ein paar Sekunden begann: Druiden, Schamanen, Heiler und andere Kämpfer aller Arten.

Er hob den Arm, sodass die anderen ihn auch sehen konnten, und wartete. Sein Herzschlag beschleunigte sich: eins, zwei, drei …

Da erschallten die blutdürstigen Kampfschreie der Trolle. Sie griffen an. Baines Arm sauste nach unten, und während auf der anderen Seite des Tores das Klirren von Waffen, die trotzigen Rufe der Menschen und das dumpfe Donnern einer Balliste hörbar wurde, erklang auf dieser Seite das Grunzen und Stöhnen der beiden Tauren, die, während ihre stämmigen Körper vor Anstrengung zitterten, an den dicken Tauen zerrten. Und dann ächzte das Tor.

Die Soldaten der Nordwacht waren völlig überrumpelt, als die Taurenkrieger aus dem Spalt hervorstürmten und sich brüllend ins Kampfgetümmel warfen. Die Menschen und Zwerge hatten nicht den Hauch einer Chance; sie waren ihren felltragenden und grün- oder blauhäutigen Gegnern zahlenmäßig weit unterlegen. Ihre Waffen mochten zwar gefährlich sein, aber man musste sie doch erst ausrichten und vorbereiten. Bei ihrer verzweifelten und zum Scheitern verurteilten Gegenwehr hatten sie weder für das eine noch für das andere Zeit.

Ein leichtsinniger Soldat stürmte auf Baine selbst zu und brüllte dabei: „Für die Allianz!“ Sein schlichtes Schwert war nicht mehr als militärische Standardausrüstung – und zerbrach, als Baine seinen Streitkolben schwang. Die Klingenspitze flog davon und blitzte noch kurz im schwachen Licht auf, bevor sie von den Schatten verschluckt wurde. Aber da hatte der Taure bereits ein zweites Mal ausgeholt. Der Kettenpanzer des Menschen bot ihm keinerlei Schutz gegen die stumpfe Waffe, und sein Körper wurde von der Wucht des Hiebes durch die Luft geschleudert.

Hier und da ertönten noch ein paar Rufe von Tauren und Trollen, dann verstummte das Klirren der Waffen.

„Trolle, haltet ein!“, befahl Vol’jin.

„Tauren, zu mir!“, donnerte Baine.

Kurze Zeit herrschte Stille, dann erfüllten Triumphschreie die Nachtluft. Baine blickte sich um. Es war vorbei, nur ein paar Augenblicke, nachdem es überhaupt begonnen hatte.

„Ein gutes Vorzeich’n für den Angriff“, erklärte Vol’jin.

Es dauerte nicht lange, ein paar Späher auszuwählen, die den Weg voraus auskundschaften sollten, während sich der Rest der Armee aus Tauren und Trollen neu formierte und zum Marsch gegen die Feste Nordwacht aufbrach. Vol’jin lenkte seinen Raptor neben Baines Kodo, als sie sich in Bewegung setzten.

„Nachdem wir Orgrimmar wieder verließ’n“, erzählte der Troll, „sind einige der Orcs, die nickt’n, als der alte Etrigg seine Meinung zum besten gab … von der Bildfläche verschwund’n.“

Es war, als würde ein Stromschlag durch Baines Körper jagen. „Garrosh lässt die Leute hinrichten, die eine andere Meinung haben?“

„So weit ist es noch nich’. Aber die Kor’kron und vor allem dieser grauhäutige Kerl, die schleich’n durch die Straß’n und wart’n nur drauf, dass sie was hör’n, was ihnen nich’ gefällt, und dann – na ja, dann sperr’n sie die Übeltäter sofort ein. Manchen Orcs statt’n sie auch Überraschungsbesuche ab. Dieser Pilzverkäufer zum Beispiel, der musste seinen Laden für ein paar Tage schließ’n, und als er sich wieder zeigte, war er grün und blau, so als wär er in ’ne Schlägerei gerat’n und hätt ordentlich was eingesteckt. Tja, und dann gibt’s noch die … die gar nich’ mehr auftauch’n.“

„Politische Gefangene?“

Vol’jin nickte. „Wir Trolle halten lieber gleich ganz den Mund.“

Baine schnaubte. „Vielleicht, wenn jemand Garrosh erzählen würde, was die Kor’kron da treiben … er ist ein Hitzkopf … aber sicher würde er nie den Befehl zu so etwas geben.“

Vol’jin stieß einen abfälligen Laut aus und winkte mit seinem langen Arm ab. „Niemand kommt an Garrosh ran. Ich hab’ gehört, dass sogar Etrigg ihn nur noch sieht, wenn Garrosh gerade der Sinn danach steht, und dann ist der Häuptling immer von sein’n Leibwächtern umgeb’n. Die ganze Zeit posaunt er: ‚Die Horde kann dies, die Horde kann das‘ – so voller Zuversicht, obwohl es eigentlich gar kein’n Grund dafür gibt. Ich weiß nich’, ob er wirklich weiß, was da um ihn rum passiert, aber ich kann auch nich’ mit Bestimmtheit sagen, dass er’s nich’ weiß. Sei es, wie es sei … ich hab’ dieser Tage jedenfalls mehr Angst vor Orgrimmar als vor dem düsterst’n Voodoo.“

„Dann … kann ihn niemand aufhalten. Wenn man nicht zu ihm durchdringen, nicht vernünftig mit ihm reden kann, dann wird dieser Wahnsinn immer weiter um sich greifen.“

„So sieht’s aus, mein Freund.“

Baine brummte leise, während er zu seinen Truppen blickte. Eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an. Sie war tollkühn, sie war gewagt, und sie könnte ihn seinen Kopf kosten.

Doch sie mochte das Volk der Tauren retten.

Vielleicht sogar die ganze Horde.


„Warum nur können wir nichts finden?“

Die Worte kamen wie aus eigenem Willen über Jainas Lippen, und sie wünschte sie zurück in ihren Mund, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Kalec, Tervosh und Kinndy – Letztere war inzwischen wieder aus Dalaran zurückgekehrt, im Gepäck zwei Truhen voller Schriftrollen, magischer Gegenstände und Bücher, die die Kirin Tor für nützlich hielten – blickten alle von den Wälzern hoch, in die sie vertieft gewesen waren, und starrten sie an.

Sie biss sich auf die Lippe. „Tut mir leid“, sagte sie. „Ich … bin normalerweise nicht so unbeherrscht.“

Tervosh setzte ein gütiges Lächeln auf. „Nein, Lady, das seid Ihr wirklich nicht“, meinte er. „Aber dies hier ist ja auch keine normale Situation.“

Für gewöhnlich war sie ebenso idealistisch wie pragmatisch. Arthas hatte sie seinerzeit als „praktisch denkend“ bezeichnet, und genau diese Kombination war es, die sie zu einer so talentierten Magierin machte. Ihr neugieriger Geist kreiste so lange methodisch um ein Problem, bis sie die Lösung fand, und diese Einstellung erwies ihr auch bei ihren diplomatischen Pflichten gute Dienste. Während sie sich nämlich einerseits Gedanken über den Ausgang ihrer Arbeit machte, arbeitete sie gleichzeitig beharrlich auf ihr Ziel hin, mit Betonung auf arbeiten. Es war nicht ihre Art, einfach mit dem Fuß aufzustampfen und so quengelnde Fragen zu stellen wie Warum können wir nur nichts finden?

„Der Erzmagier hat recht“, meinte Kalecgos. „Wir stehen alle unter einem großen Druck. Vielleicht sollten wir eine kurze Pause einlegen.“

„Wir haben schon fürs Mittagessen eine Pause gemacht“, entgegnete Kinndy.

„Aber das war vor vier Stunden“, erinnerte Kalec sie. „Seitdem haben wir uns nicht mehr gestreckt oder uns bewegt oder sonst irgendetwas getan, außer in Bücher zu starren. Vielleicht sind unsere Sinne inzwischen schon so abgestumpft, dass wir es nicht einmal registrieren würden, wenn wir auf einen nützlichen Hinweis stießen.“

Jaina rieb sich die schmerzenden Augen. „Ich entschuldige mich noch einmal. Ich glaube, Kalec könnte gerade den Grund dafür beschrieben haben, warum wir noch nicht fündig geworden sind.“ Sie sprach ganz betont, um den anderen zu zeigen, dass sie wusste, wie sie eben geklungen hatte.

„Ich glaube nicht, dass …“, begann Kinndy.

„Du bist jung“, sagte Tervosh. „Du brauchst keine Pausen. Wir alten Leute hingegen müssen uns hin und wieder ausruhen. Falls du also weiter diese Dokumente durchforsten möchtest, nur zu, aber ich werde jetzt ein wenig im Garten arbeiten. Da gibt es noch ein paar Kräuter, die gepflückt werden wollen.“

Er erhob sich, und als er mit der Hand gegen sein Kreuz drückte, erklang ein deutliches Knacken. Jaina wusste, dass auch ihre Knochen knirschen würden, wenn sie nach den endlosen Stunden des Sitzens aufstand. Sie und Tervosh waren keine „alten Leute“, wie er scherzhaft gesagt hatte, aber die scheinbar unermüdliche Energie der Jugend, die sie durch die schwierigen Zeiten der Seuche und des Krieges mit den Dämonen getragen hatte, schien sie nun, da sie die Dreißig erreicht hatte, verlassen zu haben.

„Möchtet Ihr mich vielleicht ein wenig herumführen?“ Kalecs Frage schnitt in ihre Gedanken.

Sie blinzelte. „Oh! Ja, natürlich!“ Sie erhob sich und versuchte, ihre Scham darüber zu verbergen, dass man sie beim Tagträumen ertappt hatte. „Ich bin sehr stolz auf die Ordnung und die Harmonie, die hier in Theramore herrschen. Der Kataklysmus hat die Stadt zwar beschädigt, aber wir haben sie entschlossen wiederaufgebaut.“

Sie stiegen die lange, geschwungene Treppe von Jainas Turm hinab und traten dann in einen überraschend sonnigen Tag hinaus. Lady Prachtmeer nickte erst den Wachen zu, die zackig vor ihr salutierten, und dann Leutnant Aden, der auf seinem Pferd saß. Kalecgos blickte sich mit offenem Interesse um.

„Dort drüben liegt die Wehrzitadelle“, erklärte Jaina. Als sie weitergingen, sahen sie rechts von sich einen Übungsplatz, auf dem die Wachen von Theramore gegen Attrappen „kämpften“, und das dumpfe Geräusch, mit dem ihre Schwerter gegen das Holz stießen, begleitete die beiden kurze Zeit, bevor das Klirren von Stahl gegen Stahl, das von links herbeischallte, es übertönte. Dort trainierten die jungen Rekruten an der frischen Luft, während ihre Kommandanten ihnen Befehle zubrüllten und Priester sie aufmerksam beäugten, dazu bereit, vom Heiligen Licht zu zehren, um jeden zu heilen, der sich verletzte.

„Das ist ziemlich … martialisch“, kommentierte Kalec.

„Auf einer Seite der Stadt befindet sich der Zugang zu einem äußerst gefährlichen Sumpf, und auf der anderen liegt das Meer“, sagte Jaina. Sie setzten ihren Spaziergang fort, und die übenden Soldaten verschwanden außer Sicht, als sie ein Gasthaus passierten. „Es gibt viel, wogegen wir uns verteidigen müssen.“

„Ihr sprecht sicher von der Horde.“

Sie warf ihm einen bedeutsamen Blick zu. „Wir sind zwar die größte militärische Macht der Allianz auf diesem Kontinent, aber, um ehrlich zu sein, wir machen uns mehr Sorgen um wilde Tiere und verschiedene zwielichtige Gestalten.“

Kalec hob die Hand vor seine Brust und riss die Augen in gespieltem Schrecken auf. Jaina lächelte. „Keine Sorge. Die einzigen Drachen, mit denen ich Ärger habe, sind die schwarzen Drachen im Sumpf“, erklärte sie. „Die Horde lässt uns in Ruhe, solange wir auch auf Distanz bleiben. Das ist eine Übereinkunft, mit der ich leben kann, selbst dann noch, wenn viele das nicht verstehen wollen.“

„Drängt die Allianz auf einen Krieg?“, fragte Kalec leise, und Jaina schnitt eine Grimasse.

„Ah, da habt Ihr einen wunden Punkt getroffen“, sagte sie. „Lasst uns später darüber sprechen. Wie ergeht es denn dem blauen Schwarm, Kalec? Die meisten Magier hassen ihn, so wie Kinndy es tat, aber ich weiß, dass Ihr viel durchleiden musstet. Erst den Nexuskrieg, dann habt Ihr einen neuen Aspekt gesucht und wieder verloren, und jetzt dieser Diebstahl …“

„Nun habt Ihr einen wunden Punkt berührt“, entgegnete Kalec, doch seine Stimme klang sanft.

„Verzeiht“, entschuldigte sich Jaina. Ihr Weg führte sie aus der Stadt hinaus, wo das Kopfsteinpflaster weniger gepflegt und der Boden leicht schlammig war. „Ich wollte Euch nicht beleidigen. Seht mich nur an – und ich soll eine Diplomatin sein.“

„Ich fühle mich nicht beleidigt. Außerdem zeichnet es einen guten Diplomaten aus, dass er deutlich erkennt, was sein Gegenüber beschäftigt“, bemerkte Kalec. „Es war in der Tat schwer für uns. So viele Zeitalter gehörten wir zu den mächtigsten Wesen in Azeroth. Wir allein hatten die Aspekte, die über unsere Schwärme und die ganze Welt wachten. Selbst die niedersten unserer Rasse lebten so lange, dass wir Euch unsterblich erscheinen mussten, und wir hatten Fähigkeiten, die vielen Drachen ein Gefühl der Überlegenheit gaben. Todesschwinge hat uns gelehrt – wie lautet noch gleich die Wendung, die Ihr Menschen benutzt? –, kleinere Kuchen zu backen.“

Jaina musste an sich halten, um nicht zu kichern. „Ich glaube, der richtige Ausdruck ist ‚kleinere Brötchen‘.“

Leise lachte er. „Es scheint, obwohl ich die jüngeren Rassen mehr schätze als die meisten meiner Brüder, habe ich doch noch viel zu lernen.“

Jaina winkte ab. „Menschliche Umgangssprache gehört sicher nicht zu den wichtigsten Dingen, die Ihr lernen müsst“, entgegnete sie.

„Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich im Augenblick nichts Wichtigeres zu tun hätte“, erwiderte Kalec, und damit wurde er wieder ernst.

„Halt!“, rief da eine schneidende Stimme. Als sich ihnen mehrere Wachen mit gezückten Schwertern und Äxten näherten, blieb Kalecgos stehen und blickte Jaina überrascht an. Doch dann hob die Lady den Arm, und da erkannten die Uniformierten sie. Hastig steckten sie ihre Waffen wieder fort und verbeugten sich, während einer von ihnen, ein hellhaariger, bärtiger Mann, vor ihr salutierte.

„Lady Jaina“, sagte er. „Man hatte mir nicht gesagt, dass Ihr und Euer Gast hierherkämet. Wünscht Ihr, dass Euch eine Eskorte begleitet?“

Die beiden Magier tauschten einen leicht amüsierten Blick. „Danke, Hauptmann Wymor! Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber ich glaube, dieser ehrenwerte Herr ist durchaus in der Lage, mich zu beschützen“, erklärte Jaina, ohne eine Miene zu verziehen.

„Wie Ihr wünscht, Mylady.“

Kalec wartete, bis sie außer Hörweite der Wachen waren, bevor er mit ganz und gar ernster Stimme bemerkte: „Ich weiß nicht, Jaina; vielleicht bin ich derjenige, der gerettet werden muss.“

„Nun, dann werde ich eben Euch retten“, erwiderte Jaina, deren Gesicht jetzt ebenso ernst war wie seines.

Kalec seufzte. „Das tut Ihr doch schon“, murmelte er leise.

Sie blickte ihn an, die Stirn in Falten. „Ich helfe Euch“, erklärte sie. „Aber ich rette Euch nicht.“

„Auf gewisse Weise schon. Und nicht nur Ihr, Jaina. Ihr alle. Wir … wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren. Alles, was ich will, ist, meinen Schwarm zu beschützen und mich um ihn zu kümmern.“

Da verstand Jaina plötzlich. „So, wie Ihr Anveena beschützen wolltet.“

Ein Muskel an seiner Wange zuckte, doch er hielt in seinen Schritten nicht inne. „Ja.“

„Ihr habt sie nicht im Stich gelassen.“

„Doch, das habe ich getan. Sie wurde gefangen genommen und benutzt.“ Kalecs Stimme war rau vor Zorn auf sich selbst. „Durch sie wollte man Kil’jaeden zurück nach Azeroth bringen. Und ich konnte sie nicht retten.“

„Falls ich richtig unterrichtet bin, hattet Ihr keinen Einfluss auf diese Ereignisse“, erwiderte Jaina mit sanfter Stimme. Sie wollte sich langsam vorarbeiten, denn sie war nicht sicher, wie viel Kalecgos mit ihr teilen würde. „Ihr wart selbst von einem Schreckenslord befallen, und nachdem Ihr Euch von dieser grausigen Existenz befreit hattet, seid Ihr sogleich zu ihr geeilt.“

„Aber ich konnte nichts tun. Ich konnte nicht verhindern, dass sie ihr Leid zufügten.“

„Oh, doch, das habt Ihr“, sagte Jaina, die das Thema nicht auf sich beruhen lassen wollte. „Ihr habt Anveena erlaubt, das zu werden, was sie wirklich war – der Sonnenbrunnen. Und nur durch Eure Liebe und ihren Mut konnte Kil’jaeden besiegt werden. Ihr seid selbstlos genug gewesen, ihr nicht ihr Schicksal zu verwehren.“

„Und es war den Aspekten vorbestimmt, ihre Mächte für den Sieg über Todesschwinge zu opfern, ich weiß“, brummte Kalec. „Es ist nicht falsch, was geschah. Aber … es ist hart. Es ist hart, sehen zu müssen, wie andere ihre Hoffnung verlieren, und …“

„Und zu wissen, dass Eure Hoffnung ebenfalls schwindet?“

Er wirbelte herum und sah sie an. Kurz fürchtete sie, zu weit gegangen zu sein, aber was sie in seinen Augen sah, war nicht Zorn, sondern Verzweiflung. „Ihr“, begann er, „seid längst nicht so alt wie ich. Wie kann es sein, dass Ihr es versteht, so tief in andere hineinzusehen?“

Sie hängte sich bei ihm ein, als sie weitergingen. „Weil ich mit denselben Problemen ringe.“

„Warum seid Ihr hier, Jaina?“, fragte er, und ihre goldene Augenbraue wanderte ob der Forschheit dieser Frage nach oben. „Ich habe gehört, dass Ihr zu den besten Magiern des Ordens gezählt wurdet. Warum seid Ihr nicht in Dalaran? Warum hier, zwischen einem Sumpf und einem Ozean, zwischen der Horde und der Allianz?“

„Weil jemand hier sein muss.“

„Wirklich?“ Seine Stirn lag in Falten, als er stehen blieb und sie zu sich herumdrehte.

„Natürlich!“, erwiderte sie schroff. Wut stieg in ihr hoch. „Wollt Ihr etwa einen Krieg zwischen der Allianz und der Horde, Kalec? Vertreiben die Drachen sich dieser Tage damit die Zeit? Herumzufliegen und Ärger heraufzubeschwören?“

Ihre Worte waren wie ein Schlag, und der Schmerz in seinen blauen Augen zeigte, dass dieser Hieb getroffen hatte. Sie zuckte zusammen. „Es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint.“

Kalec nickte. „Was habt Ihr dann gemeint?“, fragte er, doch nun lag kein Zorn mehr in seiner Stimme.

Stumm starrte sie ihn an. Sie wusste es nicht. Doch dann brachen die Worte aus ihrem Inneren hervor. „Ich wollte nicht mehr Teil des Ordens sein, nachdem Dalaran gefallen war. Nachdem so viele gestorben waren. Nachdem … Antonidas gestorben war. Arthas ermordete ihn, Kalec. Er tötete so schrecklich viele. Der Mann, von dem ich einst geglaubt hatte, dass ich ihn einmal heiraten würde. Den ich geliebt hatte. Ich konnte … konnte dort nicht bleiben. Ich hatte mich verändert, und die Kirin Tor waren auch nicht mehr dieselben. Sie sind nicht einfach nur neutral … Ich glaube, sie schauen auf alle herab, die nicht zu ihnen gehören, und vermutlich bemerken sie es nicht einmal. Ich habe aber gelernt, dass man den Frieden nur dann wirklich fördern kann, wenn man die Leute auch anerkennt – und zwar alle. Davon abgesehen habe ich ein gewisses diplomatisches Talent, auch wenn ich selbst am allerwenigsten damit gerechnet hätte“, erklärte sie ernst.

Der Schmerz war wieder von einem gütigen Gesicht verschwunden, und er hob die Hand, um ihr goldenes Haar zu streicheln, fast so, als würde er ein kleines Kind trösten. „Jaina?“, fragte er. „Falls Ihr das glaubt – und ich sage nicht, dass Ihr Euch irrt –, warum müsst Ihr dann noch versuchen, Euch selbst davon zu überzeugen?“

Das war es. Er hatte den Dolch in ihr Herz gestoßen, scharf und kalt und dabei so qualvoll, dass sie wie unter einem echten Schlag keuchte. Sie starrte zu ihm hoch, unfähig, ihren Blick abzuwenden. Die Tränen stachen in ihren Augen.

„Sie wollen nicht auf mich hören“, wisperte sie, so leise, dass man es kaum hören konnte. „Niemand will auf mich hören. Nicht Varian, nicht Thrall und erst recht nicht Garrosh. Ich habe das Gefühl, allein an einer Klippe zu stehen, und der Wind reißt mir die Worte von den Lippen, noch während ich sie ausspreche. Ich spüre, dass, ganz gleich, was ich tue oder sage, alles … sinnlos ist. Es wird nichts ändern. Ich … werde nichts ändern.“

Während sie sprach, sah sie, wie ein trauriges Lächeln der Verbundenheit Kalecs Lippen streifte.

„Wir haben also noch etwas gemeinsam, Lady Jaina Prachtmeer“, entgegnete er. „Wir fürchten, dass wir nichts tun, nicht helfen können. Dass alles, was wir je getan haben, sinnlos war.“

Die Tränen rannen über ihre Wangen, und er wischte sie sachte fort. „Aber eines weiß ich. Diese Dinge unterliegen einem Rhythmus, einem Kreislauf. Nichts bleibt ewig gleich, Jaina. Nicht einmal wir Drachen, die wir so langlebig und angeblich auch so weise sind. Wie sehr müsst erst Ihr Menschen Euch dann wandeln? Einst seid Ihr eine junge Schülerin gewesen, neugierig und strebsam, zufrieden damit, in Dalaran zu leben und Zauber zu erlernen. Dann riss Euch die Welt aus Eurem sicheren Heim heraus. Ihr habt Euch verändert. Ihr habt überlebt, und in Eurer neuen Rolle als Diplomatin seid Ihr aufgeblüht. Noch immer gab es Fragen und Herausforderungen, doch nun waren sie von einer anderen Art. Und so habt Ihr einen Nutzen erfüllt. Diese Welt …“ Er schüttelte den Kopf und blickte zum Himmel hoch. „Diese Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war. Alles, jeder hat sich verändert. Hier – lasst mich Euch etwas zeigen.“

Er hielt die Hand in die Höhe, und als sich seine langen, gelenkigen Finger bewegten, stob arkane Energie von ihren Kuppen. Sie formte einen wirbelnden Ball, der vor ihnen in der Luft schwebte.

„Seht Euch das an“, forderte er sie auf.

Jaina betrachtete den Ball, und als sie ihre törichten Tränen – wo kamen sie überhaupt her? – niederzwang, wurden die Muster darauf klarer. Einen Moment lang fragte sie sich, gleichermaßen verblüfft und fasziniert, ob sie wirklich eine Kugel aus Energie betrachtete oder doch eher einen gnomischen Schaltplan. Zeichen und Symbole huschten umher, dann flossen sie zusammen und ordneten sich in einer bestimmten Formation an.

„Es ist … wunderschön“, hauchte sie.

Kalec spreizte die Finger und schob seine Hand durch den Ball. Als wäre es ein Nebelgespinst, das er aufgewirbelt hatte, wallte die Kugel auseinander, allerdings nur, um sich auf neue Weise zusammenzusetzen. Sie veränderte ihr Aussehen unablässig, ein Kaleidoskop der Magie, voller präziser Muster und Anordnungen.

„Versteht Ihr, Jaina?“, fragte er. Weiterhin starrte sie wie hypnotisiert auf diesen wundersamen Ball, dessen Muster sich anordneten, zerbrachen und eine neue Form annahmen.

„Das … ist mehr als ein Zauber“, sagte sie schließlich.

Er nickte. „Es ist das, woraus Zauber gemacht sind.“

Einen Moment lang verstand sie nicht, was es bedeuten sollte. Bei Zaubern ging es um Sprüche, Gesten, manchmal auch um Reagenzien – und dann traf sie die Erkenntnis mit einer solchen Wucht, dass sie beinahe gestolpert wäre.

„Es ist … Mathematik!“

„Gleichungen. Theoreme. Ordnung“, bestätigte Kalec zufrieden. „Auf eine Weise verbunden, bedeuten sie das eine – doch setzt man sie anders zusammen, stehen sie für etwas vollkommen anderes. Sie sind immer gleich und doch stets anders, so wie das Leben. Alles verändert sich, Jaina, ob nun durch äußere Einflüsse oder von innen heraus. Und manchmal reicht eine winzige Änderung in der Gleichung schon aus.“

„Dann … sind wir also auch Magie“, flüsterte Jaina. Sie riss die Augen von dem unbeschreiblich schönen Wirbel aus lyrischer, poetischer Mathematik los und setzte zu einer Frage an.

„Lady Jaina!“

Der Ruf erschreckte sie beide, und als sie sich umdrehten, sahen sie Hauptmann Wymor auf einem rotbraunen Pferd herbeireiten. Er zerrte so hart an den Zügeln, dass sich das Tier aufrichtete und auf das Zaumzeug biss.

„Hauptmann Wymor, was …“, begann Jaina, bevor ihr die Wache das Wort abschnitt.

„Die Leidende ist mit Neuigkeiten zurückgekehrt“, berichtete er, nach dem kurzen, aber gehetzten Galopp noch keuchend. „Die Horde – sie sammelt sich. Ihre Truppen sind von Orgrimmar und Ratschet aus losgezogen, ebenso von Mulgore. Es sieht aus, als würden sie alle auf die Feste Nordwacht zumarschieren!“

„Nein“, keuchte Jaina, und ihr Herz, gerade eben noch von der Schönheit der Erkenntnis beflügelt, die Kalecgos mit ihr geteilt hatte, wurde ihr schwer in der Brust. „Bitte, nein … nicht jetzt … nicht jetzt!“

Загрузка...