Jaina Prachtmeer Gezeiten des Krieges Von Christie Golden

Dieses Buch ist meinem geliebten Vater gewidmet:

James R. Golden

1920–2011

Ein wahrer Paladin ist ins Licht hinübergegangen.

Ich liebe dich, Dad.


Denn nicht Licht ist von Nöten, sondern Feuer; nicht sanfter Regen, sondern Donner. Wir brauchen das Unwetter, den Sturm und das Erdbeben.

– Frederick Douglass

1

Die Dämmerung stand kurz bevor, und die zumindest ansatzweise warmen Farben des Tages machten kälteren Blau- und Lilatönen Platz. Stechende, messerscharfe Schneeflocken wirbelten hoch über Kaltarra durch die Luft. Andere Wesen hätten hier gezittert und ihre Augen abgeschirmt, ihr Fell oder ihre Federn aufgeplustert oder ihre Mäntel enger um die Schultern geschlungen. Der große blaue Drache hingegen schenkte Schnee oder Wind keinerlei Beachtung, während er mit träge schlagenden Flügeln dahinglitt. Er war losgeflogen, um die scharfen Zähne der eisigen, schneegepeitschten Luft zu spüren, in der vergeblichen Hoffnung, sie möge seine Gedanken reinigen und seinen Geist beruhigen.

Obgleich noch jung – nach den Maßstäben seiner Art –, hatte Kalecgos bereits gewaltige Veränderungen innerhalb seines Volkes erlebt. Zudem war er der Auffassung, die blauen Drachen hätten schon unendlich viel ertragen müssen. Zweimal hatten sie ihren geliebten Aspekt, Malygos, verloren; erst für mehrere Jahrtausende an den Wahnsinn, dann schließlich an den Tod. Die blauen Drachen – die klügsten Wesen und Beschützer der arkanen Magie in der Welt Azeroth – waren der Schwarm, der am meisten nach Ordnung und Ruhe strebte, und es war ebenso ironisch wie tragisch, dass sie am wenigsten in der Lage zu sein schienen, mit einem solchen Chaos umzugehen.

Doch selbst inmitten dieses Umbruchs waren ihre Herzen rein geblieben, und so hatte der blaue Drachenschwarm nicht den kompromisslosen Pfad gewählt, den Malygos’ verstorbener Blutserbe, Arygos, repräsentierte, sondern den friedlicheren, lebensbejahenderen Weg, den Kalecgos ihnen gewiesen hatte. Diese Wahl hatte sich als die richtige erwiesen, denn Arygos hatte gar nicht vorgehabt, ein hingebungsvoller Verwalter des Schwarms zu sein, vielmehr hatte er sie alle betrogen. Er hatte versprochen, sein Volk dem finsteren – und ganz und gar wahnsinnigen – Drachen Todesschwinge auszuliefern, sobald es beschlossen hätte, ihm zu folgen. Stattdessen hatten sich die blauen Drachen mit den roten, grünen und bronzenen Schwärmen – und einem wahrlich einzigartigen Orc – zusammengetan, um dieses mächtige Monster zu besiegen.

Als Kalecgos nun am dunkler werdenden Himmel dahinflog und sich der Schnee lavendelfarben unter ihm tönte, musste er daran denken, dass die Schwärme durch diesen Sieg auf gewisse Weise auch sich selbst geopfert hatten. Es gab keine Aspekte mehr, auch wenn die Drachen, die dieses Amt früher innegehabt hatten, noch leben mochten. Der Kampf gegen Todesschwinge hatte ihnen alles abverlangt, und obwohl Alexstrasza, Nozdormu, Ysera und Kalecgos am Ende noch gestanden hatten, waren ihre Aspekt-Mächte doch verschwunden – aufgezehrt in jenen letzten Augenblicken der Schlacht. Die Aspekte waren nur für diesen einen Zweck erschaffen worden, und nun, da ihr Ziel erreicht war, hatten sie ihr Schicksal erfüllt.

Es gab allerdings auch noch eine andere, weniger deutliche Nebenwirkung: Die Schwärme waren sich ihrer Rolle in der Welt und ihrer Aufgaben stets völlig sicher gewesen. Aber nun, da der Moment, für den man sie erschaffen hatte, gekommen – und wieder verstrichen – war, welchen Sinn hatte ihre Existenz da noch? Viele blaue Drachen waren bereits davongeflogen; einige von ihnen hatten um seine Erlaubnis gebeten, bevor sie den Nexus verließen. Auch wenn er nicht länger die Mächte eines Aspekten besaß, war Kalecgos doch noch immer ihr Anführer. Sie hatten ihm erzählt, dass sie rastlos seien und herausfinden wollten, ob es einen anderen Ort auf dieser Welt gab, wo ihre Fähigkeiten und Talente willkommen wären. Die anderen waren einfach verschwunden – an einem Tag hier, am nächsten schon fort. Die Drachen, die noch auf Kaltarra geblieben waren, steigerten sich entweder immer mehr in eine Aufgewühltheit hinein oder ergaben sich der Niedergeschlagenheit, die sich wie eine Krankheit unter ihnen ausbreitete.

Kalecgos raste dem Boden entgegen und drehte eine Schleife, sodass die kalte Luft seine Schuppen streichelte. Dann breitete er die Flügel aus und ließ sich von einem Aufwind wieder in die Höhe tragen. Doch seine Gedanken waren noch immer grüblerisch und traurig.

So viele Jahre, selbst während Malygos’ Wahnsinn, hatten die blauen Drachen eine Aufgabe gehabt, aber die Frage, was sie in einem Augenblick wie diesem tun sollten, war nur lautlos gedacht oder leise geflüstert worden. Kalecgos konnte nicht anders, als zu überlegen, ob er seinen Schwarm vielleicht enttäuscht hatte. Wäre es ihnen unter der Führung eines wahnsinnigen Aspekts besser ergangen? Die Antwort war „Natürlich nicht“, aber dennoch … dennoch.

Er schloss die Augen, allerdings nicht wegen des nadelspitzen Schnees, sondern allein aufgrund des Schmerzes.

Mit ihren Herzen haben sie darauf vertraut, dass ich sie anführen kann, und damals, glaube ich, habe ich sie würdig geführt. Aber … jetzt? Welchen Platz haben die blauen Drachen – haben irgendwelche Drachen überhaupt – in einer Welt, in der die Stunde des Zwielichts vereitelt wurde? Steht uns nur noch eine endlose Nacht bevor?

Er fühlte sich schrecklich einsam. Was die Führerschaft des blauen Drachenschwarms betraf, so hatte er sich selbst von Anfang an für die denkbar unwahrscheinlichste Wahl gehalten. Schließlich hatte er sich nie wirklich wie ein typischer blauer Drache gefühlt. Während er nun dahinflog, mutlos und von wachsenden Zweifeln geplagt, erinnerte er sich aber, dass es zumindest eine gab, die ihn besser als alle anderen verstehen konnte. Er legte sich auf die Seite und krümmte seinen gewaltigen Körper leicht, dann schlug er mit den Flügeln und sauste in Richtung des Nexus zurück.

Er wusste, wo er sie finden konnte.


Kirygosa, Tochter von Malygos und Schwester von Arygos, saß in ihrer menschlichen Gestalt auf einer der magischen, leuchtenden Plattformen, die um den Nexus herum in der Luft schwebten. Sie trug nur ein langes, weites Kleid, und ihr blauschwarzes Haar war nicht geflochten. Mit dem Rücken hatte sie sich an einen der schimmernden silberweißen Bäume gelehnt, die einige der Plattformen schmückten. Hoch über ihr zogen blaue Drachen ihre Kreise, ganz genau so, wie sie es schon seit Jahrhunderten getan hatten, eine endlose Patrouille, auch wenn es inzwischen keine Gefahr mehr für den Schwarm zu geben schien. Kirygosa schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit, ihr Blick war trübe und ziellos, so als hätte sie sich in Gedanken verloren. Doch was es war, das ihren Geist beschäftigte, vermochte Kalecgos nicht zu sagen.

Sie drehte sich zu ihm herum, als er näherkam, und sie lächelte schmal, als sie erkannte, dass er keiner der Wächter des Nexus war. Er landete auf der Plattform und nahm seine Halbelfengestalt an, und nun wuchs ihr Lächeln in die Breite, während sie ihm eine Hand entgegenstreckte. Er küsste sie liebevoll und setzte sich dann neben Kirygosa auf den Boden, seine langen Beine ausgestreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, darum bemüht, einen gelassenen Eindruck zu machen.

„Kalec“, sagte sie liebevoll. „Was führt dich an diesen Ort der Reflexion?“

„So etwas soll das hier also sein?“

„Für mich schon. Der Nexus ist mein Zuhause, und ich möchte mich nicht zu weit davon entfernen, aber es ist gar nicht so einfach, dort drinnen einen stillen Ort zu finden, wo man allein sein kann.“ Sie wandte sich ihm zu. „Darum ziehe ich mich hierhin zurück, wenn ich nachdenken möchte. Du scheinst aus einem ganz ähnlichen Grund gekommen zu sein.“

Kalec seufzte. Seine Freundin, von der er oft wie von einer Schwester dachte, war einfach zu scharfsichtig, als dass er seine Sorgen vor ihr verbergen könnte. „Ich bin geflogen“, sagte er.

„Vor deinen Pflichten kannst du nicht davonfliegen, ebenso wenig wie vor deinen Gedanken“, erklärte Kirygosa sanft, während sie die Hand ausstreckte und seinen Arm drückte. „Du bist unser Anführer, Kalec. Und du hast uns weise geführt. Arygos hätte den Schwarm vernichtet – und die ganze Welt mit ihm.“

Kalec zog die Augenbrauen zusammen, als er an die trostlose Vision dachte, die Ysera, der frühere Aspekt der grünen Drachen, vor nicht allzu langer Zeit mit ihnen geteilt hatte. Es war die Stunde des Zwielichts gewesen – eine, in der alles Leben ausgelöscht wurde, vom Gras und den Insekten über die Orcs, Elfen, Menschen und all die anderen Geschöpfe von Land und Meer bis hin zu den mächtigen Aspekten selbst, von denen jeder durch seine eigenen, einmaligen Fähigkeiten getötet wurde. Am Ende war sogar Todesschwinge gestorben, gemeinsam mit dem Rest von Azeroth – aufgespießt wie eine groteske Trophäe auf dem Turm des Wyrmruhtempels. Kalecgos erschauderte. Selbst jetzt noch verstörte ihn die Erinnerung an Yseras melodiöse, aber gebrochene Stimme, die erklungen war, während sie den anderen diese Vision gezeigt hatte.

„Ja, das hätte er“, brummte Kalec. Diesem Teil ihrer Aussage stimmte er zu. Einem Teil ihrer Aussage stimmte er zu, aber nicht allem.

Ihre blauen Augen suchten seinen Blick. „Lieber Kalec“, sagte sie, „du warst schon immer … anders.“

Trotz seiner düsteren Stimmung flackerte kurz ein wenig Heiterkeit in ihm auf, und er verzerrte seine attraktiven Halbelfenzüge zu einer Grimasse. Kirygosa lachte. „Genau das meine ich.“

„Es ist nicht immer gut, anders zu sein“, entgegnete er.

„Aber es ist deine Natur, und weil du anders als die anderen bist, hat dich der Schwarm auserwählt.“

Sein Frohmut schmolz dahin, und als er sie ansah, war er wieder vollkommen ernst. „Aber glaubst du auch“, fragte er traurig, „dass sie mich jetzt noch immer auserwählen würden, meine liebe Kirygosa?“

Die Wahrheit auszusprechen war für Kirygosa schon immer eine der größten Tugenden gewesen. Sie erwiderte seinen Blick und suchte nach einer Antwort, die einerseits wahr, aber auch tröstlich war, doch sie schien keine finden zu können. Kalecs Herz wurde schwerer. Wenn ihm nicht einmal seine geliebte Freundin, seine Schwester im Geiste, ermutigende Worte anbieten konnte, dann hatte er mehr Grund zur Sorge, als ihm bislang klar gewesen war.

„Was ich glaube, ist …“

Er sollte nie erfahren, was sie dachte, denn in diesem Augenblick unterbrach ein plötzlicher, schrecklicher Laut ihre Unterhaltung – die verzweifelten und entsetzten Schreie der blauen Drachen. Über ein Dutzend von ihnen stob aus dem Nexus hervor und flog wild durcheinander. Einer von ihnen brach plötzlich von den anderen fort und raste gezielt auf die Plattform zu. Kalec sprang auf die Beine, während sämtliches Blut aus seinem Gesicht wich. Kiry stand neben ihm, eine Hand vor dem aufgerissenen Mund.

„Lord Kalecgos!“, schrie Narygos. „Wir sind am Ende! Alles ist verloren!“

„Was ist denn geschehen? Beruhige dich und sprich langsamer, mein Freund!“, sagte Kalec, obwohl die schiere Panik und das Grauen, das Narygos ausstrahlte, auch sein Herz schneller schlagen ließen. Der andere Drache war eigentlich nur selten aus der Ruhe zu bringen, und auch zu der Zeit, als Kalec und Arygos um das Amt des Aspekts gestritten hatten, war er einer der besonneneren und aufgeschlosseneren gewesen. Ihn so aufgewühlt zu sehen, erschreckte Kalecgos.

„Die Fokussierende Iris ist verschwunden!“

„Verschwunden? Wie meinst du das?“

„Man hat sie gestohlen!“

Kalec starrte ihn an. Ihm wurde ganz übel vor Grauen, und die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Die Fokussierende Iris war für die blauen Drachen nicht nur ein Gegenstand von ungeheurer arkaner Macht, sondern auch ein wertvoller Schatz, der sich schon länger im Besitz ihres Schwarmes befand, als sich irgendjemand erinnern konnte. Wie viele solcher Gegenstände war er an sich weder gut noch böse, aber er ließ sich sowohl für edle als auch für finstere Zwecke einsetzen – beides war in der Vergangenheit schon geschehen; so hatte man ihn benutzt, um die arkane Energie von Azeroth zu bündeln, aber ebenso, um eine schreckliche Kreatur zum Leben zu erwecken, die nie auch nur einen Atemzug hätte tun dürfen.

Der Gedanke, dass die Iris nun nicht mehr da war, sondern verschwunden, in den Händen eines anderen, der ihre Kräfte einsetzen könnte …

„Darum haben wir sie doch an einen anderen Ort gebracht“, murmelte Kalecgos. Noch keine zwei Tage war es her, da hatten er und ein paar andere vorgeschlagen, die Fokussierende Iris aus dem Auge der Ewigkeit fortzuschaffen und in einem geheimen Versteck unterzubringen – aus Angst, dass genau so etwas geschehen könnte. Er erinnerte sich noch, wie er den anderen blauen Drachen seine Begründung vorgetragen hatte: Viele unserer Geheimnisse sind bereits bekannt, und jeden Tag verlassen mehr Brüder und Schwestern den Schwarm. Einige dort draußen werden sich dadurch ermutigt sehen. Schon früher sind Fremde in den Nexus eingedrungen und haben die Fokussierende Iris für finstere Zwecke eingesetzt. Wir müssen sie bewachen … denn falls sich in einigen Teilen von Azeroth bereits herumgesprochen hat, dass sich dieses Artefakt im Nexus befindet, können wir davon ausgehen, dass es eines Tages wieder ungeschützt sein wird.

Nun war dieser Tag also gekommen, wenn auch nicht so, wie Kalec es vorausgesehen hatte. Die blauen Drachen hatten beschlossen, eine kleine Gruppe solle das Artefakt auf die Gefrorene See hinaustragen, auf dass es – wie er gehofft hatte – sicher in verzaubertem Eis eingeschlossen werde. Dort würde niemand es finden, ein Brocken gefrorenen Wassers, der in Wahrheit aber so viel mehr war.

Kalec kämpfte um seine Beherrschung. „Warum sagst du, dass sie gestohlen wurde?“ Bitte, flehte er, auch wenn er nicht wusste, an welche Macht diese Bitte gerichtet war, bitte, lass es nur ein Missverständnis sein!

„Wir haben nichts von Veragos oder den anderen gehört, und die Fokussierende Iris ist auch nicht dort, wo sie sein sollte.“

Die blauen Drachen, die im Verlauf der langen Jahrhunderte die meiste Zeit mit dem Artefakt verbracht hatten, waren besonders empfänglich für seine Aura, und Kalecgos hatte sie gebeten, der Reise der Iris mit ihren Sinnen zu folgen. Inzwischen hätte der Schatz längst gut geschützt am Grunde des Meeres liegen müssen, und diejenigen, die ihn dorthin gebracht hatten, hätten auch schon wieder zurück sein sollen. Natürlich gab es andere Erklärungen dafür, die längst nicht so düster waren. Dennoch wechselte Kalecgos sofort in seine Drachengestalt und flog schnell zum Nexus hinüber, dicht gefolgt von Kirygosa und Narygos.

Er wusste, dass diese anderen Möglichkeiten nichts als falsche Hoffnungen waren, wenn er auch nicht sagen konnte, warum er sich da so sicher war. Kalecgos leitete sein Volk erst seit ein paar Monaten, zunächst als Aspekt und nun als Anführer. Während dieser kurzen Zeit waren schon zwei der schlimmsten Katastrophen eingetreten, die dem blauen Drachenschwarm überhaupt widerfahren konnten.


Kalecgos landete im kalten, höhlenartigen Inneren des Nexus und wurde von einem vollkommenen Chaos begrüßt.

Alle schienen gleichzeitig aufeinander einzureden, und jede Faser ihrer riesigen, reptilienartigen Körper verströmte Angst und Zorn. Einige Drachen saßen indes zusammengekauert und seltsam still da, was Kalecgos noch mehr als das Geschrei alarmierte. Zugleich fiel ihm auf, wie viele Mitglieder des Schwarms schon fort sein mussten. Und die wenigen, die noch geblieben waren, wünschten sich nun ohne Zweifel, dass auch sie den Nexus verlassen hätten, bevor dieses Unheil über sie gekommen war.

Er behielt seine wahre Gestalt bei und rief den anderen zu, still zu sein, doch nur eine Handvoll gehorchte diesem Befehl, die anderen schrien weiterhin durcheinander.

„Wie konnte das nur geschehen?“

„Wir hätten mehr Drachen losschicken sollen; ich hatte doch gesagt, wir hätten mehr Drachen losschicken sollen!“

„Das war von Anfang an eine närrische Idee. Wäre die Iris hiergeblieben, wir hätten sie jede Sekunde bewachen können!“

Kalecgos donnerte seinen Schwanz auf den Boden. „Ruhe!“, brüllte er, und das Wort hallte durch den Raum.

Die Drachen verstummten abrupt, und nun richtete sich jeder Kopf auf den Anführer des Schwarms. In einigen Gesichtern sah Kalec das schwache Schimmern der Hoffnung, es werde sich hier gewiss nur um ein Missverständnis handeln, das er irgendwie aufklären könnte. Andere starrten ihn aus wütenden, missmutigen Augen an; ohne Zweifel gaben sie ihm die Schuld für das, was geschehen war.

Sobald er ihre volle Aufmerksamkeit hatte, begann Kalecgos zu sprechen. „Bevor wir uns in wilden Spekulationen ergehen, sollten wir erst einmal überlegen, was wir wirklich wissen“, erklärte er. „Der blaue Schwarm zittert nicht vor Ängsten, die allein einer fiebrigen Fantasie entstammen.“

Einige der Drachen senkten bei diesen Worten die Köpfe, während ihre Ohren beschämt nach unten sackten. Ein paar andere aber zuckten empört hoch. Um sie würde sich Kalec später kümmern. Jetzt musste er erst einmal die Fakten in Erfahrung bringen.

„Ich habe es zuerst gespürt“, sagte Teralygos. Er war einer der Ältesten des blauen Schwarms, der entschieden hatte hierzubleiben. Einst hatte er sich auf die Seite von Kalecs Rivalen Arygos gestellt, doch seitdem dieser als Verräter enttarnt und anschließend getötet worden war, hatte Teralygos gemeinsam mit den meisten anderen Kalec die Treue gehalten, auch noch, nachdem er seine Aspekt-Fähigkeiten eingebüßt hatte.

„Du bist schon seit Langem ein Wächter unseres Heimes, Teralygos; und groß ist der Dank, den wir dir alle schulden“, erwiderte Kalec, die Stimme voller Respekt. „Was hast du gespürt?“

„Der Pfad, den Veragos und die anderen nehmen sollten, war nicht der direkteste Weg“, erklärte Teralygos. Kalec nickte. Man hatte beschlossen, dass es zu riskant wäre, wenn jemand eine Gruppe von blauen Drachen zu sehen bekäme, die kerzengerade auf ihr Ziel zuflogen, noch dazu mit einem rätselhaften Gegenstand. Stattdessen war die Gruppe in Form zweibeiniger Gestalten aufgebrochen. Das ließ die Reise zwar länger und umständlicher werden, aber so würden sie wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregen, sollten feindlich gesonnene Augen sie entdecken. Falls sie tatsächlich auf dem Boden angegriffen worden waren, dann hätten sie eigentlich in Sekundenschnelle ihre menschenähnliche Gestalt ablegen und ihre wirkliche annehmen können. Fünf Drachen sollten es mit jedem aufnehmen können, der in der Ödnis lauerte und hoffte, eine kleine Karawane ausrauben zu können.

Dennoch …

„Ich kenne sämtliche Biegungen auf dieser Route“, fuhr Teralygos fort. „Ich und die anderen – Alagosa und Banagos –, wir haben jeden Schritt unserer Brüder und Schwestern verfolgt. Und bis vor ungefähr einer Stunde war noch alles in Ordnung.“

Teralygos’ Stimme klang rau vom Alter, und bei dem letzten Wort bebte sie. Kalec behielt den Blick fest auf den Drachen gerichtet, doch er spürte, wie Kirygosas Kopf in einer Geste der Unterstützung an seiner Schulter entlangstreifte.

„Was ist dann geschehen?“

„Dann sind sie stehen geblieben. Bis zu diesem Moment waren sie marschiert, ohne auch nur eine Sekunde haltzumachen. Nach einer kurzen Pause bewegte sich die Iris zwar wieder, nun aber nicht mehr nach Westen, nicht auf die Gefrorene See zu … sondern nach Südwesten, und zwar viel schneller, als Veragos und die anderen sie zuvor transportiert hatten.“

„Wo haben die Träger haltgemacht?“

„An der Küste des Meeres. Inzwischen befindet sich die Iris schon weit im Süden. Und je weiter sie sich von mir entfernt“, schloss Teralygos niedergeschlagen, „desto schwächer wird die Verbindung.“

Kalecgos blickte Kirygosa an. „Nimm ein paar Drachen mit und flieg zur Küste! Seid aber vorsichtig! Findet heraus, was dort geschehen ist!“

Sie nickte, dann wandte sie sich an Banagos und Alagosa, und einen Moment später hoben die drei schon ab und flogen mit mächtigen Flügelschlägen aus dem Nexus. Auf dem Luftweg war es nicht weit bis zum Meer; sie würden bald wieder zurückkehren.

Zumindest hoffte Kalec dies.


„Oh nein!“, wisperte Kirygosa. Sie zögerte einen Moment und verharrte dann schwebend über dem Boden, während sie versuchte, eine Bedrohung in der Nähe aufzuspüren. Doch sie konnte nichts spüren. Die Feinde waren schon lange fort; zurückgeblieben war nur, was sie hier angerichtet hatten.

Sie faltete ihre Flügel zusammen und ließ sich grazil auf den Boden fallen, dann beugte sie traurig den geschmeidigen Hals.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war diese Stelle nur ein unauffälliger, wenngleich unwirtlicher Streifen Schnee gewesen – pur, rein und in seiner Schlichtheit beruhigend. Wäre hier jemand vorbeigekommen, er hätte eine weiße Weite gesehen, unterbrochen allein vom gelegentlichen Braun oder Grau eines Felsens. Hier und da gab es auch Streifen gelblichen Sandes, die sich dem hungrigen, kalten Ozean furchtlos entgegenstreckten.

Nun hatte sich der Schnee in einen roten Matsch verwandelt, in dem ein paar gezackte schwarze Krater klafften, die aussahen, als wären Blitzschläge in den gefrorenen Boden gefahren, den der weiße Schnee einst bedeckt hatte. Felsbrocken waren vom Boden empor- oder von den Steilwänden abgerissen und in die Ferne geschleudert worden, und sogar an einigen dieser Steinblöcke klebte trocknendes Rot. Als Kirygosa und die anderen in der Luft schnüffelten, nahmen sie den kupfernen Geruch von Blut wahr, aber auch den nachwirkenden Gestank dämonischer Aktivität und das einzigartige, unbeschreibliche Odeur von einer Milliarde anderer Zauber.

Doch die Angreifer hatten auch herkömmliche Waffen verwendet; ihre scharfen Augen entdeckten Wunden in der Erde, die das Werk von Speeren waren. Einige Pfeile hatten sich bis zur Fiederung in den Boden gebohrt.

„Die niederen Rassen“, grollte Banagos. Ihr Herz schmerzte zu sehr, andernfalls hätte ihn Kirygosa für solch beleidigende Worte getadelt. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er recht hatte, auch wenn es natürlich unmöglich schien, genau zu sagen, welche Rasse für dieses Blutbad verantwortlich war oder welchem Bündnis die Angreifer angehörten.

Kirygosa verwandelte sich in ihre menschliche Gestalt, und nachdem sie sich eine Locke langen blauschwarzen Haares hinter das Ohr gestrichen hatte, näherte sie sich respektvoll den Leichen ihrer gefallenen Schwarmbrüder. Fünf von ihnen waren einmal aufgebrochen, um die Fokussierende Iris zu schützen, und fünf waren bei dem Versuch gestorben, diese Aufgabe zu erfüllen. Der sanftmütige und weise Veragos, der älter als die anderen und der Anführer der Gruppe gewesen war. Rulagos und Rulagosa, Lebensgefährten, die in menschlicher Gestalt wie Zwillinge aussahen. Die beiden waren gemeinsam gestorben, dicht nebeneinander und in derselben Haltung, ihre Hälse von Pfeilen durchbohrt – im Tod waren sie sich ebenso ähnlich gewesen wie zuvor im Leben. Tränen füllten Kirygosas Augen, als sie sich umdrehte und zu Pelagosa hinabblickte. Man konnte sie nur noch anhand ihrer zierlichen Gestalt erkennen; Pelagosa hatte schon immer zu den Kleinsten des blauen Schwarms gehört, und obwohl sie noch jung gewesen war (nach den Maßstäben der Drachen zumindest), war sie im Umgang mit dem Arkanen weit über ihr Alter hinaus erfahren gewesen. Wer auch immer sie niedergestreckt haben mochte, er musste ebenfalls mit Magie gekämpft haben, denn sie war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Lurugos hatte vermutlich die meiste Gegenwehr geleistet, lag seine Leiche doch ein Stück abseits der anderen. Versengt, steif gefroren, teilweise unter dem Wasser am Strand verborgen, gespickt mit Pfeilen, die wie Stacheln aus seinen Schultern und Beinen ragten; doch er hatte nicht aufgegeben, und Kirygosa war überzeugt, dass sein Körper sogar dann noch ein oder zwei Herzschläge weitergekämpft hatte, als man ihm mit einem präzisen Hieb einer scharfen Waffe bereits den Kopf von den Schultern gehackt hatte.

Banagos trat in seiner menschlichen Gestalt hinter sie und drückte ihre Schulter. Rasch legte sie ihre Hand auf die seine.

„Ich weiß nur wenig über die niederen Rassen“, sagte er. „Aber ich sehe hier alle möglichen Arten von Waffen und Anzeichen dafür, dass Magie benutzt wurde – dämonische ebenso wie arkane.“

„Jede Rasse könnte hierfür verantwortlich sein“, erklärte Kiry.

„Dann wären wir vielleicht gut beraten, wenn wir sie alle auslöschen“, brummte Banagos. Seine Stimme zitterte vor Trauer, und seine blauen Augen waren von nicht vergossenen Tränen rot. Er hatte die kleine Pelagosa geliebt, und sobald sie das richtige Alter erreicht hätte, wären sie zu Partnern geworden.

„Nein“, schnappte Kiry scharf. „Diesen Weg wählen nur die Gedankenlosen, Banagos, und das weißt du auch. Pelagosa hat ebenfalls daran geglaubt. Es sind nicht ›sie alle‹, die das hier getan haben, ebenso wenig, wie ›alle‹ Drachen die jüngeren Rassen zum Vergnügen angreifen und Unschuldige niedermetzeln. Wir wissen, warum unsere Brüder und Schwestern getötet wurden. Es war nicht der Hass auf unser Volk, der die Feinde antrieb. Jemand möchte die Fokussierende Iris für seine – oder ihre – eigenen Machenschaften einsetzen, nur darum geht es hier.“

„Fünf Drachen“, stöhnte Alagosa. „Fünf von uns. Fünf unserer Besten. Wer könnte stark genug sein, um sie zu überwältigen?“

„Das“, erklärte Kiry, „müssen wir eben herausfinden. Banagos, kehr zum Nexus zurück und überbring den anderen die traurige Nachricht! Alagosa und ich werden hierbleiben und … uns um die Leichen unserer Gefallenen kümmern.“

Sie hatte ihm dadurch weitere Pein ersparen wollen, aber Banagos schüttelte den Kopf. „Nein. Sie wäre meine Partnerin geworden. Ich … möchte mich selbst um sie kümmern. Und auch um die anderen. Du stehst Kalecgos am nächsten, also wird es wohl das Beste sein, wenn er es von dir erfährt, und zwar so bald wie möglich.“

„Wie du wünschst“, entgegnete Kiry sanft. Ein letztes Mal blickte sie auf die leblosen Körper der blauen Drachen hinab. Im Tod waren sie in ihrer menschlichen Gestalt gefangen, einer Gestalt, die die meisten von ihnen verabscheuten. Anschließend schlug sie die Augen traurig nieder und schnellte in den Himmel hinauf. Ihre Flügel peitschten die Luft, als sie nach einer Rolle zurück in Richtung des Nexus raste. Nun galten ihre Gedanken nicht länger den Gefallenen, sondern den Mördern. Wer mochte stark genug sein, um einen solchen Angriff erfolgreich durchzuführen? Und aus welchem Grund hatten sie die Drachen überfallen?

Sie konnte die schlimmsten Befürchtungen bezüglich der verschollenen Gruppe bestätigen, aber das war auch schon alles, was sich mit Gewissheit sagen ließ, und Kiry hoffte inständig, dass Kalec in ihrer Abwesenheit etwas Neues herausgefunden hatte.


Kalecgos wusste, dass die Fokussierende Iris mit jeder verstreichenden Sekunde weiter in Richtung Süden getragen wurde. So wurde es schwerer und schwerer, sie zu orten. Doch er hatte einen Vorteil, den seine Brüder nicht besaßen. Obwohl er nicht länger der Aspekt der blauen Drachen war, führte er sie noch immer an, und dieses Band zwischen ihm und seinem Schwarm, welches durch das Echo der Aspekt-Fähigkeiten noch verstärkt wurde, schien seine Verbindung mit der Iris zu vertiefen. Als Teralygos gesagt hatte, dass er das Artefakt kaum noch spüren konnte, hatte er die Augen geschlossen und tief eingeatmet. Nun stellte er es sich in seinem Geist bildlich vor, hatte sich ganz darauf konzentriert, bis er es fühlen konnte, und …

Und da war es. „Die Iris befindet sich jetzt in der Boreanischen Tundra, nicht wahr?“, fragte er Teralygos, die Lider noch immer zusammengekniffen.

„Ja, und jetzt …“ Die Worte endeten in einem kurzen, entsetzten Schrei. „Sie ist fort!“

„Nein, sie ist noch da“, widersprach Kalec. „Ich kann sie noch immer spüren.“

Einige der Drachen seufzten erleichtert. Da sagte eine leise Frauenstimme: „Sie wurden alle ermordet, Kalecgos. Alle fünf.“

Er öffnete die Augen und blickte Kirygosa traurig an, während sie beschrieb, was sie, Banagos und Alagosa entdeckt hatten. „Und du kannst nicht sagen, ob es Menschen, Elfen oder Goblins waren?“, fragte er, als sie fertig war. „Gab es da vielleicht ein Stück Stoff von einem Banner oder eine besondere Pfeilfiederung?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Farben, die wir fanden, machten einen willkürlichen Eindruck. Fußspuren gab es auch keine. Der Schnee war zu stark geschmolzen, und sie waren schlau genug, den weicheren Sand zu meiden und keine Blutspuren auf den Felsen zu hinterlassen. Kalecgos, alles, was wir mit Bestimmtheit sagen können, ist, dass jemand gewusst hat, wo sie zu finden war. Diese Angreifer waren stark genug, um fünf Drachen abzuschlachten, bevor sie sich mit der Fokussierenden Iris davonstahlen. Wer immer sie sind, sie wussten ganz genau, was sie taten.“

Ihre Stimme wurde bei diesem letzten Satz noch ein wenig leiser. Kalec nickte ihr zu. „Vielleicht stimmt das. Aber wir wissen auch, was wir tun müssen.“ Er sprach diese Worte mit einer Überzeugung aus, die er nicht einmal ganz empfand. „Ich kann spüren, in welche Richtung sich die Iris bewegt, und ich werde ihr folgen und sie zurückbringen.“

„Du bist unser Anführer, Kalecgos“, protestierte Kirygosa. „Wir brauchen dich hier!“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das tut ihr lieber nicht“, erklärte er leise. „Ich bin euer Anführer, und genau aus diesem Grund muss ich gehen. Es wird Zeit, dass wir uns den Tatsachen stellen. Der Schwarm löst sich auf. Viele unserer Brüder und Schwestern sind bereits in die weite Welt davongeflogen. Früher einmal wussten wir, welche Rolle wir zu spielen hatten; aber jetzt fehlt uns dieser Antrieb. Und nun ist auch noch unser wertvollstes magisches Relikt, das uns nicht nur als Werkzeug dient, sondern auch als Symbol, gestohlen worden. Fünf Drachen liegen in ihrem Blut, weil sie es bewachten. Es ist meine Aufgabe, euch zu führen und zu schützen, aber ich … ich werde dieser Aufgabe nicht gerecht.“

Es schmerzte, das zuzugeben. „Ich habe versagt, in dieser Sache und vielleicht auch in anderen. Ihr braucht mich hier nicht, und ich kann nicht bei euch bleiben, mich sorgen und auf und ab gehen, während andere ausziehen, um unseren gestohlenen Schatz zurückzuholen. Diese Pflicht fällt mir zu – nur, indem ich mich ihr stelle, kann ich euch wirklich führen und schützen.“

Einige der Drachen wechselten Blicke, aber keiner von ihnen erhob Einspruch. Kalecgos hatte jedes Wort, das er ausgesprochen hatte, ernst gemeint. Doch in einem Punkt hatte er nicht die ganze Wahrheit gesagt; ja, es war seine Pflicht, die Iris zurückzuholen, aber er hatte verschwiegen, dass er auch gehen wollte. Wenn er sich unter die niederen Rassen mischte, fühlte er sich mehr zu Hause als hier im Nexus, wo er den Schwarm angeblich anführte. Er bemerkte, dass Kiry ihn anblickte. Zumindest sie schien seine tieferen Beweggründe zu erkennen – und sie billigte sie.

„Kirygosa, Tochter von Malygos“, sagte er, „stütze dich auf die Weisheit von Teralygos und den anderen und sei meine Stimme, solange ich fort bin!“

„Niemand kann deine Stimme ersetzen, mein Freund“, entgegnete sie sanftmütig, „aber ich werde mein Bestes tun. Falls jemand unsere Fokussierende Iris in dieser großen Welt wiederfinden kann, dann bist du es, denn keiner von uns kennt Azeroth besser als du.“

Mehr gab es nicht zu sagen. Schweigend katapultierte sich Kalecgos in die Luft, dann flog er in den kalten, verschneiten Tag hinaus, immer diesem schwachen, zerrenden Gefühl nach, das ihm sagte: Hier entlang, hier entlang. Kirygosa glaubte also, dass er Azeroth besser kannte als jeder andere blaue Drache. Er konnte nur hoffen, dass sie damit recht hatte.

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